Johnsons Triumph stürzt Corbyn in die Krise
Mehrere Tage nach den Wahlen in Großbritannien scheinen die Verhältnisse so klar wie lange nicht. Johnson wird den Brexit durchziehen. Bei Labour beginnen derweil die Vorbereitungen für eine Zeit nach Corbyn.
Lange war der Brexit nicht so nahe wie nach den Wahlen am Donnerstag. Die konservativen Tories haben eine überwältigende Mehrheit der Stimmen hinter sich vereint und alle Kräfte, die den Brexit unterstützen, hinter sich bringen können. Im neuen Unterhaus werden sie 365 Sitze innehaben, mehr als 160 mehr als die zweitplatzierte Labour Party. Boris Johnson hat dabei nicht nur die rechte Brexit Party um den UKIP-Gründer Nigel Farage und die nordirische Democratic Unionist Party (DUP) politisch neutralisiert, sondern sogar in tradionellen Labour-Regionen einige Wahlbezirke für sich erobern können. Mit dem Slogan „Get Brexit done“ (den Brexit durchziehen) hat Johnson damit den Nerv vieler Brit*innen getroffen, die genug haben von ewigen Verhandlungen und einer Regierung, die nicht mehr handlungsfähig ist. Damit hat Johnson letztlich geschafft, was seine Vorgängerin Theresa Mays nicht hinbekommen hat.
Wie tief dieser Stachel sitzt, zeigt auch das eher ernüchternde Ergebnis der Liberaldemokraten um Jo Swinson, die kurz nach der Wahl ihren Rückzug als Parteivorsitzende erklärt hat. Zwar hat sich vor der Wahl eine Art Bündnis aus allen Kräften geformt, die sich gegen den Brexit gestellt haben – nur um Boris Johnson unbedingt zu verhindern. Es gab viele Wahlbezirke, in denen beispielsweise darauf verzichtet wurde, untereinander Gegenkandidat*innen aufzustellen, und stattdessen die jeweiligen Anhänger*innen zum taktischen Wählen aufgerufen wurden. Das Ergebnis ist jedoch letztlich eine Klatsche für all diejenigen, die noch Hoffnungen auf einen EU-Verbleib Großbritanniens hatten. Zwar teilen die Befürwort*innen und Gegner*innen des Brexit insgesamt so ungefähr den Anteil aller Stimmen, die Gegner*innen haben es aber eben nicht geschafft, die eigenen Unterstützer*innen zu vereinen. Die einzige Partei, die außer den Tories wohl mit einem Erfolg herausgehen kann, ist die Scottisch National Party (SNP), die in Schottland 48 von 59 möglichen Sitzen gewinnen konnte. Die schottische Premierministerin Nicola Ferguson Sturgeon hat bereits angekündigt, nun einen erneuten Anlauf für ein Unabhängigkeitsreferendum unternehmen zu wollen. Auch in Nordirland brodelt die nationale Frage weiter. Symbolisch dafür steht unter anderem, dass der stellvertretende Vorsitzende der DUP, Nigel Dodds, seinen Bezirk Nord-Belfast an die irisch-republikanische Sinn Féin verloren hat. Die unionistischen Kräfte haben erneut keine Mehrheit im nordirischen Parlament.
Der Sieg von Johnson gibt dem britischen Kapital und den Konservativen erst einmal eine Verschnaufpause. Britische Konzerne und Firmen erhoffen sich nun, dass Johnson mit der stabilen Mehrheit einen Deal in ihrem Sinne aushandeln kann, der die Beziehungen zur EU möglich vorteilhaft gestaltet. Obwohl sich große Teile des Kapitals ursprünglich gegen den Brexit ausgesprochen hatten, wurde Johnson nun als „kleineres Übel“ gegenüber Corbyn akzeptiert. Die Wahl von Johnson ist ein Versuch der herrschenden Klasse in Großbritannien, die organische Krise ein Stück abzumildern und eine gewisse Stabilität herzustellen. Unklar ist jedoch noch, wie sich die EU nun verhalten wird. Erledigt ist der Brexit damit sicher noch nicht. Auch die ungelösten nationalen Fragen in Schottland und Nordirland können diese Verschnaufpause ganz schnell wieder beenden und letztlich die Existenz des gesamten Vereinigten Königreichs gefährden.
Labour in der Krise
Die Labour Party ist die große Verliererin der Wahl. Mit ihren 203 Sitzen haben sie ihr schlechtestes Ergebnis seit den 80er Jahren eingefahren. Jeremy Corbyn hat als Konsequenz aus diesem Ergebnis bereits seinen Rückzug vom Vorsitz der Partei angekündigt. Besonders prägnant ist, dass Labours „rote Mauer“ in den englischen Midlands und dem Nordosten sowie Wales von den Tories eingerissen wurde. Boris Johnson hat 33 von den 63 Sitzen dort für sich gewinnen können. Das ist besonders bitter, weil es sich dort um Regionen mit einer langen proletarischen Tradition handelt. Niemals hat es dort ein Konservativer geschafft, einen Fuß in die Tür zu bekommen – zumal die Arbeiter*innen dort speziell in der Thatcher-Ära die Auswirkungen des Neoliberalismus und der EU zu spüren bekommen haben. Die Niederlage von Labour drückt ein tiefes Misstrauen in die Politik der Labour Party der letzten Jahre aus. Schon beim Brexit-Referendum waren es viele Arbeiter*innen aus diesen Regionen, die gegen die EU gestimmt haben. Dass Corbyn sich zu der Frage der EU im Wahlkampf vor allem ausgeschwiegen hat, hat dieses Misstrauen weiter verstärkt. So war es weniger eine Wahl für Johnsons Politik, sondern in erster Linie eine Wahl gegen die Politik der Labour Party und für den Brexit.
Die Zerrissenheit der Labour Party wird dabei besonders deutlich, wenn man sich das Wahlergebnis nach Altersklassen sowie nach Regionen anschaut. Bei Wähler*innen unter 30 Jahren hat eine überwiegende Mehrheit für die Labour Party gestimmt. Sicher ein Verdienst von Corbyns Politik in den letzten Jahren und der Organisation Momentum, die 2015 gegründet wurde und speziell Jugendliche und junge Arbeiter*innen mobilisieren konnte. Doch Momentum ist für Corbyn Fluch und Segen zugleich. Denn die Jugend ist überwiegend pro-europäisch und hat selbst viele Illusionen in die Reformierbarkeit der EU. Ganz im Gegensatz zu älteren Beschäftigten in den ländlichen Regionen, die noch eine Zeit vor der EU erlebt haben und sich von der Rückkehr zum nationalen Kapitalismus soziale Verbesserungen erhoffen. Beide Positionen drücken letztlich Illusionen in verschiedene Teile der bürgerlichen Politik und des Kapitals aus. Doch daraus nun einen Konflikt zwischen Generationen zu machen, ist ebenfalls falsch. Die Jugend, die heute für den Verbleib in der EU kämpft, hat in den letzten Jahren zehn Jahren brutale Spardiktate über sich ergehen lassen müssen – ähnlich wie die Beschäftigten in Mittel- und Nordostengland. Die unterschiedliche Einstellung zum Brexit hat dabei weniger objektive Ursachen in irgendwelchen angeblich entgegensetzten Interessen zwischen Alt und Jung, sondern zeigt vielmehr auf, dass Brexit oder nicht nur eine Wahl zwischen zwei bürgerlichen Alternativen darstellt.
Jeremy Corbyn hat zwar im Wahlkampf versucht, sich als Vertreter der Klasse zu inszenieren. So hat er sich unter anderem mit den Streiks bei der Eisenbahn solidarisch erklärt und die Verbesserung des Gesundheitssektors sowie ein Ende von prekärer Beschäftigung zu zentralen Wahlkampfthemen gemacht. Doch Corbyn ist nun einmal vor allem ein Phänomen in der Jugend. Viele ältere Kolleg*innen haben nicht vergessen, dass es die Labour Party war, die zentrale Angriffe auf sie im Sinne der EU durchgesetzt hat.
Sicher ist es schwierig, aus dieser Wahl einen allgemeinen Trend abzuleiten. Zu sehr hat der Brexit alles andere überragt. Möglicherweise werden einige ehemalige Wähler*innen von Labour wieder zurückkehren. Die Ära von Jeremy Corbyn scheint aber wohl vorbei zu sein. Der rechte Flügel von Labour steht bereits in den Startlöchern und die Diskussionen um einen neuen Vorsitzenden sind längst in vollem Gange. Eine große Herausforderung wird es sein, der prekarisierten Jugend, die sich in Zukunft ohne Corbyn vielleicht wieder von Labour abwenden wird, eine sozialistische und internationalistische Alternative zur EU anzubieten – genauso wie den Beschäftigten in der Mitte und im Norden Englands, die sich zurecht von Labour verraten fühlen. Weder die EU noch eine national-souveränistische Positionierung können im Interesse der arbeitenden Klasse sein.