Kein einsamer Rächer kann uns befreien: Eine marxistische Einschätzung der CEO-Erschießung
Die Ermordung des UnitedHealthcare CEOs Brian Thompson in Manhattan hat ein Beben in den sozialen Medien hervorgebracht, und ein Großteil der USA scheint sich zu freuen. Aber individuelle Racheaktionen werden nicht ausreichen, um das Gesundheitssystem zu retten.
Am frühen Mittwochmorgen war Brian Thompson auf dem Weg in ein Hotel in Manhattan, als eine Gestalt in Kapuzenpulli hinter einem Auto hervorkam und ihm in den Rücken schoss.
Seitdem gibt es in den sozialen Medien gefühlt kein anderes Thema mehr. Das ganze Land sprach über die Ermordung des Chefs von UnitedHealthcare (UHC), der größten Krankenversicherungs der Vereinigten Staaten mit einem Marktwert von fast einer halben Billion Dollar.
So ziemlich jede:r feierte, die Witze schienen endlos. Würde man ihm den Versicherungsschutz verweigern, wenn er von einem Krankenwagen außerhalb des Versicherungsnetzwerks abgeholt würde? Oder würde er vom Krankenhaus abgewiesen werden, weil die Schusswunde eine Vorerkrankung war? Deckt seine Versicherung auch Attentate ab? Eine nichtssagendes Statement von UHC zu Thompsons Tod hat inzwischen über 100.000 Lachreaktionen auf Facebook hervorgerufen!
Zu lesen gab es auch lange, bewegende Erfahrungsberichte von UHC-Kund:innen, die berichteten, dass ihnen die medizinische Versorgung verweigert wurde, dass ihnen enorme Rechnungen geschickt wurden oder dass sie gezwungen waren, Monate am Telefon zu verbringen. Ehemalige Callcenter-Mitarbeitende berichteten von den immensen Gewissenbissen, wenn sie gezwungen waren, die Ansprüche der Kund:innen abzulehnen.
Der Attentäter floh mit einem City Bike vom Tatort und verschwand im Central Park. Allerdings wird allerseits spekuliert, dass der Schütze von einem weit verbreiteten Hass auf die Healthcare-Parasit:innen motiviert war. Nachrichtenberichten zufolge stand auf den Patronenhülsen „deny“, „defend“ und „depose“ – offenbar eine Anspielung auf ein Buch mit dem Titel Delay, Deny, Defend, in dem es darum geht, mit welchen Methoden Versicherungsunternehmen die Zahlung von Ansprüchen vermeiden. Demnach könnte das tatsächliche Motiv für die Tötung der populären Vorstellung recht nahe kommen.
Soziale Morde
Im gewinnorientierten Gesundheitssystem der Vereinigten Staaten profitieren Unternehmen, die theoretisch für die Finanzierung des Gesundheitswesens zuständig sind, indem sie Menschen die Gesundheitsversorgung verweigern. Darin war Thompson ein Meister.
Einer weit verbreiteten Tabelle zufolge lehnt die UHC einen höheren Prozentsatz von Anträgen ab als jede andere Versicherungsgesellschaft. Thompson hatte die Gewinne in die Höhe getrieben und kassierte im vergangenen Jahr 10,2 Millionen Dollar. Die New York Times schreibt, dass „Vorstandsvorsitzende von Unternehmen des Gesundheitswesens aufgrund der Natur ihrer Arbeit häufig bedroht werden“. Aber in Wirklichkeit ist daran nichts „natürlich“. In einer rational organisierten Gesellschaft wären die Verantwortlichen des Gesundheitswesens keine Ziele von Hass. Doch der Kapitalismus legt den gesamten Reichtum der Gesellschaft in die Hände von Menschen, die sich wie mörderische Psychopath:innen verhalten.
Der Schütze von Manhattan ist nach jeder Definition ein Mörder – auch wenn er vielleicht edle Gründe hatte, ein Leben zu beenden. Doch das Opfer ist natürlich auch ein Mörder – einer, der auf einer um mehrere Größenordnungen höheren Ebene getötet hat. Die Verweigerung der Gesundheitsfürsorge ist nicht weniger tödlich als das Drücken des Abzugs, aber in einem viel größeren Ausmaß.
Friedrich Engels sprach darüber in seiner Studie über die Arbeiter:innenklasse in England in der Mitte des 19. Jahrhunderts:
Wenn ein einzelner einem andern körperlichen Schaden tut, und zwar solchen Schaden, der dem Beschädigten den Tod zuzieht, so nennen wir das Totschlag; wenn der Täter im voraus wußte, daß der Schaden tödlich sein würde, so nennen wir seine Tat einen Mord. Wenn aber die Gesellschaft Hunderte von Proletariern in eine solche Lage versetzt, daß sie notwendig einem vorzeitigen, unnatürlichen Tode verfallen, einem Tode, der ebenso gewaltsam ist wie der Tod durchs Schwert oder die Kugel; wenn sie Tausenden die nötigen Lebensbedingungen entzieht, sie in Verhältnisse stellt, in welchen sie nicht lebenkönnen;wenn sie sie durch den starken Arm des Gesetzes zwingt, in diesen Verhältnissen zu bleiben, bis der Tod eintritt, der die Folge dieser Verhältnisse sein muß; wenn sie weiß, nur zu gut weiß, daß diese Tausende solchen Bedingungen zum Opfer fallen müssen, und doch diese Bedingungen bestehen läßt – so ist das ebensogut Mord wie die Tat des einzelnen, nur versteckter, heimtückischer Mord, ein Mord, gegen den sich niemand wehren kann, der kein Mord zu sein scheint, weil man den Mörder nicht sieht, weil alle und doch wieder niemand dieser Mörder ist, weil der Tod des Schlachtopfers wie ein natürlicher aussieht und weil er weniger eine Begehungssünde als eine Unterlassungssünde ist. Aber er bleibt Mord.
In Engels‘ Worten ist also jeder Vorstandsvorsitzende einer Versicherungsgesellschaft des „sozialen Mordes“ schuldig.
Größer Denken!
Wenn Thompson als Vergeltung für seine zahllosen, systematischen Morde getötet wurde, dann können wir als Marxist:innen keinen ethischen Einwand erheben. Wir können unsere anfängliche Bewunderung für eine Person zum Ausdruck bringen, die offenbar unter enormem persönlichen Risiko versucht hat, die Würde der arbeitenden Menschen zu verteidigen – obwohl wir natürlich auf weitere Informationen warten. Den CEOs des Gesundheitswesens Angst einzujagen, könnte buchstäblich Leben retten.
Und doch war Thompson auf dem Weg zu einem Investor:innentreffen. Es ist bemerkenswert, dass die Teilnehmenden nach einer kurzen Ankündigung dessen, was gerade vor der Tür passiert war, mit ihrer Tagesordnung fortfuhren: wie man die Gewinne weiter steigern kann, indem man den Menschen, die sich in ihrer Obhut befinden, die Gesundheitsversorgung verweigert. Das symbolisiert die „harte Arbeit“, die die Geschäftsführenden leisten – niemand merkt es, wenn sie einfach verschwinden.
Darüber hinaus zeigt es aber auch, dass solche individuellen Racheakte nicht ausreichen werden, um die schreiende Ungerechtigkeit dieses Systems zu beenden. Wenn Thompson weg ist, wird eine anderer seelenlose Parasit:in seinen Platz einnehmen, und die Maschine wird weiter über die Leichen von Hunderten von Millionen arbeitenden Menschen gehen. Aus diesem Grund lehnen wir als Marxist:innen diese Methoden des “individuellen Terrorismus“ ab. Nicht, weil wir jemals eine Träne über den frühen Abgang eine:r Ausbeuter:in vergießen würden, sondern weil solche Taktiken letztlich nicht wirksam sind.
Im Jahr 1911 schrieb Leo Trotzki:
Wenn wir uns terroristischen Akten widersetzen, so nur deshalb, weil individuelle Rache uns nicht zufriedenstellt. Die Rechnung, die wir mit dem kapitalistischen System zu begleichen haben, ist zu umfangreich, um sie einigen Beamten, genannt Minister, zu überreichen. Lernen zu sehen, daß all die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, alle Beleidigungen, denen der menschliche Körper und Geist ausgesetzt sind, entstellte Auswüchse und Äußerungen der bestehenden sozialen Ordnung sind, um unsere ganze Kraft auf einen gemeinsamen Kampf gegen dieses System zu richten, – das ist die Richtung, in der der brennende Wunsch nach Rache seine höchste moralische Befriedigung finden kann.
Als Marxist:innen versuchen wir nicht, die „unerfüllten Rachegefühle des Proletariats zu ersticken, sondern sie im Gegenteil anzustacheln, zu vertiefen und sie gegen die wahren Ursachen aller Ungerechtigkeit und menschlicher Niedertracht zu richten“. In einem anderen Aufsatz schrieb Trotzki: „Nicht der isolierte Rächer, sondern nur eine große revolutionäre Massenbewegung, die von dem System der Klassenausbeutung, von nationaler Unterdrückung und Rassenverfolgung nichts bestehen lassen wird, kann die Unterdrückten befreien.“
Jeden, die darüber nachdenken, einen weiteren CEO des Gesundheitswesens zu erschießen, würden wir sagen: Denkt größer! Und findet einen anderen Weg! Kein einzelner Rächer mit einem Kapuzenpulli, einem CityBike und einer Pistole wird uns vor den endlosen Erniedrigungen des Kapitalismus retten können.
Stattdessen brauchen wir eine Bewegung von Millionen von arbeitenden Menschen und ihren Gewerkschaften und Gruppierungen, die den Mut haben, dieses System radikal zu verändern, angetrieben von der gemeinsamen Vision einer anderen Welt.
Die massenhafte, aus dem Bauch heraus erfolgte Reaktion auf die Schießerei, die Welle der Unterstützung, zeigt, wie tief der Hass auf ein Gesundheitssystem und seine millionenschweren CEOs sitzt. Es reicht nicht aus, nur einen CEO loszuwerden. Wir müssen all diese blutsaugenden Kapitalist:innen stürzen und sie an unserer Seite produktive Arbeit verrichten lassen.
Dieser Artikel erschien zunächst am 5. Dezember auf Left Voice.