Jîn Jîyan Azadî – aber warum erst jetzt?

17.10.2022, Lesezeit 7 Min.
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Bild: Achim Wagner / shutterstock.com

Was sich hinter der Fassade bürgerlicher Politiker:innen versteckt, wenn sie die Parole:"Jîn Jîyan Azadî!", anstimmen.

Die Proteste im Iran werden täglich härter mit repressiver Staatsgewalt niedergeschlagen. Doch die Protestierenden lassen sich kein bisschen unterkriegen. Ganz im Gegenteil: Es werden von Tag zu Tag mehr und mehr Menschen, sowohl im Iran, als auch international. Proteste in Deutschland in Solidarität mit Jîna Amînî, der kurdischen Frau, die von der iranischen Polizei getötet wurde, fanden bundesweit mit mehreren tausend Teilnehmer:innen statt.

Auch vonseiten europäischer Politiker:innen gab es natürlich Reaktionen, denn um ein paar Stimmen hier und da abzustauben und sich international als Verbündete der feministischen Bewegung zu etablieren, darf ein bisschen Solidarität mit Protestierenden nicht fehlen. So spricht auch bspw. Giorgia Meloni, die Vorsitzende und Spitzenkandidatin der rechten Partei Fratelli d’Italia in Italien, über ihre Solidarität mit den protestierenden Frauen im Iran im Kampf gegen das reaktionär-bürgerliche Regime. Ebenso äußert sich Grünen-Politikerin Annalena Baerbock darüber, wie schlimm Staatsgewalt und Repression im Iran seien und bekundet ihre Solidarität mit den iranischen Frauen.

Treibend Kraft der Proteste im Iran sind von Beginn an kurdische Menschen, die seit Jahrzehnten sowohl im Iran, als auch im Irak, in Syrien und in der Türkei unterdrückt werden. Umso stärker wirkt die Doppelmoral einer Solidaritätsbekundung von deutscher Seite, während Rüstungsexporte u. a. in die Türkei stattfinden. Die Türkei ist Aggressor und größte kriegstreibende Kraft gegen die kurdische Freiheitsbewegung, die unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung seit mehreren Jahren wieder aktiv und regelmäßig versucht wird, zu zerschlagen. Um sich dafür nötiges Material zu beschaffen, nutzt sie die Rüstungsindustrie Deutschlands, und wurde zum wichtigsten Abnehmer deutscher Waffen.

Unzählige Boden- und Luftangriffe auf kurdische Dörfer und Städte u.a. in Kobanê, Qamishlo, Hewlêr, Silêmani und Helepçe wurden vom türkischen Militär ausgeführt. Angebliche PKK-Ziele wurden angegriffen, die sich jedoch oftmals als Wohngebiete von Zivilist:innen herausstellten. Unter den Opfern des türkischen Terrors sind nicht selten Kinder und Frauen. International bekommt die Repression kurdischer Menschen in der Türkei und die Kriegspolitik gegen Kurdistan jedoch nicht die Aufmerksamkeit, die bspw. die Proteste im Iran bekommen. Auch hat die Türkei eine massive Femizidrate, die sich nach dem Austritt aus der Istanbul-Konvention sogar noch verschlimmert hat. Allein zwischen Januar und April wurden 97 offizielle Femizide verzeichnet. Im Jahr 2019 wurden über 430 Femizide verübt. Die Täter wurden oftmals nicht oder schwach bestraft und teilweise sogar von Staat und Justiz widerwärtig in Schutz genommen.

Auch was die Umsetzung der rassistischen Migrationspolitik der deutschen Bundesregierung angeht, hat sich die Türkei bisher als guter Partner der europäischen Grenzpolitik gezeigt. Der türkische Staat hat eine große Menge von Geflüchteten am Überqueren der türkischen Ostgrenzen gehindert und damit am Übertritt der europäischen Grenzen zu Griechenland aufgehalten. Die Türkei ist auch ebenso ein bedeutendes Mitglied und eines der militärisch stärksten Länder der NATO. Deshalb kann man bei der Türkei scheinbar auch mal ein oder zwei Augen zudrücken, damit Geflüchtete es gar nicht bis zu den EU-Grenzen schaffen und die Kassen der Waffenlobby weiter klingeln.

Wir erinnern uns auch an Zehntausende Menschen, die bei der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan versuchten zu flüchten. Die Bilder von Menschen, die sich an Flugzeugturbinen festhalten und vom Himmel fallen, spiegeln die Hoffnungslosigkeit der Menschen eines Landes wider, das bereits Jahrzehnte unter den USA und der 20-jährigen Besatzung gelitten hat. Wir wissen alle um die Situationen der Frauen und Kinder in Afghanistan, die unter dem Taliban-Regime nicht einmal mehr allein das Haus verlassen dürfen. Auch die Ortskräfte, die Deutschland während ihrer Besatzung ausnutzte, sind mittlerweile zum Großteil von der Taliban getötet worden. Eines von vielen leeren Versprechen Deutschlands, wenigstens diese Menschen und ihre Familien schnellstmöglich in Sicherheit zu bringen, beweist nur nochmal deutlich, dass Versprechen von Staaten keinerlei Bedeutung haben, solange sie nicht dem Profit des Staates oder der Konzerne dienen.

Jîn Jîyan Azadî bedeutet „Frauen, Leben, Freiheit“. Ein Ausdruck, der mit viel Geschichte, Schmerz und auch Hoffnung der kurdischen Freiheitsbewegung verbunden ist. Dass dieser Ausdruck in den letzten Tagen und Wochen inflationär von liberalen oder gar rechten Politiker:innen ausgenutzt und missbraucht wird, ist schamlos und tritt all die verlorenen Leben in all den Kämpfen von kurdischen Freiheitskämpfer:innen mit Füßen. Und erst recht, wenn es von einer Baerbock und ihrem Verständnis von “feministischer” Außenpolitik kommt und sich zynischer Weise mit der Parole auf dem Bundesparteitag ablichten lässt.

Solidarität ist nicht, einmal im Halbjahr revolutionäre Ausdrücke für sich zu beanspruchen und im selben Atemzug Sanktionen verhängen, während sich gleichzeitig die Kassen der deutschen Kriegs- und Waffenlobby füllen. Sanktionen schaden nicht Staaten und Regierungen, sondern immer nur der Arbeiter:innenklasse. Die müssen am Ende für die durch die Sanktionen verlorenen Staatseinnahmen aufkommen, bspw. durch höhere Lebensmittel- und Lebenshaltungskosten. Wichtig ist auch zu beachten, wann und wem Deutschland Sanktionen und Waffenembargos verhängt, denn diese gab es bspw. niemals in diesem Ausmaß gegenüber der Türkei, da die Türkei wie bereits erwähnt der größte Abnehmer deutscher Waffen ist.

Solidarität heißt, für die Kämpfer:innen einzustehen und sich mit ihnen zu verbünden, im Kampf gegen Patriarchat und Kapitalismus. Auf die Straßen zu gehen für Jîna Amini, die durch exzessive Polizeigewalt in Gewahrsam getötet wurde. Für Nika Shakarami und Sarina Esmailzadeh, deren tote Körper erst nach Tagen des Protests gefunden wurden. Für alle Studierenden, Überlebenden und Opfer an der Sharif Universität, deren Verbleib größtenteils immer noch unklar ist.

Aber auch für alle kurdischen Kämpfer:innen, die diesen Kampf seit Jahrzehnten führen. Für Abdullah Öcalan und Selahattin Demirtas, die wegen ihres Kampfes für kurdisches Recht eingesperrt gehalten werden. Für die unzähligen Attentate auf kurdische Politiker:innen und Aktivist:innen, die ihr Leben dem Kampf um ihre Freiheit widmeten. Für Ivana Hoffmann, die mit 20 Jahren an der Seite der YPG kämpfte und getötet wurde. Und für alle getöteten Frauen und Kinder, die sich nichts anderes wünschen als ein freies Leben in Freiheit und Sicherheit.

Wir fordern sofortige Beendigung jeglicher Interventionen des Imperialismus im Iran, sowohl militärisch als auch wirtschaftlich. Das Regime im Iran kann nur durch das Bündnis von Arbeiter:innenklasse und den unterdrückten Teilen der Gesellschaft und Völker gestürzt werden. Dieses Bündnis muss international sein und alle Arbeiter:innen der Welt im Kampf gegen Kapitalismus und Patriarchat vereinen. Vollständige Befreiung der Frauen im Iran bedeutet auch Kampf gegen die Einflussnahme von imperialistischen Mächten, die sich immer nur wegen ihres Machtineresses einmischen.

Jîn! Jîyan! Azadî!

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