Krieg im Kaukasus: Was steckt hinter der armenisch-aserbaidschanischen Konfrontation?

09.10.2020, Lesezeit 10 Min.
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Der nationale Hass, den die Regierungen Aserbaidschans und Armeniens schüren, ist ein ausreichender Anreiz für einen Krieg. Verschiedene Mächte verbünden sich je nach ihren Interessen auf der einen oder anderen Seite.

Während die Welt weiterhin auf den positiven Covid-Test von Donald Trump schaut, der dem ohnehin ungewissen US-Wahlkampf eine zusätzliche Portion Ungewissheit beifügt, stehen Armenien und Aserbaidschan zehntausende Kilometer von Washington (aber geopolitisch nicht so weit vom „Westen“ entfernt) am Rande eines neuen Krieges um die Kontrolle über Bergkarabach.

Seit dem 27. September, als die jetzige neue Phase des Konflikts ausbrach, steigt die militärische Eskalation. Obwohl das Operationsgebiet noch weitgehend auf das Gebiet der umstrittenen Enklave beschränkt ist, könnten die Bombardements die strategische Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline, auch BTC-Pipeline oder Transkaukasische Pipeline (BTC) betroffen haben, die Rohöl aus Aserbaidschan an die Märkte in Europa leitet. Es gibt heftige Kämpfe, eine Konzentration von Panzern, Kampfhubschraubern und Truppen. Die Zahl der Toten und Verwundeten, darunter auch Zivilist:innen, geht bereits in die Hunderte. Trotz wiederholter Aufrufe zu einem Waffenstillstand und der Bemühungen der vermittelnden Mächte, vor allem Frankreich und Russland (die Vereinigten Staaten blieben bisher auf Distanz), gibt es noch immer von keiner der Kriegsparteien entsprechende politisch-militärische Signale.

Das Wiederaufleben des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan hat sich schon seit Langem angekündigt. Mitte Juli tötete Armenien bei einem Zusammenstoß an der Grenze, mehr als 300 Kilometer von Berg-Karabach entfernt, einen General und mehrere aserbaidschanische Soldaten. Dieses Scharmützel löste in Aserbaidschan eine Welle von reaktionären nationalistischen Mobilisierungen aus, die von der Regierung zugelassen wurden und allmählich ein mehr als günstiges Klima für die Wiederaufnahme des Krieges schufen.

Zwei Tage vor Beginn der Kämpfe kündigte der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew vor der (virtuellen) UN-Generalversammlung den bevorstehenden Angriff an, was jedoch praktisch unbemerkt blieb. In seiner Rede bekräftigte Alijew die Entscheidung seiner Regierung, die Kontrolle über Bergkarabach und die angrenzenden Regionen wiederherzustellen. Die entschiedene Unterstützung der Türkei zugunsten Aserbaidschans tat den Rest. Der Zeitpunkt ist nicht zufällig. Die Regierungen beider Länder befinden sich aufgrund der Coronavirus-Pandemie, der wirtschaftlichen Schwierigkeiten und der Ablehnung, die ihren antidemokratischen Politikkurs hervorruft, in einer kritischen innenpolitischen Situation.

In Aserbaidschan, das zu einem Ölstaat umgewandelt worden war, hatte die Wirtschaftskrise infolge des Ölpreisverfalls die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der seit 2003 an der Macht befindlichen autoritären Regierung von Ilham Alijew genährt, die durch Repression und das Vorgehen eines riesigen staatlichen Sicherheitsapparates eine brutale soziale Kontrolle ausübt.

In Armenien hat Premierminister Nikol Pashinyan, der 2018 als Ergebnis einer Art „samtener Revolution“ an die Macht gehievt wurde, wieder eine pragmatische Wende gegenüber Russland vollzogen und sieht sich mit einer Krise in seiner Regierungskoalition und einem pandemiebedingten Rückgang des BIP um mindestens 6% konfrontiert. Und obwohl es sich bisher um einen Konflikt mit lokalen Motoren handelt, spielt das regionale und globale geopolitische Puzzle eine Rolle, insbesondere die Beziehungen, die in den Kriegsszenarien des Nahen Ostens hergestellt wurden.

Die Südkaukasus-Region, insbesondere Bergkarabach und die angrenzenden Gebiete, war Schauplatz von Kämpfen niedriger Intensität. Aber generell blieben diese „eingefrorenen Konflikte“ wie der zwischen Armenien-Aserbaidschan – in denen es formal keinen Krieg mehr gibt, aber auch kein „Friedensvertrag“ geschlossen wurde – durch die Vermittlung Russlands, das nach wie vor die Hegemonialmacht in der Region ist, in der ehemaligen sowjetischen Sphäre eingedämmt. Armenien ist in die russische Einflusssphäre integriert. Es ist Teil der Eurasischen Wirtschaftsunion und der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (CSTO), dem russischen Pendant der NATO. Daher müsste der Kreml bei einem Angriff auf sein Territorium militärisch eingreifen, was derzeit nicht der Fall ist, da die Kämpfe in Bergkarabach stattfinden, d.h. in der Region zwischen Armenien und Aserbaidschan, die international nicht anerkannt ist.

Darüber hinaus hat Russland in Armenien eine Militärbasis mit etwa 5.000 Soldaten. Gleichzeitig unterhält Wladimir Putin Beziehungen zur aserbaidschanischen Regierung. Er verkauft Waffen an beide. Und vor allem ist er an der Aufrechterhaltung der Handelsbeziehungen und an der Erhaltung des strategischen Korridors interessiert, der den Iran und Südasien mit Russland verbindet. Dies erklärt, warum Moskaus Politik darin besteht, jede Eskalation zu vermeiden und zu versuchen, die Situation wieder in Richtung von Friedensgesprächen zu lenken, so wie es in der Vergangenheit geschehen ist.

Die aktive Intervention der Türkei, ein historischer Verbündeter Aserbaidschans und verantwortlich für den armenischen Völkermord von 1915, hat jedoch die strategische Dimension eines lokalen Konflikts qualitativ verändert und zu einem Konflikt geführt, an dem regionale, große und mittlere Mächte mit globaler Ausstrahlung beteiligt sind. Er wirft die Möglichkeit einer – auch zufälligen – Konfrontation zwischen der Türkei und Russland auf, die bereits in anderen Szenarien wie Libyen und Syrien miteinander konkurrieren. Es betrifft den Iran auf der Seite Armeniens und Russlands und den Staat Israel auf der Seite Aserbaidschans, der ein besonderes Interesse gegen den Iran hat, sowie saftige Waffengeschäfte mit Aserbaidschan tätigt. Die Intervention der Türkei vertieft auch die Spaltungen innerhalb der NATO, deren Mitglied die Türkei ist. Das Paradoxe daran ist, dass die NATO-Mächte mit Russland auf einer Linie sind, wenn sie versuchen, diese Zeitbombe zu entschärfen und zu einem relativen Status quo zurückzukehren, im Gegensatz zu der offen kriegerischen Position des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, der den Konflikt auf die Spitze treibt.

Diese offene Einmischung der Türkei in den Kaukasus ist Teil einer offensiven Außenpolitik Erdogans, die sich wie bei anderen regionalen Akteuren eher mit der Schwächung der Führung der Vereinigten Staaten und den Spaltungen in der Europäischen Union als mit ihren eigenen Stärken erklären lässt. Erdogan hatte das Spiel gespielt, das „türkische Modell“ zu exportieren, um eine Vertiefung des „arabischen Frühlings“ von 2011 zu verhindern. Mit diesem Ziel hatte er die Regierung der Muslimbruderschaft in Ägypten unterstützt. Die Niederlage dieser Linie durch einen noch reaktionäreren Ausweg schwächte ihn gegenüber Saudi-Arabien und verfeindte ihn mit den Vereinigten Staaten, denen er vorwarf, den versuchten Staatsstreich vom Juli 2016 zumindest geduldet zu haben.

Doch Erdogan kompensierte die Fehleinschätzung mit verstärktem Aktivismus, der sich schließlich auszahlte. Die Türkei ist in Syrien und Libyen, wo sie Russland (und Frankreich im Falle Libyens) gegenüber steht, zu einem entscheidenden Faktor für einen möglichen Ausweg geworden. Sie hat wiederholt militärische Angriffe gegen die Kurd:innen in Syrien geführt, selbst als diese die einzigen Verbündeten der USA vor Ort waren. Und vor kurzem zettelte sie einen Territorialstreit mit Griechenland und Zypern an, um die Öl- und Gasrouten im Mittelmeer zu sichern. Dieser „Neo-Ottomanismus“ Erdogans geht einher mit einer brutalen bonapartistischen und repressiven Wende im eigenen Land, insbesondere gegen die kurdische Opposition der Demokratischen Partei Kudistans.

Kurz gesagt, obwohl der reaktionäre nationale Hass, der von den Regierungen Aserbaidschans und Armeniens gefördert wird, mehr als genug Anreiz für einen Krieg ist, verbünden sich verschiedene Mächte je nach ihren eigenen Interessen auf der einen oder anderen Seite.

Der Konflikt in Bergkarabach besteht seit langem. Er hat seinen Ursprung in Stalins Politik der nationalen Unterdrückung, wobei er als Volkskommisar für Nationalitätenfragen in den 1920er Jahren unter anderem die armenischstämmige Mehrheit Bergkarabach innerhalb der Grenzen Aserbaidschans einschloss. Diese Politik Stalins, den kleineren, vom Zarismus historisch unterdrückten Nationalitäten das Recht auf nationale Selbstbestimmung zu verweigern, wurde von Lenin in seinem Testament als ein den Interessen der Arbeiter:innenklasse zuwiderlaufender Chauvinismus angeprangert, da die „nationale Ungerechtigkeit“ gegen die Solidarität unter den Ausgebeuteten konspirierte und den antiimperialistischen Kampf untergrub. Die Geschichte gab Lenin Recht.

Am Vorabend des Zusammenbruchs der Sowjetunion, unter der Regierung Gorbatschow, war die nationale Unabhängigkeit eine treibende Kraft hinter den Mobilisierungen der Massen und eine Gelegenheit für Bürokrat:innen, sich in nationalistische Anführer:innen umzuwandeln. 1988 begannen die Mobilisierungen für die Unabhängigkeit Bergkarabachs und seine Wiedervereinigung mit Armenien sowie die antiarmenischen Pogrome. Nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 stimmte die Region in einem Referendum mit überwältigender Mehrheit für die Unabhängigkeit, was schließlich 1992 den Krieg Aserbaidschans gegen das Recht der Enklave auf nationale Selbstbestimmung auslöste. Dieser brutale Krieg, der 30.000 Tote und eine Million Vertriebene forderte, wurde 1994 durch einen Waffenstillstand ausgesetzt, der hauptsächlich von Russland, den Vereinigten Staaten und Frankreich (sowie Armenien und Aserbaidschan) ausgehandelt wurde, die die so genannte „Minsk-Gruppe“ bildeten. Das Abkommen hielt Bergkarabach innerhalb der Grenzen Aserbaidschans, aber unter einer armenischen Regierung.

Die Vereinten Nationen lehnten das Recht auf nationale Selbstbestimmung ab. Und die von Bergkarabach proklamierte unabhängige Republik von Arzach wurde von keinem Land (auch nicht von Armenien) anerkannt. Darüber hinaus rückte das von Russland unterstützte Armenien im Laufe des Krieges nicht nur über Bergkarabach, sondern auch über einen beträchtlichen Streifen des umliegenden aserbaidschanischen Territoriums vor und vertrieb die lokale Bevölkerung, die nach den Vereinbarungen von Minsk nicht mehr zurückkehren durfte. Aufgrund dieser Dynamik der letzten Jahrzehnte scheint in dem Konflikt zum jetzigen Zeitpunkt der reaktionäre Gebrauch des Nationalismus durch die kapitalistischen Regierungen Armeniens und Aserbaidschans das vorherrschende Moment zu sein, über den ausländische Mächte wie die Türkei für ihre eigenen Zwecke handeln, was die Möglichkeit eines reaktionären Krieges auf regionaler Ebene real werden lässt. Dies bedeutet nicht, dass sich der Charakter des Konflikts im Laufe der Ereignisse nicht noch ändern kann.

Die große Lehre aus diesem endlosen Konflikt ist, dass die imperialistischen Mächte, Russland und die Regierungen Aserbaidschans und Armeniens nicht in der Lage waren, auch nur einen minimalen demokratischen Ausweg aufzuzeigen. Stattdessen haben sie die Unterdrückungsbedingungen vertieft. Deshalb beginnt die einzige Lösung, die einen dauerhaften Frieden bringen kann, mit dem Rückzug der ausländischen Mächte, der Anerkennung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung, der Rückkehr der Vertriebenen und dem Kampf gegen die kapitalistischen Regierungen, die die wirklichen Feinde der Arbeiter:innen und der veramten Massensektoren von Armenien, Aserbaidschan und Bergkarabachs sind, in der Perspektive der Errichtung von Arbeiter:innenregierungen und einer freiwilligen Föderation der sozialistischen Republiken des Kaukasus.

Dieser Artikel erschien zuerst am 8. Oktober 2020 auf Spanisch bei La Izquierda Diario.

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