„Keine Krümel, sondern den ganzen Kuchen!“

29.10.2018, Lesezeit 6 Min.
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Bildungsstreik in Kolumbien hält an. Zentrale Forderung von Studierenden ist Erhöhung des Bildungsetats. Ein Gespräch mit Sergio C.

Sergio C. ist Mitglied der studentischen Vereinigung UNES (Unidad Estudiantil), der Sozialistischen Arbeiterpartei Kolumbiens PST und Mitwirkender vom Blog Socialist 21 (https://blogsocialist21.wordpress.com/).

500.000 Menschen sind in ganz Kolumbien am 10. Oktober auf die Straße gegangen. Warum?

Weil es kein Geld gibt, um die Universitäten am Laufen zu halten. Dass es schon zwei Monate nach der Regierungsbildung von Iván Duque, einem Anhänger des paramilitärischen und menschenrechtsverletzenden Uribe, zu so großem Protest kam, finde ich sehr beeindruckend.

Wieso?

Es gab seit Jahren keine so große Demonstration mehr, die zudem auch die Unterstützung breiter Teile der Bevölkerung zählen durfte. Wir leiden hier gerade unter der dritten uribistischen Regierung in Folge, obwohl der Mitte-Links-Kandidat Gustavo Petro bei den letzten Wahlen acht Millionen Stimmen erhielt. Seine Wähler*innen wissen, dass die Dinge nicht gut laufen.

Was fordern sie?

Die zentrale Forderung ist die Aufstockung des Bildungsetats. Denn für 2019 werden dringend zwischen 900 Millionen und 1,3 Milliarden Euro benötigt. Durch Privatisierung, Aufrüstung des Militärs und Auslandschulden, deren Abzahlungen Trumps Imperialismus stützen, beträgt die staatliche Verschuldung im Bildungssektor mehr als 5 Milliarden Euro.

Wie wirkt sich das Defizit konkret aus?

Die Einrichtungen fallen auseinander. Nirgends sind die Lehr- und Lernbedingungen angemessen, da es für die Gehälter und Renten der Lehrenden und Arbeiter*innen kein Geld gibt. Deren gewerkschaftlicher Organisierung wird zudem aktiv erschwert. Es kann weder für Essen, noch für Wohnraum oder z.B. psychosoziale Betreuung gesorgt werden. Nur weniger als 30% haben überhaupt Zugang zum Studium und das sind meist wohlhabende junge Menschen – der bürgerliche Mittelstand. Auf dem Campus läuft nichts basisdemokratisch ab: man kann keine Repräsentant*innen wählen und nichts mitentscheiden.

Welche Arbeiter*innen meinst du?

Das Verwaltungspersonal, also z.B.Sekretär*innen, aber auch Reinigungskräfte und Bibliothekar*innen. Sie werden am allermeisten ausgebeutet. Obwohl es in punto Arbeitsbedingungen auch unter den Lehrenden große Unterschiede gibt: Die meisten werden als Aushilfsprofessor*innen oder Dozierende angestellt, wodurch sie weder sichere Arbeitsverträge haben noch gut verdienen. Die Privatisierungen drängt also nicht nur arme Familien in noch größere Armut, sondern auch Lehrende in die Prekarität.

Inwiefern sind die armen Familien denn von den Privatisierungen betroffen?

An den öffentlichen Hochschulen gibt es kaum Plätze. Wenn Kinder von Arbeiter*innen-Familien davon keinen bekommen, können sie entweder gar nicht oder nur an einer privaten Universität studieren. Dafür müssen einen hoch verzinsten Kredit aufnehmen, den sie und ihre Familien jahrzehntelang abbezahlen müssen.

Was tun kolumbianische Studierende gegen diese Missstände?

Die UNEES (Unión Nacional de Estudiantes de Educación Superior, Nationale Vereinigung der Hochschulstudent*innen) rief nach den Massenprotesten zur Teilnahme am Bildungsstreik auf. Dieser wurde vom 11. bis 21. Oktober ausgerufen. Wir haben dann entschieden, bis zur Erfüllung unserer 10 Forderungen weiter zu streiken.

Was genau bedeutet das?

Dass jegliche Aktivitäten in der Universität eingestellt werden. Es wird also auch nicht gelehrt. Stattdessen wird gemeinsam gekocht, gegessen, Transpis gemalt und demonstriert. Die einzelnen Studiengänge, Fakultäten und Universitäten versammeln sich und diskutieren. An öffentlichen Orten der Stadt werden Bürger*innen Seminare angeboten. An mehreren Universitäten übernachten Student*innen und manchmal auch Arbeiter*innen in der Universität, um zu verhindern, dass der Betrieb wieder aufgenommen wird. Zuletzt gab es öffentliche Nacktheit, Küsse und Blumenlieferung an die Polizei, um die Aufmerksamkeit der Medien zu erregen.

Welche Unterstützung erfahrt ihr vom Rest der Gesellschaft?

Um ehrlich zu sein, wie bei jedem gerechten Kampf, mangelt es an Händen und Sichtbarkeit. Obwohl nach und nach, wie im Universitätsstreik von 2011, der etwa sechs Monate andauerte, Eltern, Passant*innen, Straßenhändler*innen, Indígenas, Bäuer*innen- und Agrarorganisationen, die Gewerkschaften, ein Großteil der Schüler*innen beginnen, unsere Forderungen zu unterstützen und anzuerkennen.

Am 23. Oktober haben auch 350.000 Lehrer*innen für 24 Stunden ihre Arbeit niedergelegt. 8 Millionen Schüler*innen hatten daher keine Schule. In Bogotá waren 20.000 Lehrkräfte auf der Straße.
Der Beschluss des größten Verbands der Sekundarschullehrer*innen, sich unserem Streik für einen Tag anzuschließen ist wertvoll, reicht aber nicht aus. Als wir uns am 17. Oktober wieder die Straßen Bogotás nahmen, waren wir nur noch 17.000 statt 40.000 wie in der Vorwoche. Die Kräfte schwinden also.

Wie hat die rechte Regierung von Duque auf die Proteste reagiert?

Diese antidemokratische und zynische Regierung, die im Dienste des Privatsektors und der multinationalen Konzerne steht und Verbündete der neuen globalen Rechten ist, wollte die berechtigte Forderung von Hunderttausenden nicht hören, hat nur provokative Erklärungen abgegeben und noch nicht einmal über unser Zehn-Punkte-Papier verhandeln wollen.

Ein Teil der Bewegung wurde aber zum Dialog eingeladen. Warum wurde die Einladung abgelehnt?

Die Arbeitgeber*innenregierung spielt „teile und herrsche“. Sie lud nur die ACREES (Asociación Colombiana de Representantes Estudiantiles, kolumbianischer Verband der Studierendenrepräsentant*innen) ein. Diese lehnte solidarisch und geschlossen das Regierungsmanöver des Bildungsministeriums ab.

Was sind die nächsten Schritte?

Durch die Fortsetzung des Streiks fühlt sich die Regierung hoffentlich bald gezwungen, sich mit den verschiedenen studentischen Gremien sowie den Lehrer*innengewerkschaften an einen Tisch zu setzen.

Der Präsident hat doch versprochen, das Budget zu erhöhen. Warum wart ihr damit nicht zufrieden?

Weil die Summe die Betriebskosten der Hochschulen nicht decken wird. Einige der käuflichen Rektor*innen, reformistischen Politiker*innen und Bürokrat*innen der Lehrer*innengewerkschaft behaupten gegenteiliges. Sie sagen: „Besser etwas als nichts“, oder auch: „die Menge ist genug, um zu genesen“. Das ist aber nicht wahr. Denn wir wollen keine Krümel. Wir wollen den ganzen Kuchen! Wir lassen uns auch nicht entmutigen. Denn wir kämpfen zwar für uns selbst, aber auch für zukünftige Generationen. Für die Klasse, die arbeitet und will, dass ihre Kinder die Möglichkeit haben, Bildung zu erhalten. Unsere Botschaft ist: zeigt Solidarität mit uns, aus allen Teilen der Welt und des Landes.

Dieser Artikel ist zuerst in der jungen Welt erschienen. https://www.jungewelt.de/m/artikel/342480.kolumbien-keine-kr%C3%BCmel-sondern-den-ganzen-kuchen.html

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