Jüdische Studierende in Deutschland haben Angst vor dem Staat

20.11.2023, Lesezeit 5 Min.
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Foto: Maxi Schulz

Bürgerliche Zeitungen behaupten, dass jüdische Studierende an deutschen Universitäten Angst haben. Wir können das bestätigen. Aber sie haben Angst davor, dass sie als „Antisemit:innen“ diffamiert, verhaftet und abgeschoben werden können. Wir lassen sie zu Wort kommen.

Bürgerliche Zeitungen berichten von antisemitischen Drohungen an deutschen Universitäten. Die Berliner Zeitung etwa behauptete: „Jüdische Studenten fürchten Gewalt“ bei einer Kundgebung für Gaza an der Freien Universität. Als Quelle zitiert die B.Z. — Entschuldigung, die Berliner Zeitung — ausschließlich eine pro-israelische NGO, die keine Verbindungen zur FU hat. Der Autor berichtet von „fast täglich[en] antisemitische[n] Vorfälle“, doch die Zeitung hat nicht die Mühe gemacht, auch nur einen einzigen Vorfall zu dokumentieren. Wir haben dagegen mit jüdischen Studierenden an der Freien Universität gesprochen über das, was Ihnen Angst machen. Wir dokumentieren ihre Worte hier.

Erster Bericht

Da ich aus den USA komme, ist eine der häufigsten negativen Reaktionen darauf, ein:e jüdische:r Antizionist:in zu sein, dass dies irgendwie selbsthassend sei. Diese offenkundig falsche Kritik ist etwas, das mich bis heute nicht beeindruckt oder eingeschüchtert hat. Wenn man aber nach Deutschland kommt, steht viel mehr auf dem Spiel. Als jemand ohne EU-Staatsbürgerschaft, die mit einem Studierendenvisum hier ist, kann die Unterstützung des Rechts des palästinensischen Volkes auf ein Leben frei von Besatzung viel größere Konsequenzen haben. Vor allem in den ersten Wochen der Belagerung des Gazastreifens war die Gefahr, verhaftet zu werden, äußerst beängstigend, da nicht klar war, welche Konsequenzen jemandem drohten, der keine Staatsbürgerschaft besaß. Im Laufe der Zeit ist diese Bedrohung zwar immer noch vorhanden, aber ich habe auch festgestellt, dass es extrem schwierig ist, sich mit diesem Thema auf dem Campus zurechtzufinden.

Ich beginne gerade mit einer Abschlussarbeit und werde den anderen Mitgliedern meiner Forschungsgruppe vorgestellt. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht über dieses Thema nachdenke, lese und mir Sorgen mache. Aber das Klima an der FU ist so, dass Schweigen erwartet wird. Ich werde mich mit Stolz für diese Sache einsetzen, bis wir ein freies Palästina sehen, aber trotzdem habe ich mich dabei ertappt, bei der Studierendendemonstration in der Mensa II über meine Schulter zu schauen, um zu sehen, ob einer meiner Kolleg:innen in der Nähe war. Als die FU eine E-Mail verschickte, in der sie die Studierenden über die „mental health checkpoints“ rund um den Campus wegen des Hamas-Angriffs auf Israel informierte, ohne den Kontext der Besatzung zu erwähnen, mit der üblich deutschen Rhetorik rund um dieses Thema, dachte ich wirklich: „Wow, diese Uni ist weder für mich noch für irgendwen da, der:die einen Völkermord vor deren Augen erkennt und als solchen benennt.“

Zweiter Bericht

Es frustriert mich zu sehen, dass deutsche Medien behaupten, jüdische Studierende hätten aufgrund der Proteste in Solidarität mit den Palästinenser:innen Angst auf dem Campus. Besonders frustrierend ist es, wenn deutsche Medien diese Proteste als antisemitisch und „judenfeindlich“ bezeichnen. Ich bin internationale:r Student:in und amerikanische:r Jude:Judin an der FU. Was mir seit dem 7. Oktober Angst macht, ist die zunehmende Repression und das Verstummen antizionistischer jüdischer Stimmen auf dem Universitätscampus. Die enorme Polizeipräsenz bei Demonstrationen auf dem Campus; die Gefahr, meine Aufenthaltsgenehmigung zu verlieren, sollte ich bei Protesten verhaftet werden, weil ich ein:e antizionistische:r Jude:Jüdin in Deutschland bin; und das Risiko, hier nicht weiter studieren zu können, weil die Forderung nach einem Ende des Völkermords in Gaza als antisemitischer Akt angesehen werden kann — all das macht mir Sorgen. Nachdem die Polizei am 10. November bei der von Juden:Jüdinnen organisierten Kundgebung „We Still Need to Talk“  jüdische Menschen verhaftet hat, haben sich diese Ängste noch verstärkt.

Studierende aus dem Nahen Osten haben mich mit offenen Armen aufgenommen und dafür gesorgt, dass jüdische Stimmen bei den Protesten gehört werden. Sie für den Antisemitismus zum Sündenbock zu machen, ist für mich das eigentliche Problem, nicht der vermeintliche „Antisemitismus“, den ich nicht gesehen oder gespürt habe, während ich an diesen Protesten auf dem Campus teilnahm. Ich habe Angst vor der Art und Weise, wie die Polizei reagiert. Ich fürchte, dass die Repressionen der Universität die Islamophobie und den Antisemitismus nur noch verstärken, indem sie die falsche Vorstellung verbreiten, dass alle „echten“ Juden:Jüdinnen Zionist:innen sind und dass Zionismus eine Voraussetzung dafür ist, Jude:Jüdin zu sein. Ich fürchte die derzeitige Atmosphäre in Deutschland, die Bereitschaft, Israel zu verteidigen, obwohl die Regierung dort Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht.

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