Kolumbien: Eine Rebellion der Massen stellt sich gegen Präsident Duque

07.05.2021, Lesezeit 8 Min.
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Foto: Andres Matheo / Shutterstock.com

In der südamerikanischen Republik kommt es nach jahrelangem Brodeln zu einer sozialen Explosion: ein echter Massenaufstand findet vor unseren Augen statt - gegen Polizeigewalt, Armut und Unterdrückung. Was steckt dahinter und wohin treibt die Bewegung?

Am vergangenen Mittwoch erlebte Kolumbien bereits den achten Tag der anhaltenden Proteste im ganzen Land. Gewerkschaften, soziale und indigene Organisationen und Studierenden- und Bauernverbände haben sich zusammengeschlossen gegen die konservative Regierung von Präsident Iván Duque und seine geplante Steuerreform. Schnell verwandelten sich die Protestaktionen, Straßenblockaden, Demonstrationen und Streiks in eine echte Massenrebellion, die bereits einen ersten Erfolg verzeichnen konnte. Duque musste die Steuerreform zurücknehmen und den Finanzminister entlassen. Doch die Revolte geht weiter.

Rebellion trotzt Repression

Die Bilder sind beeindruckend: In allen Ecken des 50 Millionen Einwohner:innen großen Landes regt sich der Widerstand. In fast allen Städten und Dörfern finden seitdem täglich Großdemonstrationen und Straßenblockaden statt, die sich der Polizei und dem Militär entgegenstellen müssen. Von der Karibikküste bis in die Anden verteidigen sich Demonstrierende gegen die Repression durch Militär und Polizei. Vorreiter im Widerstand ist Cali, die Hauptstadt der Provinz Valle del Cauca.

Die Stadt im Südwesten des Landes, in der es eine große afrokolumbianische Bevölkerung gibt, ist geprägt von den tiefen Wurzeln der Sklavenaufstände, die im 19. Jahrhundert zur Unabhängigkeit des Landes führten, sowie dem Aufstand der Studierendenbewegungen in den 1970er Jahren, aus denen später in den 1980er und 1990er Jahren soziale und studentische Bewegungen hervorgingen und die wichtige Bezugspunkte in den Kämpfen jener Jahrzehnte waren.

Besonders verhasst ist die Riot-Polizei ESMAD, die stets brutal eingreift. Bereits im vergangenen Jahr kam es immer wieder zu Protesten gegen das brutale Vorgehen des ESMAD, nachdem Fälle von Folter und Morden in den Kommissarien der ESMAD bekannt wurden. Die Zahlen der letzten Wochen sind erschreckend: Über 35 Demonstrierende sind gefallen, Tausende verletzt, Hunderte festgenommen. Unabhängige Medien berichten sogar von Folter, mehr als 60 Personen sind verschwunden und es gibt Berichte von Vergewaltigungen und sexualisierter Gewalt von Demonstrant:innen durch die Polizei. Wie auch in den Protesten in Chile zielt die Polizei auf den Kopf, sodass mindestens zwölf Personen ihr Augenlicht verloren haben.

Und trotz der brutalen Gewalt seitens des Staates schrecken die Massen nicht zurück. Nach mehreren Tagen landesweiter Streiks und einem heißen Wochenende zum internationalen Kampftag der Arbeiter:innenklasse am 1. Mai musste das Regime am Folgetag einen Rückzieher machen: Die Steuerreform ist für ein Erstes vom Tisch.

Zudem konnte die Bewegung einen zweiten Erfolg verbuchen – am 3. Mai erfolgte der Rücktritt des verhassten Finanzministers Alberto Carrasquilla, der als Hauptverantwortlicher für die neoliberalen Kürzungen gilt.

Folgen der Krise: Armut, Ungleichheit und weitere Angriffe

Der Grund für die Demonstrationen war vor allem eine Steuerreform im Dienste der Reichen. Diese hatte das Kabinett Duque bereits im November vorgestellt, was bereits damals zu Protesten und Unmut geführt hatte. Als am 15. April der Entwurf in den Kongress kam, wurde das Fass zum Überlaufen gebracht.

Die Mehrwertsteuer sollte von sechs auf 19 Prozent erhoben werden. Diese indirekte Konsumsteuer auf viele Güter des täglichen Bedarfs trifft Menschen mit geringerem Einkommen unverhältnismäßig stark – so wäre der Preis auf Eier, Zucker und andere Grundnahrungsmittel stark angestiegen.

Der Hintergrund für die soziale Spannung, die seit letzter Woche auf der Straße ausbricht, ist die extrem ungleiche Vermögensverteilung und die hohe Armut im Land, die sich durch die Pandemiemaßnahmen nur noch gesteigert hat. Seit letztem Jahr sind 3,6 Millionen Menschen in extreme Armut gefallen – ein erschreckender Anstieg von 35,7 auf 42,5 Prozent. Etwa 70 Prozent aller Arbeiter:innen gehören dem informellen Sektor an, weshalb viele in der Krise ihre Arbeit verloren und ohne jegliche Einnahmen ums Überleben kämpfen mussten. Aber auch in vielen Betrieben kam es zu Entlassungen und Stellenstreichungen, die Tausende Arbeiter:innen auf die Straße setzten.

Im Hinterhof des US-Imperiums

Diese Armut steht jedoch nicht alleine, sondern im Kontrast zum krassen Reichtum, der in Kolumbien existiert. Nur 2.300 Großgrundbesitzer:innen besitzen mehr als die Hälfte der bestellbaren Ländereien, ein Erbe des Kolonialismus und des aktuellen Imperialismus. Die Rohstoffexporte, von denen das Land lebt, kommen privaten Konzernen zu gute – die meisten aus imperialistischen Ländern, allen voran die USA, das gute Beziehungen zur Regierung hält und seine Truppen ausbildet.

Vor diesem Hintergrund wirken die besorgten Worte des US-Präsidenten Joe Biden über die aktuelle Situation in Kolumbien besonders scheinheilig. Er war selbst beteiligt an der Entwicklung des “Plan Colombia”, in dessen Zusammenhang die Riot-Polizei ESMAD gegründet wurde, die heute mordet, foltert und vergewaltigt.

In der Pandemie hat sich das Haushaltsdefizit des Landes auf acht Prozent des BIP verdreifacht – die Staatsschulden sind bei über 60 Prozent des BIP. Umso wütender machte es wohl, dass die Regierung ankündigte, 24 Kampfflugzeuge im Wert von 4,5 Milliarden US-Dollar erwerben zu wollen. Kolumbien zählt als das Land mit dem höchsten Militäretat in der Region.

Besonders im Zuge des vom US-Imperialismus unterstützten “Kampf gegen die Drogen” wurde die Militarisierung des Landes vorangetrieben, unter der besonders Indigene, Bauern:Bäuerinnen und linke Organisationen zu leiden haben. Ihren blutigen Höhepunkt fand diese Situation unter Ex-Präsident Álvaro Uribe, der paramilitärische Einheiten unterstützte und so mit staatlichem Terror und rechten Paramilitärs gegen Linke, Arbeiter:innen und Bauern:Bäuerinnen vorging. Duque ist der politische Ziehsohn Uribes.

Uribes Nachfolger Juan Manuel Santos schloss im Jahr 2016 ein Friedensabkommen mit der FARC-Guerilla, die eine lange Tradition des Kampfes gegen den kolumbianischen Staat besitzt. Mit dem Abkommen konnte Santos die FARC und andere Guerillas für kleinere Zugeständnisse zur Einstellung der Kampfhandlungen bewegen und damit einen ständigen Konfliktherd zur Ruhe bringen. Doch die Regierung und ihre Sicherheitskräfte sowie die paramilitärischen Einheiten beendeten die Gewalt nicht: alleine zwischen 2016 und 2020 wurden 971 soziale Aktivist:innen – Umweltaktivist:innen, Gewerkschafter:innen, Nachbarschaftsvertreter:innen, Indigene und Vertreter:innen der verschiedenen Bewegungen – ermordet.

Duque’s Programm: Mehr Angriffe

Die Lösung der Regierung ist bisher, die Armen für die Krise zahlen zu lassen. Doch selbst nach dem Zurückschlagen der Reform hören die Proteste nicht auf. Eine Bewegung wurde in Gang gesetzt, die mit dem neoliberalen Modell und der Militarisierung die Grundsäulen des kolumbianischen Staates infrage stellt. Weitere Forderungen werden erhoben, wie die Rücknahme des gesamten Kürzungspaketes, das neben der Steuerreform auch eine Renten-, Arbeits- und Gesundheitsreform vorsieht.

Die Gesundheitsreform wird von Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften stark kritisiert. Denn sie gäbe der Regierung ein legales Schlupfloch, um mit dem Vorwand der Pandemiebekämpfung ein Modell der Privatisierung zu vertiefen und die öffentliche Gesundheit weiter zu untergraben. Außerdem soll das Recht auf kostenlose gesundheitliche Behandlung ausgehöhlt werden, indem ein Fonds für gewisse Krankheiten angelegt wird, von dem Expert:innen kritisieren, dass chronische Krankheiten oder andere “kostspielige” Probleme ausgenommen werden können.

Kein Wunder also, dass die Proteste andauern. Die Regierung Duque herrscht im Andenland auf einem Vulkan sozialer Widersprüche. Zu tief bohrte sie und versuchte, die Massen weiter in die Misere zu stürzen. Die erste Eruption droht nach über einer Woche landesweiten Streiks weiterzugehen.

Eine Kampfperspektive

Die Arbeiter:innen, Bäuer:innen, Indigenen, Frauen, LGBTQIA+s und Student:innen Kolumbiens stellen zwei fundamentale Fragen auf: Können sie durch die Ausweitung und Koordinierung der Kämpfe in Aktionskomitees an Arbeitsplätzen, in Nachbarschaften, Schulen und Universitäten den Kampf zu einem richtigen Generalstreik machen, der die Grundfesten des neoliberalen Staates angreift? Dafür müssten sich Komitees oder Versammlungen bilden, mit denen die Massen selbst über die Kampfmaßnahmen entscheiden und den Kampf so ausweiten, dass das gesamte Land lahmgelegt würde.

Angesichts der anhaltenden massiven Mobilisierungen ging Duque in den letzten Tagen dazu über, die harte Repression und die Verurteilung der “gewalttätigen” Demonstrierenden durch die bürgerliche Presse mit einem Dialogangebot zu verbinden. Dies wurde auch von Teilen der Führung der Bewegung und reformistischen Parteien aufgegriffen. Den Massen ist jedoch klar, dass es keinen Dialog mit der mörderischen Duque-Regierung geben kann und das die weitreichenden Forderungen nur mit der Weiterführung und Ausweitung der Proteste durch einen echten Generalstreik durchgesetzt werden kann.

Und: Kann das Beispiel der kolumbianischen Massen zu einem Leuchtfeuer für Ausgebeuteten und Unterdrückten Lateinamerikas werden, die zu Hunderttausenden der Pandemie und dem Profit geopfert werden? Die Proteste in Chile und Perú zeigen, dass dies möglich ist – wir werden sehen, ob sich die Eruption über die Länge der Anden ausbreiten kann.

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