Kampf um Palästina im Studierendenparlament – wie weiter?

15.11.2023, Lesezeit 15 Min.
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Foto: Maxi Schulz / KGK

Im Studierendenparlament der FU Berlin haben dutzende Studierende Solidarität mit Palästina gezeigt. Wir wollen ein großes Solidaritätskomitee aufbauen. Organisiere dich mit uns!

Schon lange war keine Sitzung des Studierendenparlaments (StuPa) an der FU so voll wie am 10. November. Zahlreiche unabhängige Studierende versammelten sich, um gemeinsam mit den Parlamentarier:innen unserer marxistischen Hochschulgruppe Waffen der Kritik für Solidarität mit Palästina einzustehen. Mit etwa vierzig Leuten drückten wir unsere Empörung über den pro-israelischen Diskurs der Universitätsleitung aus.

Das Studierendenparlament wird einmal im Jahr gewählt und erhebt den Anspruch, die Vertretung aller Studierenden an der FU zu sein. Viermal im Jahr finden Sitzungen statt, auf denen Anträge der vertretenen Gruppen eingebracht und beschlossen werden können. Normalerweise sind das vor allem bürokratische Angelegenheiten und unpolitische Diskussionen. Denn viele der vertretenen Listen nutzen das StuPa vor allem, um sich selbst in den AstA zu wählen. Auf dieser StuPa-Sitzung wurden drei Anträge zum Krieg gegen Palästina eingebracht.

Campusgrün und Jusos als Wächter der deutschen Staatsräson

Der rechteste der Anträge stammte von Campusgrün und der Juso-Hochschulgruppe. Sie solidarisierten sich in ihrem Antrag vollständig mit dem israelischen Staat und erwähnten seine zurzeit stattfindenden Menschenrechtsverbrechen mit keinem Wort. Gleichzeitig rufen sie zu Solidarität mit jüdischen Menschen auf, ohne es als notwendig anzusehen, sich mit den Palästinenser:innen zu solidarisieren, deren Familien in Gaza ausgelöscht werden und die auf den Straßen in Deutschland heftige Repression erfahren und von Abschiebungen bedroht sind. In ihrer verzerrten Sicht, das den Angriff der Hamas in keinen historischen Kontext setzt und sich nicht mit der Geschichte von Gaza und seiner jahrelangen Belagerung auseinandersetzt, ist Israel aktuell das alleinige Opfer. Ein Parlamentarier der Jusos behauptete in der StuPa-Sitzung, man könne das Judentum nicht vom Staat Israel trennen und Anti-Zionismus sei per se antisemitisch. Doch diese Position der Jusos ist selbst zutiefst antisemitisch: Wer alle Jüd:innen für das Handeln eines siedlerkolonialistischen Apartheidsstaates verantwortlich macht, bekämpft Antisemitismus nicht, sondern befeuert ihn. So stellten wir in einem Redebeitrag klar, dass die Jusos und Campusgrün sich für ihre Definition von Antisemitismus auf die IHRA-Definition oder auch den 3D-Test beziehen. Diese setzen Antisemitismus und Anti-Zionismus gleich. Dabei wurde der 3D-Test vom rechten israelischen Politiker Scharansky und George W. Bush zusammen ausgearbeitet, um ein Infragestellen ihres imperialistischen Projekts Israel zu verhindern. Wir beziehen uns zum Beispiel auf die Jerusameler Erklärung für Antisemitimus, die von vielen unabhängigen Experten ausgearbeitet wurde, und zwischen Antisemitimus und Antizionismus differenziert.

Im StuPa sprachen auch Personen mit jüdischer Familie und palästinensischem Hintergrund, die anklagten, dass sich viele Europäer:innen nicht mit dem Nahen Osten auseinandersetzen und die verschiedenen Bevölkerungsgruppen als homogen betrachten. Auch verdeutlichten sie, dass nicht alle Jüd:innen hinter dem israelischen Staat stehen, geschweige denn, ihn als ihren „Schutzraum“ begreifen, zumal es auch starken Rassismus innerhalb der israelischen Gesellschaft gegenüber arabischen Jüd:innen gibt. Auch die Vertreter:innen der Fachschaftsinitiative (FSI) Geschichte wurden mehrfach in Redebeiträgen darauf hingewiesen, dass es schon alleine aufgrund ihres Studienfachs ihre Aufgabe sei, sich mit dem historischen Kontext zu befassen.

Es fiel tatsächlich deutlich auf, wie viele Redebeiträge der Jusos, Campusgrün und der FSI Geschichte von einer überraschend großen Lücke von historischem Wissen gekennzeichnet waren. Immer wieder wurde der Krieg als ein religiöser Konflikt ausgelegt oder suggeriert, er hätte erst am 7. Oktober begonnen. Eine Person von der FSI Geschichte behauptete tatsächlich, es würde sich bei Israel nicht um einen Kolonialstaat handeln. Unser Genosse Andrés betonte: „Dieser Konflikt begann nicht am 7. Oktober, sondern vor 75 Jahren.“

Solidarität mit Palästina, gegen Antisemitismus und Rassismus

Die Resolution, die von uns als Waffen der Kritik (Liste Klasse Gegen Klasse) eingebracht wurde, forderte von der FU, für alle jüdischen und palästinensischen Studierenden, die von der aktuellen Situation betroffen sind, kostenlose psychologische Beratung und Unterstützung anzubieten und Prüfungsfristen zu verlängern sowie ihre Kooperation mit der Hebrew University im besetzten Ost-Jerusalem zu beenden. Außerdem forderten wir die Universität und den Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) auf, eine Erklärung zu veröffentlichen, die sich gegen die Verbrechen des israelischen Staates sowie die rassistische Migrationspolitik und Waffenlieferungen der deutschen Regierung stellt. Innerhalb der Diskussion wurde klar, dass sich viele nicht wirklich mit dem Krieg auseinandergesetzt hatten. Eine Person fragte uns, weshalb wir überhaupt von Genozid sprechen würden. Dieses ist allerdings keine subjektive Einschätzung von uns, sondern bezieht sich auf Definitionen des Völkerrechts und Einschätzungen unabhängiger Organisationen und Experten. In unserem Redebeitrag zitierten wir den israelischen Genozidforscher Raz Segal, der den Krieg in Palästina als „A Textbook Case of Genocide“, beschreibt. Denn für einen Genozid müssen eine Tathandlung und eine dahinterstehende Absicht vorhanden sein. Eine Bevölkerung von Wasser, Medikamenten, Energie und Nahrung abzuschotten, sie von oben wochenlang zu bombardieren sowie dazu eindeutige von genozidaler Absicht besteckte Aussagen zu formulieren, dürfte hoffentlich auch jenen Menschen als Beweisgrundlage für einen Genozid dienen, die sich ansonsten lieber nur IDF-Propaganda bedienen und im Glauben wiegen, der deutsche und israelische Staat kämpften für Menschenrechte.

Ein Juso warf kurz vor Ende ein: „Ich finde es erschreckend, wie wenig wir hier über den Holocaust geredet haben.“ Diese Aussage löste zu Recht viel Empörung im Raum aus. Den Holocaust in den Raum zu werfen, um für eine menschenfeindliche Resolution zu werben, heißt, den Holocaust zu instrumentalisieren. Die Aufarbeitung des Holocausts ist wichtig und notwendig, aber sie ist keine Begründung für den Siedlerkolonialismus Israels und seinen laufenden Genozid an der palästinensischen Bevölkerung. Diese Aussage des Jusos wirkte darum wie eine Flucht von ihm in ein vorgeschobenes vermeintliches Argument – ganz einfach aufgrund seiner fehlender Argumente.

Ganz im Gegenteil heißt politische Lehren aus dem Holocaust zu ziehen, sich gegen den deutschen Staat zu organisieren, der auf den Trümmern des Faschismus aufgebaut wurde. Aus diesem Grund kann die Behauptung der Jusos und von Campusgrün, gegen Antisemitismus kämpfen zu wollen, nicht ernstgenommen werden. Gerade sie sind es, die sich als Anhängsel ihrer Mutterparteien organisieren, die sich hinter den deutschen Staat stellen, seine Aufrüstung, den Rechtsruck, die zahlreichen Abschiebungen und die restriktive Migrationspolitik, deren Inhalt das ist, was die AfD vor Jahren gefordert hat. Sie sind es, die Jüd:innen in Deutschland eben nicht schützen, weil sie für einen Sicherheitsapparat einstehen, der von Faschos durchsetzt ist.

Eine neue Dynamik antikolonialen Widerstands an der Uni

Die Resolution, die letztendlich angenommen wurde, übernahm im Wesentlichen das vom AStA der FU veröffentlichte Statement. Sie enthält viele wichtige Punkte, wie die Positionierung gegen selektive Solidarität, den antimuslimischen Rassismus an der Universität und die Forderung nach Hilfsangeboten für alle Betroffenen. Allerdings wurde das Vorgehen des israelischen Staates nicht als das benannt, was es ist: ein Genozid. Zudem wird in dem Antrag der Kundgebung für Palästina mit hunderten Teilnehmer:innen, die auch von jüdischen Studierenden mitorganisiert wurde und sich explizit gegen den Anstieg der Gewalt gegen Jüd:innen richtete, fälschlicherweise vorgeworfen, sich nicht ausreichend von Antisemitismus zu distanzieren. Wir schlugen vor, das Statement dementsprechend zu korrigieren, was von der pro-zionistischen Mehrheit im Parlament aber abgelehnt wurde.

Dennoch zeigte der Antrag, dass der Druck aus der Studierendenschaft, sich gegen die Repression gegen Palästinenser:innen und palästina-solidarische Menschen zu stellen, wirkt. In der langen Diskussion hielten viele anti-zionistische Studierende starke Reden, in denen der koloniale Charakter Israels, die Mythen des importierten Antisemitismus, die vermeintliche Identität von Jüd:innen mit dem israelischen Staat und die Rolle des westlichen Imperialismus erläutert wurden. Die Gegenseite konnte kaum überzeugende Argumente vorbringen, einige von ihnen gaben offen zu, sich nicht ausreichend mit der Geschichte des Konflikts befasst zu haben. Eine Person der FSI-OSI lud am Ende der Sitzung zu Selbstkritik ein. Dass der AStA so lange für sein Statement gebraucht hatte, wurde unter anderem damit begründet, dass einige Leute wenig Zeit hatten, da sie die O-Wochen mitveranstalteten. Von unserer Seite aus wurde darum berechtigterweise gefragt: „Wenn ihr sagt, dass ihr zu Semesterbeginn keine Zeit hattet, euch auseinanderzusetzen, womit habt ihr euch dann die letzten Jahre auseinandergesetzt?“

Für unsere Resolution stimmten nicht die Mehrheit der Parlamentarier:innen, doch das war nicht unser Hauptziel. Die Mehrheit der Parlamentarier:innen steht nicht für die Mehrheit der Studierendenschaft, die zum allergrößten Teil nicht mal weiß, dass das StuPa überhaupt existiert. Dies ist auch Schuld des StuPas selbst, dass sich oft kein Interesse an politischen Debatten hat und sich daher immer wieder entpolitisiert und seine eigene mögliche Schlagkraft ausgebremst hat. Aus diesem Grund kämpfen wir im Studierendenparlament für seine Politisierung. Wir wollen es zu einem wichtigen Element für die Studierendenschaft machen, an dem Debatten ausgetragen und gegen Unterdrückung gekämpft wird. Damit wurde ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung gegangen. Wir konnten aufzeigen, dass die pro-zionistische Haltung der meisten Parlamentarier:innen nicht von der Breite der Studierenden, die sie repräsentieren sollen, geteilt wird. Ebenso wurde deutlich, dass die selbsternannten Linken von den Campusgrünen und der Juso-Hochschulgruppe den Rechtsruck, der ihre Mutterparteien erfasst hat, mittragen.

In einem unserer Redebeiträge erinnerten wir zudem an die revolutionäre Tradition der FU-Studierendenschaft. Denn es war die FU, an der die 68er-Bewegung in Deutschland entstand und die sich mit Streiks und Blockaden gegen den Vietnam-Krieg stellte. Das damals entstandene antikoloniale Selbstverständnis beizubehalten, bedeutet in der Gegenwart konkret, sich gegen den Genozid in Gaza zu stellen. Viele Abgeordnete im StuPa bezeichnen sich zwar als links, doch weigern sich nun, sich in diesem antikolonialen Kampf auf der Seite der Unterdrückten zu positionieren. Wir wollen die FU erneut zu einer antikolonialen und antiimperialistischen Bastion aufbauen. Um die Grundlage dafür zu legen, wollen wir ein Solidaritätskomitee für Palästina aufbauen. Dieses soll die verschiedenen palästina-solidarischen Initiativen an den Berliner Universitäten bündeln, um ihre volle Kraft zu entfalten. Dabei können wir uns nicht auf die Universität als Institution verlassen. Aktuell verteidigt sie die Interessen des deutschen Staates und damit auch seine Staatsräson in Bezug auf Israel. Wir sollten uns von ihr auch nicht ruhig stellen lassen. Der Kampf um Palästina ist ein politischer. Darum sollten wir die Forderungen und unsere Handlungen an der Uni, wo immer wir sind, politisieren. Als geeinte, starke Studierendenschaft können wir politische Forderungen aufstellen, die den Genozid in Gaza verurteilen und klar machen, dass auch das derzeitige Handeln der Uni keine Repräsentation ihrer Studierendenschaft darstellt. Unseren Antrag an das StuPa mit unseren darin enthaltenen Forderungen könnt ihr hier nachlesen. Wir von Waffen der Kritik fordern von der Universität ein Statement, in dem Israels Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Israels Verstöße gegen das Völkerrecht öffentlich verurteilt werden. Zudem soll sich für einen Stopp deutscher Waffenexporte an den israelischen Staat eingesetzt werden, sowie darüber hinaus gegen den aktuellen Rechtsruck, die Verschärfung des Asylrechts und stattdessen für den Stopp aller Abschiebungen und für ein Bleiberecht für alle. Israel soll dazu aufgefordert werden, sich vollständig aus Gaza zurückzuziehen und sämtliche Angriffe zu stoppen.

Organisiert euch mit uns an der Seite der Arbeiter:innenklasse

Aufbauend auf den großen Mobilisierungen zur Kundgebung für Palästina und der Sitzung des Studierendenparlaments müssen wir uns langfristig organisieren. Dies wollen wir an der Seite der Arbeiter:innenklasse tun. Denn sie ist es, die unsere Gesellschaft täglich mit am Laufen hält und an den zentralen Schalthebeln sitzt. Wenn sie sich weigert, zu arbeiten und zum Beispiel Waffenlieferungen nach Israel bestreikt, wie es Arbeiter:innen in Belgien, den USA und Italien vorgemacht haben, kann die Kriegsmaschinerie, die Israels laufenden Genozid mit Material füttert, ins Stocken geraten und eine weitere Ausdehnung des unmenschlichen Leids der Palästinenser:innen wenigstens teilweise gestoppt werden. Dies ist unsere Perspektive. Es ist nicht lang bis zu den nächsten Streiks. Bereits in der nächsten Woche finden Streiks im öffentlichen Dienst und bei den studentischen Beschäftigten statt. Diese Streiks wollen wir politisieren, in dem wir zum Beispiel eine Streikversammlung organisieren, um dort über Forderungen zu diskutieren. Unser Kampf für höhere Löhne ist zentral mit dem Kampf gegen den Rechtsruck verbunden, der sich derzeit stark in antipalästinensischem Rassismus ausdrückt. Die Politik und die Kapitalist:innen kürzen an jeder Stelle und tun dies auf dem Rücken der Arbeiter:innenklasse. Dabei tun sie so, als wäre aufgrund der Migration kein Geld dar. Doch wir wissen – das Geld ist da, es muss nur anders verteilt werden. Die Grenze läuft nicht zwischen „außen“ und „innen“ von Deutschland, sondern zwischen oben und unten. Darum müssen wir auch von unten kämpfen. Der einzige Weg, die Kürzungen der Regierung zu bestreiken, heißt sich als Klasse zu vereinen und damit auch gegen vermeintliche Spaltungen wie Herkunft einzustehen. Wir sehen also, der Kampf gegen die Inflation ist auch ein Kampf gegen den Rechtsruck. Und der Kampf gegen den Rechtsruck besteht auch im Kampf für ein befreites Palästina.

Lasst uns also gemeinsam ein schlagkräftiges Bündnis von Studierenden, Beschäftigten und auch Lehrenden an der Universität aufbauen, um eine breite Solidaritätsbewegung mit Palästina ins Leben zu rufen. Wir sind an der Freien Universität schon die ersten richtigen Schritte gegangen. Neben der Aktion im Stupa sehen wir tagtäglich Plakate, Flyer und Aktionen auf dem Campus, die auf die Situation in Palästina aufmerksam machen. Nicht zuletzt konnten wir mit der Kundgebung an der Uni zeigen, dass wir viele Menschen mobilisieren können, um ihre Wut an die Universität zu tragen. Jetzt gilt es alle Kräfte, die schon existieren, zu bündeln, und weitere Verbündete zu gewinnen, um den Kampf auszuweiten. Lasst uns gemeinsam in einer möglichst breiten Front in einem Solidaritätskomitee zusammenkommen, um die nächsten Schritte zu gehen, die es braucht, um allen Seiten zu zeigen, dass wir es ernst meinen mit unserem Anliegen. Wir werden nicht schweigend dabei zusehen, während zehntausende Palästinenser:innen vertrieben und ermordet werden. Wir als Waffen der Kritik wollen uns gemeinsam mit vielen anderen dagegen organisieren. Sei auch du ein Teil davon und komm am Montag zum Treffen der Palästina Vernetzung an der FU Berlin um 18 Uhr im Galilea. Wenn du Interesse daran hast, schreib uns per E-Mail an info@klassegegenklasse.org oder via Instagram an Waffen der Kritik!

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