Keine Einbürgerung ohne Staatsräson
Deutsche Behörden sollen die IHRA-Definition für Antisemitismus und eine schwammige Auslegung der Staatsräson zur Prüfung von Einbürgerungen heranziehen. Auch Ausbürgerungen könnten möglich werden.
Ein Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist Voraussetzung der Einbürgerung in den deutschen Staat. Das im Juni in Kraft getretene „Gesetz zur Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts“ hat dieses um ein Bekenntnis gegen Antisemitismus und eine Zustimmung zur historischen Verantwortung Deutschlands hinsichtlich der Nazi-Vergangenheit des Landes ergänzt. Demnach schließe ein „unrichtiges Bekenntnis“ jede Einbürgerung strikt aus, so das Bundesinnenministerium (BMI) in einer damaligen Pressemitteilung. Neu dabei ist etwa ein erweiterter Einbürgerungstest mit Fragen zum Existenzrecht Israels. Geleakte vorläufige Anwendungshinweise des BMI zeigen jetzt, wie das neue Gesetz von den Behörden umgesetzt werden soll.
Bei Anwendungshinweisen handelt es sich um nicht bindende Umsetzungsvorschläge der gesetzlichen Vorgaben. Allerdings zeigt die Praxis, dass sich Behörden zwecks Einheitlichkeit an den Hinweisen orientieren. Das Dokument selbst schlägt eine Orientierung an der höchst umstrittenen IHRA-Arbeitsdefinition für Antisemitismus vor. „Nach der IHRA-Definition können alle Äußerungen zu Israel, die nicht sehr positiv ausfallen, unter Antisemitismusverdacht geraten“, kommentiert Professor für Antisemitismusforschung Uffa Jensen gegenüber dem Neuen Deutschland (ND). Doch obwohl sich der Vorwurf des Antisemitismus mit diesem Instrument bereits nach Gießkannenprinzip verteilen lässt, spezifiziert das BMI noch weiterführende Hinweise. Denn: „Handlungen mit Bezug zum Staat Israel, die nicht eindeutig als antisemitisch motiviert (…) eingeordnet werden können, können jedoch dem Bekenntnis zur besonderen historischen Verantwortung Deutschlands (…) entgegenstehen.“
Das beinhaltet eine „Anerkennung des besonderen und engen Verhältnisses der Bundesrepublik Deutschland zum Staat Israel“ und „dass die Sicherheit und das Existenzrecht Israels zur deutschen Staatsräson gehören“. Die Zustimmung zu diesen Leitsätzen dürfe zudem „kein Lippenbekenntnis“ sein. Die Einschätzung dessen obliegt den Einbürgerungsbehörden. Dabei werden Posts, Kommentare und Likes in den sozialen Medien explizit als Gründe einer Hinterfragung angeführt. Beispiele für Inhalte, die einer Einbürgerung demnach im Wege stehe könnten, sind Parolen wie „From the River to the Sea“, mit und ohne den Zusatz „Palestine will be free“, oder „Kindermörder Israel“, oder nur die Darstellung der geographischen Region des historischen Palästinas in palästinensischen Nationalfarben. So könnte palästinasolidarischen Menschen die Staatsbürger:innenschaft verwehrt werden, selbst wenn Vorwürfe des Antisemitismus rechtlich nicht haltbar sind.
Durch Täuschung „erschlichene“ Einbürgerungen können bis zu 10 Jahre nachträglich entzogen werden. Bereits letztes Jahr sinnierte die SPD über eine Anwendung dieser Regelung im Falle von Antisemitismusvorwürfen. Nun liegt die nötige rechtliche Grundlage zur weitestgehenden Umsetzung dieser Wunschvorstellung vor. So könnte nicht-antisemitischen, aber pro-palästinensischen Menschen nicht nur der deutsche Pass verweigert werden, sondern auch eine Ausbürgerung nach mehreren Jahren möglich sein. Den Betroffenen droht damit Staatenlosigkeit und damit eine Verweigerung des Menschenrechts auf Staatsangehörigkeit (Art. 15, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte) nach deutscher Staatsräson. Je nach Gesinnung werden frisch Eingebürgerte so zu Staatsbürger:innen unter Vorbehalt.
Iris Hefets, Vorstandsmitglied des Verbands „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“, weist darauf hin, dass von dem Einbürgerungsgesetz in erster Linie zwar Palästinenser:innen und Muslim:innen, aber auch linke jüdische Menschen betroffen sein könnten. Die Unhaltbarkeit der vom BMI herangezogenen Legitimation, es handele sich um einen Vorstoß zur Bekämpfung von Antisemitismus, wird vor diesem Hintergrund besonders deutlich. Schließlich ziehen immer mehr regierungskritische Israelis die Emigration nach Europa in Erwägung, wie die israelische Zeitung Haʾaretz 2023 berichtete. Dementsprechend fragte Jüdische Stimme auf X: „Wann wohl die ersten Israelis zurück in den ‘Schutzraum’ abgeschoben werden?“Hefets führt weiter aus: „Das ist letztendlich das klassische antisemitische Bild der jüdisch-bolschewistischen Staatsfeinde, mit dem der Trend der Rechtsentwicklung und autoritäre Tendenzen in Deutschland vertieft werden“.
Nach mehr als einem Jahr Genozid in Gaza verschärft die deutsche Bundesregierung damit abermals ihren Kurs gegen pro-palästinensische Migrant:innen. Vor dem Hintergrund ihrer schwindenden Deutungshoheit in Hinblick auf Israels Krieg setzt die deutsche Regierung auf mehr Repression und rassistische Einbürgerungskontrolle. Mit Gesetz und Anwendungshinweisen verkleinert sie den politischen und ideellen Rahmen, in dem man „deutsch“ sein darf und vertieft so die Disziplinierung und Entrechtung von Migrant:innen. Klar muss beim autoritären Umbau der Bundesrepublik auch sein: Was heute widerständige Migrant:innen trifft, kann morgen die komplette Linke erwischen.