Katalonien: Das Recht auf Selbstbestimmung am 1. Oktober durch eine große soziale Mobilisierung verteidigen!

12.09.2017, Lesezeit 10 Min.
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Der katalanische Unabhängigkeitstag Diada findet nur wenige Wochen vor dem Referendum am 1. Oktober statt. Die Angriffe der Zentralregierung des Spanischen Staats können nicht mit der Strategie der bürgerlichen Führung des Prozesses gestoppt werden. Für eine große soziale Mobilisierung, die das Referendum verteidigt und die Türen für freie und souveräne verfassungsgebende Prozesse auf den Trümmern des Regimes von 1978 öffnet!

Die Demonstration zum Katalanischen Unabhängigkeitstag, der Diada, am 11. September findet weniger als drei Wochen vor dem Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober statt. Der Aufruf dazu und die Verabschiedung der Gesetze zum Referendum und zum juristischen Übergang haben die Spannungen zwischen dem Zentralstaat und der Generalitat, den katalanischen Institutionen, vertieft.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat – unterstützt von der konservativen PP-Regierung, der sozialdemokratischen PSOE, den liberalen Ciutadans und der spanischen Krone – zwei Klagen vor dem Obersten Gerichtshof von Katalonien eingereicht. Zudem hat sie der Nationalen Polizei, der paramilitärischen Guardia Civil und den Mossos d’Esquadra (katalanische Polizei) Anweisungen erteilt, jeden Schritt in Richtung der Abstimmung am 1. Oktober zu untersuchen. Die Durchsuchungen von zwei Druckereien durch die Guardia Civil in den vergangenen Tagen waren die ersten Verfolgungsmaßnahmen dieser neuen Eskalation.

Es handelt sich um einen Frontalangriff gegen das Recht auf Selbstbestimmung durch das Regime von 1978, zu dessen Stützpfeilern die Verneinung dieses grundlegenden demokratischen Rechts gehört. Eine Drohung, die die tatsächliche Durchführung des Referendums am 1. Oktober in Frage stellt, besonders angesichts des Fahrplans der Parteien der katalanischen Bourgeoisie, um dieses Referendum zu „verteidigen“. Diese Führung wird die demokratische Bewegung für das Recht auf Selbstbestimmung zur Niederlage führen, wenn sie nicht überwunden wird.

Ungehorsam in den Institutionen mit „Junts pel Sí“? Oder Mobilisierung unabhängig von den kapitalistischen Parteien?

Die Kräfte der Unabhängigkeitsbewegung setzen alles auf den sogenannten „Ungehorsam“ der Institutionen. Die historischen Parteien der katalanischen Bourgeoisie, die heute in „Junts pel Sí“ („gemeinsam für das Ja“) versammelt sind, haben die große demokratische Bewegung Kataloniens, die mit der Diada 2012 entstanden ist, an die institutionellen Bahnen gekettet. Dieser Weg zeigt immer mehr seine Grenzen. Wie soll man Ungehorsam leisten gegen alle Institutionen des Spanischen Staates, die mit repressiven Gesetzen, Polizei und Guardia Civil reagieren? Mit ihrer Repression bedrohen sie sogar die Menschen, die am 1. Oktober teilnehmen wollen! Wie soll man Ungehorsam leisten, wenn die Mobilisierung und die Organisierung dieser Bewegung im Korsett der Manöver des katalanischen Parlaments feststecken?

Die Strategie, allein auf den institutionellen „Ungehorsam“ zu vertrauen, ist unfähig gegenüber den beschleunigten Rhythmen, die die Zentralregierung aufzwingt. Aber handelt es sich dabei um Naivität? Kategorisch nein. Die historischen Parteien der katalanischen Bourgeoisie werden nicht diejenigen sein, die eine große soziale Mobilisierung zur Verteidigung des Referendums anstoßen, denn sie fürchten sie mehr als das Verfassungsgericht oder die Guardia Civil.

Der sogenannte „Prozess“ hatte sich im Rahmen der schweren Wirtschaftskrise und der Krise des Regimes im Zuge der 15M-Bewegung entwickelt. Die sogenannten „Convergentes“ [nach der liberalen Regierungspartei „Convergència Democràtica de Catalunya“, die sich aktuell in Auflösung befindet, A.d.Ü.] haben sich an die Spitze des Prozesses gesetzt, um die große demokratische Bewegung zu kanalisieren und abzulenken, die 2012 die Straßen füllte. Auf diese Weise wollen sie ihre politischen Strukturen retten und weiterhin die schärfsten Kürzungspolitiken der letzten Jahrzehnte durchsetzen. Strategisch war und ist ihr Ziel, zu verhindern, dass auf dem Wege des Klassenkampfes ein Bruch mit dem Regime von 1978 stattfindet.

Sie wissen, falls dieses Recht mit dem Kampf erlangt und ein wirklich freier und souveräner verfassungsgebender Prozess eröffnet würde, könnten die dadurch in Gang gesetzten sozialen Kräfte nicht nur die Beziehung mit dem reaktionären spanischen Zentralstaat in Frage stellen, sondern den Kampf für die Lösung der großen sozialen Probleme wie der Arbeitslosigkeit, der Zwangsräumungen, der Kürzungen und Privatisierungen in den Mittelpunkt stellen, für die Convergència – heute „Partit Demòcrata Català“ („Katalanische Demokratische Partei“, PDeCat) – und die katalanische Bourgeoisie vollständig verantwortlich sind. Und bis dahin reicht der Ungehorsam nicht.

Die linke Unabhängigkeitspartei CUP hat ihre Politik der „ausgestreckten“ Hand vertieft und ordnet sich dem Fahrplan und der Strategie von Junts pel Sí unter. Sowohl deshalb, weil sie die soziale Mobilisierung nicht vorbereitet und organisiert, die Ministerpräsident Puigdemont und Oppositionsführer Junqueras geringschätzen – sie wollen sich auf eine Großdemonstration wie die am Tag der Diada beschränken, aber das reicht nicht aus, um die Offensive des Zentralstaats zurückzuschalgen –, als auch deshalb, weil sie inzwischen vollständig dasselbe Projekt angenommen haben: eine kapitalistische Republik mittels eines von oben angeführten verfassungsgebenden Prozesses aufzubauen, wie das Übergangsgesetz es vorsieht.

Ihrerseits erklären sich Unidos Podemos und die „Comun“-Bündnisse für das Recht auf Selbstbestimmung und gegen die reaktionäre Offensive des Regimes, aber sie unterstützen das Referendum am 1. Oktober nicht, sondern stellen ihm ein unmögliches mit der Zentralregierung paktiertes Referendum im Rahmen der Verfassung von 1978 entgegen. Gleichzeitig nimmt Pablo Iglesias die Suche nach einer Regierungskoalition mit einer der wichtigsten Agentinnen der zentralstaatlichen Offensive wieder auf, der sozialdemokratischen PSOE – in derselben Linie wie der Pakt mit der katalanischen sozialdemokratischen PSC in der Kommunalregierung von Barcelona –, und weigert sich, auch nur die geringste Mobilisierung zur Unterstützung Kataloniens im Rest des Staates anzustoßen. Stattdessen arbeitet er daran, dass es am 1. Oktober eine geringe Teilnahme gibt. Dieser verfassungstreue Schwenk von Podemos ist so stark, dass selbst die katalanische Sektion „Podem“ sich abspalten musste und ihre Unterstützung für das Referendum erklären musste.

Heute ist es wichtiger als je zuvor, eine große soziale Mobilisierung anzustoßen. Die Gewerkschaften müssen zu Streiks und Versammlungen an den Arbeitsplätzen aufrufen, die Unabhängigkeitslinke der CUP muss mit ihrer Unterordnung unter den Fahrplan von Puigdemont und Junqueras brechen und zu Demonstrationen auf der Straße aufrufen, das Unisemester muss mit Versammlungen und Streiks zur Verteidigung des Referendums beginnen. Die Gewerkschaften, begonnen mit der Gewerkschaftslinken, müssen auch zu Aktionen in den Betrieben aufrufen. Im Rest des Staats müssen die Sektoren, die das Recht auf Selbstbestimmung unterstützen, Solidaritätsdemonstrationen organisieren… Und gleichzeitig müssen die Teile von Podemos, IU und der „Comunes“, die ehrlich das Recht auf Selbstbestimmung verteidigen, den verfassungstreuen Schwenk ihrer Anführer*innen ablehnen und sich den Mobilisierungen in Katalonien und im Rest des Staats anschließen.

Mit den Parteien der katalanischen Bourgeoisie brechen, um das Recht auf Selbstbestimmung gegen das reaktoinäre Regime von 1978 zu verteidigen

Es ist auch fundamental wichtig, eine Strategie aufzuwerfen, die mit der Strategie der katalanischen Bourgeoisie und ihren Parteien bricht, wenn wirklich verfassungsgebende Prozesse eröffnet werden sollen, wie linke Unabhängigkeitskräfte es sagen.

Und das ist der schwere strategische Fehler der CUP, die weiterhin den Fahrplan des „Prozesses“ akzeptiert. Es ist eine große Utopie, das Recht auf Selbstbestimmung erobern und einen verfassungsgebenden Prozess eröffnen zu wollen, wenn man das gemeinsam mit den Erb*innen des ehemaligen Regierungschefs Pujol und dem institutionellen Gerüst des Übergangsgesetzes machen will, dass dem Regime von 1978 so ähnlich sieht. Dasselbe gilt für die Schaffung einer katalanischen Republik von oben, die weiterhin die Interessen der großen Familien und Unternehmen der katalanischen Bourgeoisie respektiert.

Diese Strategie schränkt die notwendige Mobilisierung über die Diadas hinaus ein, um ein Referendum durchzusetzen, dass nicht in den Urnen der kapitalistischen Parlamentarier*innen stecken bleibt, sondern die Eröffnung eines Prozesses beschleunigt, der die wichtigsten Forderungen der Arbeiter*innenklasse und armen Massen, der Frauen und der Jugend verteidigt. Dazu gehören die Beendigung der Arbeitslosigkeit durch die Verteilung der Arbeitsstunden auf alle Schultern, die Nichtzahlung der Schulden, die Verstaatlichung des Finanzsystems, Vermögenssteuern und ähnliches – fundamentale Dinge, um die schwerwiegende soziale Krise zu beantworten.

Die katalanische Großbourgeoisie ist sich der Gefahr bewusst, dass eine große Bewegung für die Selbstbestimmung sich in eine Bewegung zur Entscheidung über alles verwandeln könnte: Kürzungen zurückzunehmen, alle Korruptionsfälle abzuurteilen, Einblick zu erlangen, wie der öffentliche Haushalt den Großkonzernen geschenkt wird, die Arbeitslosigkeit und die Prekarisierung zu beenden, die Beziehung zwischen Großunternehmer*innen und Politiker*innen aufzudecken usw. Und dadurch werden nicht nur ihre Geschäfte in Gefahr gebracht, sondern ihr Eigentum. Deshalb zeigte der Präsident des Unternehmer*innenverbandes Foment, Gay de Montellà, seine Sorge angesichts der „Möglichkeit, dass der Konflikt sich in die Straßen verlagert und noch mehr soziale und politische Spannung generiert“.

Deshalb ist der strategische Fehler der CUP ihre Allianz mit den kapitalistischen Parteien, die den Prozess allerhöchstens zum selben Punkt wie am 9. November 2014 führen [als ein nicht bindendes Referendum über die Unabhängigkeit im Nachhinein von der spanischen Zentralregierung verboten wurde, A.d.Ü.] – es sei denn, die Massen nehmen die Durchführung des Referendums in ihre eigene Hand, unabhängig von allen Handlanger*innen der katalanischen Bourgeoisie – der großen, mittleren und kleinen. Die Unabhängigkeitslinke bereitet sich nicht darauf vor, sondern ganz im Gegenteil.

Verteidigen wir das Referendum am 1. Oktober! Für das Recht auf Selbstbestimmung, für die Eröffnung verfassungsgebender Prozesse in Katalonien und im Rest des Staates, um zu debattieren, wie wir alles ändern können!

Die wachsende Ablehnung des Regimes von 1978 könnte sich in ein wichtiges Element im Kampf für das Recht auf Selbstbestimmung in Katalonien verwandeln, das durch die Verfassung und die Monarchie verwehrt wird. Es sollte eine Forderung sein, die von der Arbeiter*innenklasse im ganzen Staat unterstütz wird. Und gleichzeitig könnte dieser demokratische Kampf dazu beitragen, um die Einheit der Arbeiter*innenklasse – einheimisch und ausländisch – des gesamten Staats im Kampf gegen das Regime von 1978 zu stärken, um auf seinen Trümmern wirklich freie und souveräne verfassungsgebende Prozesse durchzusetzen. Dazu gehören Maßnahmen wie, dass Richter*innen durch allgemeines Wahlrecht gewählt werden, dass alle öffentlichen Funktionsträger*innen nur einen durchschnittlichen Arbeiter*innenlohn verdienen, dass die Funktionär*innen abwählbar sein können… So können wir ein Programm der Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse abstimmen, damit die Kapitalist*innen die Krise bezahlen, durch Maßnahmen wie die Verteilung der Arbeitsstunden bei vollem Lohnausgleich, die Verstaatlichung des Finanzsystems und der Großunternehmen unter Arbeiter*innenkontrolle, hohe Steuern auf große Vermögen, die Enteignung der Grundstücke und Gebäude der Spekulant*innen.

Diese Prozesse können nur erkämpft werden durch die breiteste Mobilisierung der Arbeiter*innen und der Massen, in denen sich Organismen der Selbstbestimmung der Massen entwickeln, und indem für die Einsetzung von Regierungen der Arbeiter*innen – und nicht der Bosse, seien sie spanisch, katalanisch oder baskisch – gekämpft wird.

Von Seiten der CRT verteidigen wir das Referendum am 1. Oktober, auch wenn unsere Verteidigung dieses Rechts auf Selbstbestimmung Kataloniens und auch auf die Lostrennung, falls die Mehrheit das so wollte, nicht auf der Grundlage der Strategie der Unabhängigkeitsbewegung stattfindet. Als revolutionäre Marxist*innen sind wir nicht der Meinung, dass die katalanische Unabhängigkeit die großen Probleme der Arbeiter*innenklasse und der Massen lösen wird, wie es in nationalistischer Perspektive und auch in der Unabhängigkeitslinken gesehen wird.

Die Lösung der wichtigsten Forderungen der Arbeiter*innenklasse ist, genau wie die Aufgabe der Beendigung der nationalen Unterdrückung, eng verbunden mit dem Kampf für den Sieg der sozialistischen Revolution im Spanischen Staat. Deshalb kann sich der Kampf nicht ausschließlich auf Katalonien beschränken, und noch viel weniger auf eine bürgerliche katalanische Republik, die von den Erb*innen Pujols gegründet wird, mit der sie sein Erbe der neoliberalen Kürzungen und der Korruption verschleiern wollen. Im Gegenteil ist es notwendig, von der Einheit der Arbeiter*innenklasse des gesamten Spanischen Staats auszugehen, in der Perspektive der Ausdehnung der Revolution auf den Rest Europas und der Welt.

Deshalb ist unser Kampf für das Recht auf Selbstbestimmung verbunden mit einer internationalistischen Perspektive, als Teil des Kampfes für den Sturz des Regimes von 1978 und des Aufbaus einer Iberischen Föderation Sozialistischer Republiken in der Perspektive der Eroberung der Föderation Sozialistischer Republiken Europas. Dafür ist es unumgänglich, dass die Arbeiter*innenklasse des restlichen Spanischen Staats den Kampf für das Recht auf Selbstbestimmung der Bask*innen und der Katalan*innen als ihren eigenen Kampf aufnimmt, um so die notwendige Einheit zu schmieden, um gemeinsam frei und freiwillig diese Föderation aufzubauen.

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