Klassenjustiz in Patagonien
// Demonstration für die Freilassung von Ölarbeitern, die zu lebenslanger Haft verurteilt wurden //
In Argentinien haben am Mittwoch über 4.000 Menschen für neun Ölarbeiter aus der Stadt Las Heras in der südlichen Provinz Santa Cruz demonstriert. Diese waren am 12. Dezember vergangenen Jahres wegen Mordes verurteilt worden. Vier von ihnen hatten lebenslange Haftstrafen bekommen, die anderen jeweils fünf Jahre. Durch einen Revisionsantrag sollen diese Urteile nun gekippt werden.
Die Ölarbeiter hatten im Jahr 2006 zusammen mit 2.000 KollegInnen für ihren Tarifvertrag gekämpft. Sie forderten die Festeinstellung aller LeiharbeiterInnen sowie ein Ende der „Gewinnsteuer“, die wegen der hohen Inflation in Argentinien von den Löhnen abgezogen wurde. Nach der Festnahme von Mario Navarro, einem Gewerkschafter, fand eine Demonstration vor dem Rathaus von Las Heras statt. Die Polizei griff diese Demonstration brutal an, wurde aber von den ArbeiterInnen zurückgeschlagen. Dabei verlor ein Beamter sein Leben.
Kurz nach dem Vorfall wurden die neun Ölarbeiter festgenommen und saßen insgesamt drei Jahre in Untersuchungshaft, obwohl die Todesumstände bis heute ungeklärt sind. Zweimal musste das Verfahren wegen Mangels an Beweisen eingestellt werden, erst im dritten Anlauf wurden sie verurteilt.
„Es gibt keine konkreten Beweise“, sagte Verteidigerin Claudia Ferrero. „Alle ‚Beweise‘ wurden von der Polizei durch Druck und Folter erzwungen.“ Der Staatsanwalt hat auf diesen Vorwurf geantwortet, dass „eine Plastiktüte über dem Kopf und ein paar Ohrfeigen“ keine Folter seien. Doch die Anklage stützte sich nur auf Geständnisse, die auf diese Weise zustande gekommen waren. Mehrere Wochen lang hatten die neun Ölarbeiter keinen Kontakt zur Außenwelt. Nicht einmal ihre Familien wussten, was mit ihnen passiert war.
Jetzt sind sie auf freiem Fuß, bis das Urteil rechtskräftig wird. „Wir sind zu lebenslanger Haft verurteilt“, sagte Ramón Cortes, einer der Arbeiter, „doch wir werden vor keinem Gericht und vor keiner Regierung niederknien.“ Auf der Solidaritätsdemonstration am Mittwoch in Buenos Aires sprachen die Betroffenen selbst.
Gewerkschaften und linke Parteien hatten ein „Komitee für die Freilassung“ gebildet, das die Demonstrationen in verschiedenen Städten des Landes organisierte. Der argentinische Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel redete auf der Versammlung in der argentinischen Hauptstadt. In einem offenen Brief hatte er sich bereits Anfang der Woche an die Ölarbeiter gewandt. „Die gesamte Gesellschaft sollte diese gerechte Forderung“ nach Freispruch unterstützen, heißt es darin. Der Betriebsrat der Druckerei RR Donnelly blockierte bereits ab acht Uhr morgens die zentralen Straßen Corrientes und Callo im Zentrum von Buenos Aires. Die Abgeordneten der Front der Linken und ArbeiterInnen haben den Fall in den Kongress eingebracht.
Der Schriftsteller Osvaldo Bayer, der die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung Patagoniens aufgearbeitet hat, bezeichnete die Verurteilten als „unsere Volkshelden“. Das Urteil sei „vergleichbar mit vielen Verbrechen der Militärdiktaturen vergangener Jahre“.
Politisch brisant ist der Fall, weil die argentinische Präsidentin Cristina Kirchner, die ihre politische Karriere in der Provinz Santa Cruz begann, sich als Verteidigerin der Menschenrechte darstellt. Ihre Regierung hat in den letzten Jahren Offiziere der Militärdiktatur vor Gericht gestellt. Doch gleichzeitig sitzen mehr als 5.000 ArbeiterInnen wegen der Teilnahme an sozialen Protesten in argentinischen Gefängnissen. Deswegen schafft dieser Fall einen so großen Aufruhr.
1927 wurden die aus Italien in die USA eingewanderten Arbeiter Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet. Die anarchistischen Aktivisten wurden wegen eines Raufüberfalls im Jahr 1920 aufgrund zweifelhafter Beweismitteln zu Tode verurteilt. Eine weltweite Solidaritätskampagne konnte diesen politischen Mord der Klassenjustiz nicht aufhalten.
50 Jahre später wurden Sacco und Vanzetti nachträglich vom Gouverneur des US-Bundesstaates Massachusetts begnadigt. „Ein bisschen spät“, wie Bayer schreibt. „Die toten waren schon tot. Ein schrecklicher Fehler.“ Deswegen ruft er alle RichterInnen und alle Abgeordneten des Landes dazu auf, sich für die Freilassung der Arbeiter einzusetzen. „Sonst werden zukünftige Generationen sich für uns schämen.“
In Santiago de Chile, Mexiko-Stadt, Sao Paulo, Madrid, Barcelona und Paris fanden kleinere Protestkundgebungen vor argentinischen Botschaften und Konsulaten statt. Auch in Berlin übergab ein Dutzend Demonstranten eine Unterschriftenliste mit tausenden UnterstützerInnen. Dabei waren auch Unterschriften aus Deutschland, unter anderen von der Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke, vom Professor Klaus Roth und von kämpferischen ArbeiterInnen wie Murat Günes von der Fabrik Neupack, Jan Richter von der Modekette H&M und Erdogan Kaya von den Berliner Verkehrsbetrieben.
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