Jenseits der „bürgerlichen Restauration“ (Teil 3)
Fünfzehn Thesen zur neuen Etappe der internationalen Situation. Dreiteilige Reihe von Matías Maiello und Emilio Albamonte in Auseinandersetzung mit dem italienischen Soziologen Maurizio Lazzarato. Teil 3: Klassenkampf: Zwei Strategien in der Linken.
Wir veröffentlichen hier einen dreiteiligen Beitrag von Matías Maiello und Emilio Albamonte zur neuen Etappe der internationalen Situation in Auseinandersetzung mit Maurizio Lazzarato und der Diskussion über die Natur des Kriegs in der Ukraine. Der Text wurde zuerst am 5. Februar 2023 auf Spanisch bei Ideas de Izquierda veröffentlicht und versteht sich als Beitrag für die Debatten auf der nächsten Konferenz der Trotzkistischen Fraktion für die Vierte Internationale, die in den kommenden Monaten stattfinden wird. Der vorliegende Teil 3 schließt den Beitrag ab. Zuvor erschienen bereits Teil 1 und Teil 2.
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Teil 3: Zwei Strategien in der Linken
These XIII. Es geht nicht um „Klassenkämpfe“ im Plural (Arbeiter:innen/Kapitalist:innen, rassifiziert/weiß, Männer/Frauen usw.), sondern um einen einheitlichen Kampf, dessen gegnerischer Schwerpunkt der kapitalistische Staat ist. Die Artikulation der Arbeiter:innenklasse (und ihrer strategischen Positionen) mit den Bewegungen ist eine Voraussetzung, um diesen Kampf zu führen.
In den Schlussfolgerungen seines Buches Te acuerdas de la revolución? („Erinnerst du dich an die Revolution?“), das im Italienischen den Titel L’intollerabile presente, l’urgenza della rivoluzione („Die unerträgliche Gegenwart. Notwendigkeit der Revolution“) trägt, fasst Lazzarato einige zentrale Probleme zusammen, die für eine strategische Artikulation in der Aktualität zentral sind: „Das Triptychon Klasse, race, Geschlecht (zu dem die Ökologie hinzugefügt werden kann) läuft Gefahr, trivialisiert zu werden: in den Lehrplänen der Universitäten, in den neuen kulturellen Gütern oder in harmlosen Anrufungen (das Gemeinsame, die ‚Fürsorge‘, die Beziehung zu sich selbst, die Verteidigung der ‚Natur‘ usw.). Die Gefahr ist doppelt: Erstens die Trennung der rassifizierten und geschlechtlichen Klassenkämpfe von den „wirtschaftlichen“ Klassenkämpfen, wobei erstere in „liberale“ Kämpfe (Anerkennung, Gleichheit, Rechte usw.) umgewandelt werden, welche der Staat und die Unternehmen in ihre Politiken der Differenz aufzunehmen bereit sind. Die zweite Gefahr ist die Trennung der Klassenkämpfe von der Revolution.“1
Die Frage ist, wie man diesen Gefahren begegnen kann, auf die der Autor zu Recht hinweist. In dem oben genannten Buch versucht Lazzarato, die objektiven und subjektiven Bedingungen für einen Bruch mit dem Kapitalismus und anderen Formen von Herrschaft und Ausbeutung zu rekonstruieren. Die erste Bedingung bestünde darin, den Übergang vom „Klassenkampf“ (Kapital und Arbeit) zu „Klassenkämpfen“ zu begreifen. In Guerras o Revolución stellt er fest, dass die Geschichte des Kapitalismus von Anfang an von einer Vielzahl von Kriegen durchzogen und konstituiert ist: Kriege der Klasse(n), der race(s), des Geschlechts (der Geschlechter), der Subjektivität(en). „‚Kriege‘, und nicht der Krieg, sind unsere […] These. […] Kriege, nicht nur Klassenkriege, sondern auch militärische, zivile, geschlechtliche und race-Kriege, sind so konstitutiv in die Definition des Kapitals integriert, dass es notwendig wäre, Das Kapital von vorne bis hinten neu zu schreiben, um ihre Dynamik in ihrer realsten Funktionsweise zu erfassen.“2
In der Tat ist die Frage, welchen Krieg oder welche Kriege wir führen, die erste Frage einer jeden Strategie. Andererseits besteht eine der grundlegenden strategischen Fragen darin, wie die verschiedenen Kämpfe und Bewegungen miteinander artikuliert werden können, zu denen heute die mächtige Frauenbewegung auf internationaler Ebene, antirassistische Bewegungen von internationaler Bedeutung (wie die Revolte von 2021 zeigte) wie Black Lives Matter, die globale Bewegung gegen den Klimawandel usw. gehören. Gleichzeitig zeichnen sich in der Arbeiter:innenbewegung erste, aber wichtige Phänomene ab, wie z.B. die Entstehung der „Generation U“ in den USA (prekäre Jugend), aber auch Prozesse in traditionelleren Sektoren der Arbeiter:innenbewegung, wie z.B. die Streiks in Europa in diesem Jahr als Folge der Auswirkungen des Krieges. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Vorstellung von mehreren gleichzeitigen Kriegen – über die theoretischen Debatten, die sie impliziert, hinaus – kaum sinnvoll.
Zunächst einmal stellt sich das Problem, was wir mit „Klassenkampf“ im Singular meinen. Der Ausgangspunkt für die Ersetzung des Begriffs „Klassenkampf“ durch „Klassenkriege“ im Plural beruht auf einer stereotypen und vereinfachten Vorstellung vom Klassenkampf als solchem, die ihn mit der Konfrontation zwischen Arbeiter:innen und Unternehmer:innen gleichsetzt. Diese Gleichsetzung ist genau der Reduktionismus, gegen den Lenin in Was tun? polemisiert hat, und ist einer der Knotenpunkte, die eine hegemoniale und politische Perspektive des Marxismus ausmachen. „Das politische Klassenbewusstsein“, so Lenin, „kann dem Arbeiter nur von außen gebracht werden, das heißt aus einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern. Das Gebiet, aus dem allein dieses Wissen geschöpft werden kann, sind die Beziehungen aller Klassen und Schichten zum Staat und zur Regierung, sind die Wechselbeziehungen zwischen sämtlichen Klassen.“3 Ganz ähnliche Überlegungen könnte man – mit den notwendigen Unterschieden je nach Fall – zu den verschiedenen Bewegungen anstellen: im Falle der antirassistischen Bewegungen wäre es, über die Konfrontation rassifiziert/weiß hinauszugehen; im Falle der Frauen, über die Konfrontation Männer/Frauen hinauszugehen; usw.
Lazzaratos historische Grundlage für seine These lautet: „Der Mai ’68 steht im Zeichen des politischen Wiederauflebens der Klassen-, race-, Geschlechter- und Subjektivitätskriege, die die ‚Arbeiter:innenklasse‘ nicht mehr ihren ‚Interessen‘ und ihren Organisationsformen (Parteien-Gewerkschaften) unterordnen konnte“4. Der Arbeiter:innenklasse im Laufe der Geschichte eine solche Bilanz zuzuschreiben – was durchaus üblich ist –, ist ein soziologischer Reduktionismus. Eine strategische Reflexion über das oben genannte Problem würde bedeuten, die Bilanz ihrer konkreten Parteien und Gewerkschaften anzugehen, welche zu dieser Zeit noch einen großen stalinistischen Einfluss hatten. Dieser spielte beispielsweise eine grundlegende Rolle bei der Trennung der Arbeiter:innenbewegung von der Studierendenbewegung im französischen Mai 1968. Aber über den konkreten Fall hinaus spielen die Gewerkschaftsbürokratien sowie der Bürokratien der Bewegungen eine Schlüsselrolle, nämlich die Rolle einer „politischen Polizei mit investigativem und präventivem Charakter“ (Gramsci). Ohne dies ist es schwierig, die Ergebnisse der Revolten der letzten Jahre und die Tatsache zu verstehen, dass es ihnen nicht gelungen ist, das Ökosystem der bürgerlichen Regime zu durchbrechen.
Zweitens: Das andere Problem ist, was wir unter „Klasse“ verstehen. In seinen Ausführungen übernimmt Lazzarato beispielsweise aus dem „materialistischen Feminismus“ von Christine Delphy den Begriff der „geschlechtlichen Klassen“, welche die Frauen als eine Klasse versteht, die der Macht der Klasse der Männer unterworfen ist. Einen ähnlichen Ansatz wird er bezüglich der „Klasse“ der „Rassifizierten“ im Gegensatz zur Klasse der Weißen haben. Gegenüber dieser Art von Annahmen stellte beispielsweise der black feminism den Vorrang der sexuellen oder geschlechtlichen Unterdrückung vor der Unterdrückung durch race und Klasse in Frage. Sie wandten sich gegen die offen separatistischen oder „Geschlechterkrieg“-Tendenzen, welche im Feminismus der späten 1970er Jahre stärker wurden (den sie als eine Bewegung definierten, die von den Interessen weißer Frauen aus der Mittelschicht angetrieben wurde). Sie argumentierten auch, dass jede Art von biologistischer Identitätsbestimmung zu reaktionären Positionen führen könnte5. „Auch wenn wir Feministinnen und Lesben sind“, heißt es beispielsweise im Manifest des Combahee River Collective, „sind wir solidarisch mit progressiven Schwarzen Männern und setzen uns nicht für eine von weißen Separatistinnen geforderte Abspaltung ein.“
Keaanga-Yamahtta Taylor hat Recht, wenn sie sagt: „In den USA ist die Arbeiter:innenklasse weiblich, migrantisch, Schwarz, weiß, lateinamerikanisch und mehr. Fragen der Migration, der Gleichstellung und des Antirassismus sind Fragen der Arbeiter:innenklasse.“6 Heute ist es sehr schwierig, die Entstehung der Generation U in der nordamerikanischen Arbeiter:innenbewegung zu verstehen, ohne ihre Verflechtung mit der Entwicklung der Black-Lives-Matter-Bewegung oder den breiten Protagonismus von Frauen und LGTBQ+ in der Avantgarde beider Bewegungen zu sehen. Auch soziologisch gesehen ist das Gewicht der Schwarzen unter den prekären Jugendlichen (Fast Food, Walmart, Amazon) von entscheidender Bedeutung. Diese Phänomene, die Teil des Neuen im internationalen Klassenkampf sind, zeigen, dass die Zersplitterung zwischen verschiedenen Kriegen – nicht als Ziel, denn Lazzarato formuliert es nicht so, sondern sogar als Ausgangspunkt – in gewisser Weise das Alte ausdrückt. Für die Arbeiter:innenklasse ist es unerlässlich, all diese Forderungen in einem hegemonialen Programm zu artikulieren7. Die Idee der „Klassenkriege“ verweist auf eine prozessuale Summe der Widerstände, die uns von den strategischen Problemen entfernt, welche die Fragmentierung der Massenbewegung aufwirft.
Drittens stellt sich auch die Frage, was wir unter dem Begriff „Kampf“ verstehen. Der Klassenkampf zwischen der Arbeiter:innenklasse und den Kapitalist:innen im Sinne von Marx und Engels, Lenin, Trotzki, Luxemburg, Gramsci usw. ist „unversöhnlich“. Würden wir dieses Adjektiv auf die Konfrontation zwischen „Rassifizierten“ und Weißen, Männern und Frauen ausdehnen, wären wir näher an einer Hobbes’schen Karikatur eines Kampfes aller gegen alle als an einer Revolution. In ihrem Buch mit dem Titel Der Krieg gegen Frauen schlägt Rita Segato aus einer nicht-marxistischen Perspektive einen alternativen Ansatz vor, der erwähnenswert ist. Sie stellt fest: „Ein Teil der Bewegung, insbesondere in Anlehnung an Catharine MacKinnon, spricht von einer Kontinuität von Kriegsverbrechen und Friedensverbrechen, […] behauptet, dass die Vergewaltigungspraxis in den heutigen Kriegen, in den neuen Formen des Krieges, eine Verlängerung und Erweiterung der häuslichen Erfahrung ist, dessen, was zu Hause geschieht. […] Meine Position ist nicht, dass die Formen des Krieges in diesen Gegenden eine Kontinuität des häuslichen Lebens darstellen, sondern im Gegenteil, dass es eben die Form des Krieges ist, die sich auf die Zerstörung der Körper der Frauen konzentriert und damit das gemeinschaftliche Vertrauen zerstört.“8
Im Gegensatz zu den Perspektiven, die auf einer Polarisierung zwischen Mann und Frau auf der Grundlage der primären Unterdrückung durch geschlechtliche Gewalt beruhen, eröffnet Segato die Diskussion darüber, wie man der patriarchalen Gewalt in ihrer systemischen Realität entgegentreten kann. Sie schlägt vor, einen „Feminismus des Feindes“ zu überwinden, und präsentiert eine Perspektive der „Neuknüpfung der Gemeinschaft“. „Die Gemeinschaft neu zu knüpfen“, sagt sie, „bedeutet, sich in ein historisches Projekt zu begeben, das gegenüber dem historischen Projekt des Kapitals abweichende Ziele anstrebt.“9 Aus der Sicht des Klassenkampfes (Singular) gibt es so etwas wie Gemeinschaft nicht (die Gesellschaft ist in unversöhnliche Klassen gespalten), doch es ist nicht schwer, diese Idee auf das Bestreben zu übertragen, die Bande innerhalb der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten wieder zu knüpfen, die der Kapitalismus ständig zerstört, aber auch zu reproduzieren gezwungen ist.
Wie Lazzarato hervorhebt, besteht ein grundlegendes Hindernis darin, dass die Kriege der Klassen, Geschlechter und races tiefe Spaltungen innerhalb des Proletariats hervorrufen, welche die herrschenden Klassen für ihre Herrschaft nutzen10. Daher ist „die Neutralisierung dieser Spaltungen die Bedingung für den Übergang von Machtbeziehungen zu strategischen Beziehungen, für die Fähigkeit zum Widerstand und zum Angriff, für die Akkumulation und die Ausübung von Gewalt, für die Prozesse der Subjektivierung“11. Die Strategie dafür hat jedoch eine viel tiefere Grundlage als nur den „Aufbau revolutionärer Verbindungen“ zwischen den Multiplizitäten. Es besteht die Möglichkeit, einen einheitlichen „Krieg“ strategisch zu denken und zu artikulieren, der auf dem systemischen Charakter der geschlechtlichen, sexualisierten, rassistischen Unterdrückung, der Ausbeutung, des imperialistischen Jochs usw. beruht. Und nicht nur besteht diese Möglichkeit, sondern ihre Umsetzung ist ein wesentliches Element für die Möglichkeit eines revolutionären Triumphs.
In strategischer Hinsicht besteht das Problem darin, den Schwerpunkt des Gegners zu ermitteln und die Kräfte auf ihn zu konzentrieren. Wie Clausewitz sagte: „Es gibt sehr wenig Fälle, […] wo diese Reduktion mehrerer Schwerpunkte auf einen ohne Realität wäre. Wo dies aber nicht ist, bleibt freilich nichts übrig, als den Krieg wie zwei oder mehrere zu betrachten, wovon jeder sein eigenes Ziel hat. Da dieser Fall die Selbständigkeit mehrerer Feinde, folglich die große Überlegenheit aller voraussetzt, so wird darin von Niederwerfung des Gegners überhaupt nicht die Rede sein können.“12 Wenn wir von diesem strategischen Prinzip ausgehen, bedeutet die Annahme, dass es unmöglich ist, sich auf einen einzigen Klassenkampf zu konzentrieren (in dem oben genannten Sinne, nicht in dem vulgären Sinne, der ihn auf die Konfrontation zwischen Arbeiter:innen und Bossen reduziert), dass wir die Möglichkeit eines Sieges im Voraus aufgeben.
In diesem Sinne geht die Frage über den Widerstand gegen diffuse Machtverhältnisse hinaus. Sie wirft die Frage nach dem kapitalistischen Staat auf, als dem Punkt, an dem diese Macht- und Kräfteverhältnisse verknüpft und koordiniert werden, und nicht als „nur“ ein weiteres Machtverhältnis. Nachdem dieser Schwerpunkt des Gegners bestimmt wurde, geht es nicht darum, einer abstrakten Arbeiter:innenklasse „Bewegungen“ oder „Identitäten“ entgegenzusetzen, auch wenn die herrschende Ideologie mit allen Mitteln versucht, die Situation auf diese Weise darzustellen. Es geht darum, die Arbeiter:innenklasse mit den Kämpfen der „Bewegungen“ zu verbinden. Denn die Arbeiter:innenklasse nimmt die zentrale Rolle in der Produktion und Reproduktion der Gesellschaft ein und verfügt über die „Feuerkraft“ von „strategischen Positionen“, die in der Lage sind, sie lahmzulegen13; jedoch wurde sie durch den Neoliberalismus stark zersplittert. Die „Bewegungen“ wiederum haben trotz der großen Mobilisierungsfähigkeit, die verschiedene Kämpfen der letzten Jahre in verschiedenen Ländern bewiesen haben, nicht die Kraft, die Kapitalist:innen und ihren Staat zu besiegen. Aber gleichzeitig ist die organisierte Arbeiter:innenklasse ohne die „Bewegungen“ (der Frauen, gegen rassistische Unterdrückung, soziale und ökologische Bewegungen usw.) dazu verurteilt, zersplittert zu bleiben und nur partielle Verbesserungen für einige ihrer „wohlhabendsten“ Sektoren zu fordern14.
These XIV. In der Linken gibt es zwei Strategien: Die eine besteht darin, Fortschritte innerhalb des (kapitalistischen) Staates zu machen, die andere hat die Entwicklung von Institutionen der Selbstorganisation zum Ziel, um eine alternative Macht zu schaffen. Die Überwindung der „staatsbürgerlichen“ Formen der Revolte ist unerlässlich für eine Strategie der Selbstorganisation auf der Grundlage von Räten/Sowjets, die den bürgerlichen Staat besiegen können.
Betrachtet man den Verlauf vieler Revolten der letzten Zeit und die demobilisierende Rolle, die politische Formationen wie Syriza, Podemos, Boric usw. sowie die Bürokratien der Gewerkschaften und Bewegungen gespielt haben, so wird deutlich, dass das wichtigste strategische Problem darin besteht, zu verhindern, dass diese Bewegungen zu einer Manövriermasse für neoreformistische oder „linkspopulistische“ Politik werden oder sich auf bloßen Widerstand beschränken. Lazzarato wirft ein ähnliches Problem auf, wenn er feststellt, dass die Frage „Gegenstand von Experimenten in zeitgenössischen Bewegungen ist. Es geht nicht um eine neue allgemeine Demokratie, sondern um die Erfindung von antikapitalistischen demokratischen Kriegsmaschinen, die in der Lage sind, Bürger:innenkriege und den Kampf an der Front ihrer Subjektivierungen als strategische Aufgaben zu übernehmen.“15
Die Frage ist nun wieder, wie. Im Übergangsprogramm fragte Trotzki: „Wie sind diese verschiedenen Forderungen und Kampfformen in Einklang zu bringen, sei es auch nur in den Grenzen einer einzigen Stadt?“ In seiner Antwort sagte er: „Die Geschichte hat auf diese Frage bereits eine Antwort gegeben: durch Sowjets, die die Vertreter aller kämpfenden Schichten vereinen. Niemand hat bisher eine andere Organisationsform vorschlagen können, und es ist zweifelhaft, daß man eine finden kann. Die Sowjets sind a priori an kein Programm gebunden. Sie öffnen allen Ausgebeuteten ihre Türen. Die Vertreter aller Schichten, die in den allgemeinen Strom des Kampfes hineingezogen werden, finden Eingang in sie. Die Organisation erweitert sich mit der Bewegung und erneuert sich dadurch ständig. Alle politischen Richtungen des Proletariats können um die Führung der Sowjets auf der Basis der breitesten Demokratie kämpfen.“16
Diese Perspektive wirft bereits einen wichtigen Kampf der Strategien auf. In Te acuerdas de la revolución? („Erinnerst du dich an die Revolution?“) geht Lazzarato wie folgt darauf ein: „Die revolutionäre Tradition hat verschiedene Strategien verfolgt: die Macht zu ergreifen und den Staat zu benutzen, um die Bewegung und den Wandel zu lenken, wie in der leninistischen Tradition, oder den Staatsapparat durch Selbstorganisation zu zerlegen, wie in der Erfahrung der Pariser Kommune. Im Moment scheint die Revolte selbst die einzige kommunizierbare und reproduzierbare Aktionsform zu sein. Die Verweigerung der ‚Machtergreifung‘ hat keine autonomen Organisationsprozesse als Alternative hervorgebracht.“17 Auf diese Weise eröffnet er einen Gegensatz zwischen verschiedenen Formen des „Sozialismus von oben“, zu denen er eine allgemeine „leninistische Tradition“ zählt, und der Perspektive, die sich aus der Erfahrung der Kommune ergibt (wobei er die Idee der „Nicht-Machtübernahme“ verwirft)18.
Im Namen der „leninistischen Tradition“ ist vieles gesagt und getan worden (einschließlich ihrer Verfälschung und Instrumentalisierung, um den Stalinismus zu rechtfertigen). Aber was Lenin angeht, gibt es diesen Gegensatz als solchen nicht. In Staat und Revolution, seinem Hauptwerk über die marxistische Staatstheorie in Verbindung mit den Problemen der revolutionären Strategie, wird die Pariser Kommune als Wendepunkt (wie bei Marx und Engels) dargestellt, als die „endlich entdeckte politische Form“ zur Lösung des Problems, dass die Arbeiter:innenklasse den bürgerlichen Staatsapparat nicht zum Aufbau des Sozialismus nutzen kann, sondern ihn zerstören und ihre eigene Macht schmieden muss. In der Genealogie, die Lenin nachzeichnet, gelangt er schließlich zu den Sowjets/Räten (ein letztes unvollendetes Kapitel, weil es noch in der Erfahrung der Russischen Revolution selbst geschrieben wurde). Bereits in der Russischen Revolution von 1905 bezog Lenin die Sowjets rasch in seine Konzeption der revolutionären Politik ein, da er in ihnen eine neue, von der Massenbewegung entwickelte politische Praxis sah, die der bürgerlichen politische Praxis entgegengesetzt war und die es ermöglichte, die verschiedenen Forderungen und Kampfformen in neuen Institutionen der Selbstorganisation zu artikulieren, um eine alternative Macht zu schaffen.
Das Problem ist, dass diese „zwei Strategien“, auf die Lazzarato hinweist, nicht danach unterschieden werden können, ob sie sich auf die Pariser Kommune beziehen ist oder nicht, weder heute noch zu Lenins Zeiten. Der bolschewistische Anführer sagte: Die Kommune feiern „alle jene mit dem Munde, […] die als Sozialisten gelten wollen“, aber sie „vergessen […] die konkrete Erfahrung und die konkreten Lehren der Pariser Kommune und wiederholen das alte bürgerliche Gerede über die ‚Demokratie überhaupt'“19. Seitdem hat sich diese Operation noch weiter ausgebreitet. Seit der Russischen Revolution, seit Kautsky – für den die Macht der Sowjets das Gegenteil der durch allgemeine Wahlen gewählten Gemeinderäte der Kommune war – gab es systematische Versuche, die Kommune der Sowjetrepublik entgegenzusetzen. Die Achse dieser Operationen war stets die Abwertung des Bruchs im Klassencharakter und die Herstellung institutioneller Kontinuität mit den parlamentarischen Mechanismen der bürgerlichen Demokratie. Mit anderen Worten, es ging darum, die von Lazzarato erwähnten „zwei Strategien“ zu vermengen. Lektüren wie die des späten Poulantzas, Antoine Artous oder in jüngerer Zeit Lars Lih sind Beispiele in diesem Sinne20.
Nun, Lazzaratos Grundlage seine Gegenüberstellung zwischen der Strategie Lenins und der der Kommune könnte in seiner folgenden Aussage zusammengefasst werden: „Die Schlussfolgerung, zu der Lenin in einem Artikel vom April 1911, ‚Dem Andenken der Kommune‘, gelangt, schwört letztlich den Marxismus in seiner Gesamtheit auf den Weg der Entwicklung und des Klassenbewusstseins der Arbeiter:innenpartei ein, welche allein in der Lage sein würde, der gegnerischen Partei von Macht zu Macht entgegenzutreten. Im Text: ‚Zur siegreichen sozialen Revolution bedarf es mindestens zweier Vorbedingungen: die Entwicklung der Produktivkräfte muss eine hohe Stufe erreicht haben und das Proletariat muss vorbereitet sein. 1871 fehlten jedoch diese beiden Vorbedingungen.'“21 In der Tat kritisierte Lenin die von den Anführer:innen der Kommune verfolgte Strategie, was aber nicht bedeutet, dass er ihr den Einsatz des (bürgerlichen) Staates entgegenstellte, „um die Bewegung und den Wandel zu lenken“, wie Lazzarato meint. Im Gegenteil, seine Kritik ging in die entgegengesetzte Richtung.
Trotzki entwickelt 192122 das von Lenin 1911 vorgebrachte Argument über die Bedeutung der Partei noch radikaler weiter, da er dem objektiven Problem der „Entwicklung der Produktivkräfte“ bei der Beurteilung des möglichen Erfolgs der Kommune nicht einmal ein grundlegendes Gewicht beimisst. Sein ganzer Schwerpunkt liegt auf der Bilanz der Strategie, auf der Analyse der Bedingungen für den Sieg. Wie Daniel Bensaïd in seiner Kritik des 68er-Denkens feststellte: „Wenn die Strategie in der ‚Wahl von Lösungen besteht, die den Erfolg sichern‘, und wenn die Ernüchterung der Epoche zu der Schlussfolgerung führt, dass eine Lösung, die den Erfolg sichert, nicht möglich ist, hat der auf Null reduzierte Begriff der Strategie keinen Sinn mehr“23. Mit anderen Worten: Um die strategische Tradition des 20. Jahrhunderts wiederzubeleben, ist die Wiederaufnahme dieses Blickwinkels unumgänglich.
Wie lautete Trotzkis Einschätzung? Kurz gesagt, die Anführer:innen der Kommune opferten ihre Chancen auf ein Bündnis mit den Bäuer:innen (Marx glaubte, dass dies in drei Monaten freien Kontakts mit den Provinzen hätte erreicht werden können24) für einen vermeintlichen Schirm der formalen Legalität im bürgerlich-demokratischen Sinne (trotz ihrer formalen Illegalität, da es sich um einen kommunalen Aufstand handelte, während sich die provisorische Regierung auf die in allgemeinen Wahlen gewählte Nationalversammlung stützte25). Worin drückte sich das aus? Das Zentralkomitee der Nationalgarde – das bereits ein von allen Pariser Massen anerkanntes demokratisches Organ war, Trotzki vergleicht es mit den Sowjets – hatte am 18. März die Macht in der Stadt ergriffen und beschloss, anstatt sofort auf Versailles zu marschieren (Marx‘ Kritik), Wahlen zur Kommune auszurufen und dann die Macht an die Kommune zu übergeben, In dieser Zeit gingen zwei wichtige Wochen verloren, Paris blieb isoliert (vor allem von den Bäuer:innen) und die Kommune verfiel in eine strategische Unentschlossenheit, die es der Regierung Thiers ermöglichte, sich neu zu formieren und später einen Gegenangriff zu starten26.
Unter diesem Gesichtspunkt machen die „antikapitalistischen demokratischen Kriegsmaschinen“, auf die sich Lazzarato bezieht, aus strategischer Sicht durchaus Sinn, wenn sie im Sinne der Niederschlagung des kapitalistischen Staates als Voraussetzung für einen revolutionären Sieg artikuliert werden. Diese Debatte ist auch heute noch von grundlegender Bedeutung, wenn es um die Revolten der letzten Jahre geht. Ein charakteristisches Element vieler dieser Revolten war die Besetzung der Plätze27, vom Tahrir-Platz in Ägypten und der Puerta del Sol in Madrid im Jahr 2011 über den Taksim-Platz in der Türkei (2013) oder den Platz der Republik in Paris (2016) bis hin zur Plaza Italia in Chile im Jahr 2019. Lazzarato wie auch andere Autor:innen28 behandeln sie in ihrer Neuartigkeit, aber losgelöst von dieser strategischen Frage. Der italienische Autor, der sich auf die Ausführungen von Asef Bayat stützt, behauptet: „Zunächst einmal ist festzustellen, dass während des Aufstandes natürlich weder Fabriken noch Universitäten besetzt werden, sondern die Plätze. Die Straßenpolitik wird logischerweise zur Politik des Platzes. Die proletarische Vielfalt der ‚freien, informellen und prekären Arbeit‘ scheint eine politische Hegemonie auszuüben, die sich, ausgehend von der urbanen, metropolitanen Realität, nicht nur in den arabischen Ländern, sondern in der ganzen Welt etabliert hat“29.
Doch gerade das Primat der atomisierten „staatsbürgerlichen“ Formen, die sich in „den Plätzen“ gewissermaßen verdichtete, hat in den jüngsten Prozessen eine erfolgreiche Konfrontation mit dem Staatsapparat verhindert und diesem erlaubt, innerhalb der Bewegungen – und sogar geografisch – diejenigen voneinander zu trennen, die man die „absoluten“ und „relativen“ Verlierer:innen der Globalisierung nennen könnte. Eine Spaltung, auf die sich die Bourgeoisie, der Staat und die Medien bei ihren Versuchen stützen, die Proteste zu kanalisieren und zu unterdrücken, indem sie die vermeintlich „guten“, „legitimen“ Demonstrant:innen von den „gewalttätigen“ und „unzivilisierten“ unterscheiden. Für erstere besteht die Möglichkeit, irgendein Zugeständnis auszuprobieren, um sie von der Straße zu holen, um letztere zu isolieren und zu kriminalisieren. Ein Vorgang, der sich in jedem der Prozesse wiederholt und welcher zentral dafür ist, sie zu zermürben, sie zu deaktivieren oder sie direkt vorzeitig zu besiegen und ihre Weiterentwicklung zu revolutionären Bewegungen zu verhindern.
Daher stammt die Wichtigkeit, Koordinationsinstanzen und Organe der Selbstorganisation zu entwickeln, die perspektivisch der Keim für künftige Räte, für eine alternative Macht der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten sein können. Diese Organe sind, auch in ihrer anfänglichen Form, von grundlegender Bedeutung dafür, dass die fortschrittlicheren Sektoren der Bewegung auf die rückständigeren Einfluss nehmen können, und um dem Vorgehen des Regimes entgegenzuwirken, welches sich gerade die durch die Zersplitterung entstandenen Lücken zunutze macht. Außerdem sind sie wichtig, um die Perspektiven von Taktiken wie der Einheitsfront („vereint schlagen, getrennt marschieren“) gegenüber der Bürokratie zu stärken, um die Aktionseinheit der Arbeiter:innenbewegung und Maßnahmen wie den politischen Generalstreik durchzusetzen (ein kleines Beispiel dafür war z. B. die Rolle des Streiks des 12. Novembers 2019 in Chile30). Und zugleich, um die „strategischen Positionen“ mit dem Territorium, die Gewerkschaften mit den „Bewegungen“, die Jugend mit den übrigen Arbeiter:innen usw. zu artikulieren sowie die Selbstverteidigung gegen Repressionen zu organisieren.
These XV. Im Neoliberalismus hat sich die Unsichtbarmachung der Arbeiter:innen als Produzent:innen verschärft. Die Arbeiter:innenklasse ist keine Ansammlung von Lohnempfänger:innen oder Staatsbürger:innen, sie ist als Produzent:innenklasse die (potenzielle) Trägerin neuer sozialer Beziehungen. Keine wirklich antikapitalistische Alternative kann auf die Arbeiter:innenklasse und ihre zentrale Bedeutung für die Errichtung eines neuen (sozialistischen) Systems verzichten.
In seinen Überlegungen zum Scheideweg, den die Prozesse der Revolte darstellen, weist Lazzarato darauf hin, dass das Problem darin bestünde, dass „die antikapitalistischen Bewegungen immer noch nicht in der Lage sind, einen ‚Klassenkrieg ohne die Arbeiter:innenklasse‘ zu führen“31. Diese Vorstellung kann, wie gesagt, nur einer stereotypen Vorstellung von einer abstrakten Arbeiter:innenklasse entsprechen, sonst ist ein Klassenkampf ohne die Arbeiter:innenklasse überhaupt nicht denkbar – nicht nur allein als strategische Frage, sondern selbst als demokratische Frage. Heute ist die Arbeiter:innenklasse in einem großen Teil der Länder der Welt in der Mehrheit – eine tektonische Verschiebung, die zu Zeiten von Marx und sogar Lenin unvorstellbar war. Sie ist natürlich stark zersplittert in registrierte, prekäre, nicht registrierte usw. Sektoren, aber sie ist die produzierende Klasse par excellence des kapitalistischen Systems.
Um auf Foucault zurückzukommen: Der Neoliberalismus hat nicht nur versucht, auf breiter Front die Kriterien der Marktgesetze als „natürlich“ durchzusetzen und sie sogar auf die verschiedensten Lebensbereiche zu übertragen, sondern auch die Idee endgültig zu verbannen, dass die Arbeitskraft neuen Wert schafft. Auf diese Weise festigte er das Bild, das die Gesellschaft von sich selbst in Form einer atomisierten Ansammlung aktiver und freier „Wirtschaftssubjekte“ hat, die sich von Egoismus leiten lassen. In dieser Vorstellung wird das Individuum dadurch zu einem rationalen Subjekt, dass es die Möglichkeit erkennt, seine Fähigkeiten zu maximieren und sein Verhalten zu steuern – alles mit dem Ziel, den größten Gewinn zu den geringsten Kosten zu erzielen. Aus der Theorie des „Humankapitals“ geht hervor, dass die Arbeiter:innen Unternehmer:innen ihrer selbst sind.
Für das Kapital ist es unerlässlich, die Arbeitskraft als eine weitere Ware zu betrachten, um den Arbeiter:innen einen Lohn zu zahlen, der nur ein Teil dessen ist, was ihre Arbeitskraft produziert, und sich einen anderen Teil anzueignen. Während dies schon immer das zentrale Element des kapitalistischen Profits und der Kapitalakkumulation war, so gilt dies umso mehr für die neoliberale Phase, in der die Steigerung des absoluten Mehrwerts (unter Ausnutzung der Eingliederung von Hunderten von Millionen Arbeiter:innen in den Markt durch die „bürgerliche Restauration“ und die massiven Proletarisierungsprozesse in China und Indien) der Schlüssel zu den Versuchen war, dem Rückgang der Profitrate entgegenzuwirken. Es ist jedoch immer noch die Arbeiter:innenklasse, die die tote Arbeit belebt, und der Kapitalismus kann sich dieser Tatsache nicht entziehen; ein Scheideweg, der die Grundlage für die derzeitige geringe Akkumulationsfähigkeit des Kapitalismus auf globaler Ebene bildet.
Hinter der Idee des „Humankapitals“ wird das kreative Potenzial der Arbeiter:innenklasse versteckt, sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht. In diesem Sinne sind die Ausarbeitungen von Gramsci, in denen er die Arbeiter:innen nicht nur als Lohnempfänger:innen, sondern auch als Produzent:innen hervorhebt, sehr relevant32. Im Neoliberalismus wird den Arbeiter:innen dieser Charakter radikal abgesprochen, ihre Rolle als Produzent:innen wird praktisch vollständig unsichtbar gemacht. Sie erscheinen als bloße Repräsentant:innen eines weiteren korporativen Interesses der Gesellschaft, höchstens als „Staatsbürger:innen“, während sie als Produzent:innen die potenziellen Träger:innen neuer sozialer Kooperationsbeziehungen sind, einer sozialen und produktiven Kraft, die den Weg zu einer neuen Zivilisation eröffnen kann. Ohne dieses schöpferische Potential der Arbeiter:innen, sowohl ökonomisch als auch politisch, wäre eine sozialistische Perspektive unmöglich; die Frage der Arbeiter:innenkontrolle und die Möglichkeit der Arbeiter:innenklasse – und mit ihr der Massenbewegung –, die Produktion zu übernehmen, wären verschlossen33.
Foucault entwickelte eine Kritik des Konzepts der „Zivilgesellschaft“, wie sie in der schottischen Schule von Adam Ferguson auftaucht. Diese verortet sie als Stütze des Wirtschaftsprozesses und der wirtschaftlichen Bindungen, geht aber gleichzeitig über diese hinaus und kann nicht auf sie reduziert werden. Bei Ferguson erscheint die Zivilgesellschaft als weit mehr als ein Zusammenschluss verschiedener Wirtschaftssubjekte. „In der Tat“, so Foucault, „ist das, was die Individuen in der Zivilgesellschaft verbindet, nicht das Maximum an Profit im Tausch, sondern eine ganze Reihe von dem, was wir ‚uneigennützige Interessen‘ nennen könnten“34. Und er fügt hinzu: „Das ist der erste Unterschied zwischen dem Band, das die Wirtschaftssubjekte verbindet, und den Individuen, die Teil der Zivilgesellschaft sind: Es gibt ein ganzes nicht-egoistisches Interesse, ein ganzes Spiel von nicht-egoistischen Interessen, eine Reihe von uneigennützigen Interessen, die viel breiter sind als der Egoismus selbst“35.
Ausgehend von dieser Idee der „uneigennützigen“ Interessen oder Leidenschaften, die er von Ferguson übernimmt, könnte man sagen, dass die Zivilgesellschaft in Foucaults Geburt der Biopolitik die Rolle einer Instanz der Emanzipation gegenüber den Risiken des Machtmissbrauchs (Totalitarismen) spielt, auch wenn der Autor die naive Vision der „Zivilgesellschaft gegen den Staat“ ablehnt36. Diese Problematisierung der Reduktion der Zivilgesellschaft auf das reine Spiel von Angebot und Nachfrage (wenn auch auf der Grundlage eines vorhegelianischen und vormarxistischen Konzepts der Zivilgesellschaft) könnte mit Gramscis Unterscheidung zwischen „Wirtschaftsgesellschaft“ (bezogen auf die menschlichen Interaktionen in Produktion, Verteilung und Konsum) und „Zivilgesellschaft“ (als Terrain des „Freiwilligen“, der Parteien, Gewerkschaften usw.) und seiner Kritik verglichen werden, dass der Kapitalismus darauf abzielt, die „Zivilgesellschaft“ selbst zu kolonisieren37 und die Spontaneität der Wirtschaft – als Angebot und Nachfrage – hegemonial zu machen.
Im Gegensatz zu Foucault wird die Zivilgesellschaft bei Gramsci jedoch auch vom Staat „kolonisiert“ (Hegemonie, gepanzert mit Zwang). Man könnte diesen Aspekt mit Lazzaratos eigener Kritik an der Foucaultschen Interpretation des Neoliberalismus in Verbindung bringen, insofern er die Bedeutung seiner repressiven, zerstörerischen und kriegerischen Dimension unterschätzt und die „produktiven“ Techniken der Macht überschätzt. Mit dem Begriff des „integralen Staates“ beschreibt Gramsci jedoch ein Phänomen, das darüber hinausgeht und die unscharfe Grenze zwischen Staat und Zivilgesellschaft markiert: mit Phänomenen, die zwischen „Zwang“ und „Konsens“ liegen, verbunden mit der Kooptation und Transformation von Anführer:innen, die von der Verteidigung der Interessen der Arbeiter:innenklasse zur Verteidigung der Interessen der Bourgeoisie übergehen und so zur Entwicklung neuer Bürokratien innerhalb von Massenorganisationen führen, um die kapitalistische Herrschaft aufrechtzuerhalten.
Der Liberalismus war ein Versuch, die „Zivilgesellschaft“ in eine auf Angebot und Nachfrage reduzierte „Wirtschaftsgesellschaft“ umzuwandeln. Mit der Entstehung von Organisationen der Arbeiter:innenklasse (Gewerkschaften und Parteien) ging der Staat dann dazu über, die Räume in der Zivilgesellschaft, die der Liberalismus unbewacht gelassen hatte, zu „umkämpfen“, indem er eine ganze Reihe von Bürokratien innerhalb der Massenorganisationen entwickelte. Der Neoliberalismus radikalisierte den ersten dieser Vorgänge, während er den zweiten beibehielt, indem er die Entwicklung von Bürokratien auf soziale Bewegungen ausdehnte. Das Ergebnis ist eine von beiden Seiten „gesättigte“ Zivilgesellschaft, die darauf abzielt, jegliches „Klassenbewusstsein“ zu bekämpfen. Dazu spricht sie der Arbeiter:innenklasse ihren Charakter als produzierende Klasse ab, während sie gleichzeitig eine ganze Reihe von Bürokratien einsetzt, falls diese erste Instanz versagt; natürlich spielt auch die Repression eine wichtige Rolle, aber das ist das offensichtlichste.
In diesem Szenario der mit Zwang gepanzerten Hegemonie (integraler Staat) ist der Kampf um Autonomie für eine revolutionäre Partei besonders wichtig, ebenso wie das Bestreben, sie durch die Einheitsfront und eine hegemoniale Politik zu erweitern. Das ist es, worum es bei Gramscis Begriff des „Stellungskriegs“ geht. Es ist eine Form des Kampfes, um diese „Transformation“ zu vermeiden, d.h. um der Kooptation entgegenzuwirken und die Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse zu behaupten. In eine ähnliche Richtung weist beispielsweise Trotzki, wenn er das Problem der Gewerkschaften anspricht und darauf hinweist, dass die Gewerkschaften angesichts des enormen Einflusses des Staates auf das gesamte Leben der Klassen nicht mehr, wie in der Epoche des liberalen Kapitalismus, unbegrenzt politisch „neutral“ bleiben und sich auf die Verteidigung der Alltagsinteressen der Arbeiter:innenklasse beschränken können. Entweder werden sie zu Instrumenten des Kapitalismus, um die Arbeiter:innenklasse unterzuordnen und zu disziplinieren, oder sie werden zu unabhängigen Instrumenten einer Klassenbewegung mit einer revolutionären Perspektive.
Diese Schlussfolgerung ist im Hinblick auf die Revolten der letzten Jahre von grundlegender Bedeutung. Diese Prozesse haben ein charakteristisches Element von Revolutionen wieder in den Vordergrund gerückt: die direkte Intervention der Massen in das historische Geschehen. Doch all diese von der Massenbewegung aufgebrachte Energie wurde – mit Ausnahme der Fälle, in denen sie militärisch besiegt wurde – im Allgemeinen in die institutionellen Kanäle der bürgerlichen Regime umgeleitet. Nun ist es wichtig, diese Umleitungsprozesse nicht als eine evolutionäre Veränderung des Kräfteverhältnisses zugunsten der Massenbewegung zu betrachten. Es ist eine Sache, dass es in den meisten Fällen keine klaren Niederlagen gegeben hat, aber die Prozesse der Demobilisierung und die Elemente der Demoralisierung, die von den neoreformistischen und „linkspopulistischen“ Führungen erzeugt werden und die den Weg für rechte Varianten ebnen, sind nicht harmlos.
Wenn, wie Lazzarato betont, „Autonomie und Unabhängigkeit nicht selbstverständlich sind, sondern wie immer durch Kampf, Organisation und Strategie errungen werden müssen“38, dann stellt uns die Situation der Revolten vor ein ähnliches Problem, wie es Lenin in seinem klassischen Pamphlet Was tun? zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschrieb. Das „spontane Element“ ist die Keimform der Bewusstheit, aber je stärker der spontane Aufschwung der Massen ist, desto notwendiger ist die Entwicklung bewusster Elemente, d.h. starker revolutionärer Organisationen. Und das gilt in einer viel schärferen Form, als Lenin es in Russland formulierte. Das Szenario, das wir oben beschrieben haben, fordert von uns als wesentliches Element jeden „Stellungskrieg“ zur Eroberung der Autonomie der Arbeiter:innenklasse und der Massenbewegung als unabdingbare Voraussetzung für jeden revolutionären Sieg.
Lazzarato geht in Te acuerdas de la revolución? schnell durch Gramscis Ausführungen zum Stellungskrieg, um sich auf seine Überlegungen zum Kolonialkrieg zu konzentrieren. Gramsci sagt: „Der politische Kampf ist weitaus komplexer [als der militärische Krieg]: In gewissem Sinne ist er mit Kolonialkriegen oder Eroberungskriegen alten Stils zu vergleichen, wenn also die siegreiche Armee das gesamte eroberte Territorium oder einen Teil davon besetzt, oder zu besetzen sich vornimmt. In diesem Falle wird das besiegte Heer entwaffnet und zerstreut, aber der Kampf geht im Bereich der Politik und der militärischen Vorbereitung weiter.“39 Lazzarato übersieht jedoch das (für Gramsci zentrale) Problem des Staates und geht sogar so weit, die „Kolonialkriege“ mit den „gegenwärtigen Regimen der ‚internen Kolonisierung‘ und der Monopole“ gleichzusetzen40. In diesem Sinne geht ein grundlegender Unterschied zwischen den beiden Arten von „Krieg“ verloren. Wie Raymond Aron betont: „Der revolutionäre Krieg ist ein Vernichtungskrieg: Der Feind, die Mannschaft oder die Regierung, kann nicht kapitulieren, weil er gleichzeitig seine Existenz aufgeben würde. Er kapituliert durch Flucht, nicht durch Verhandlung. Der nationale Befreiungskrieg erreicht sein politisches Ziel manchmal durch eine taktische Niederlage bis hin zu einer taktischen (militärischen) Niederlage“41. Und er fügt hinzu: „In Ersterem stehen sich zwei Anwärter auf die Macht in einem einzigen Land gegenüber […]. In Zweiterem (im idealtypischen Fall) stellt sich eine Seite gegen die kolonialen Autoritäten“42.
Das heißt, in einem nationalen Befreiungskrieg kann das Ziel der Unabhängigkeit durch die Aufrechterhaltung der gleichen gesellschaftlichen (kapitalistischen) Produktionsverhältnisse durch den Rückzug des Kolonisators erreicht werden. Nicht in einem revolutionären Krieg. Wer den Sieg erringen will, muss sich gegenüber dem Kapitalismus durchsetzen und die Grundlagen einer neuen Gesellschaftsordnung artikulieren. In diesem Sinne wird keine „antikapitalistische“ Bewegung ohne die Arbeiter:innenklasse als produzierende Klasse – im Gegensatz zu dem, was Lazzarato sagt – in der Lage sein, den Krieg zu führen, der notwendig ist. Wie wir im vorigen Abschnitt sagten, geschieht dasselbe auf dem Gebiet der Strategie mit der „Feuerkraft“, die der Arbeiter:innenklasse die Kontrolle über die „strategischen Positionen“ für die Produktion und Reproduktion der Gesellschaft gibt. Man kann Clausewitz‘ Formel diskursiv umkehren, aber ohne die Arbeiter:innenklasse werden wir im 21. Jahrhundert niemals eine Revolution gewinnen können, zumindest nicht in der großen Mehrheit der Länder des Planeten, und noch weniger auf dem Terrain, auf dem sich das Ende des Kapitalismus wirklich abspielen wird: nicht mehr und nicht weniger als der weltweite Klassenkampf.
Nachtrag: Krieg und Revolution: Zum Begriff der „Kriegsmaschine“
Im Denken von Deleuze und Guattari ist einer der Bezugspunkte für die Ausarbeitung des Konzepts der „Kriegsmaschine“ das Denken von Clausewitz und insbesondere sein Begriff des „absoluten Krieges“. Dies bezieht sich bei Clausewitz vor allem auf den abstrakten Begriff des Krieges; es bezieht sich auf die Tendenz des Krieges, sich frei von seinen Determinanten zu Extremen zu steigern. In der Argumentation der Autoren von Tausend Plateaus ist dieses Konzept nützlich, um die Hypothese der Heteronomie zwischen der Macht der „Kriegsmaschine“ und der Macht des Staates (und damit der Politik, verstanden als staatliche Politik) zu entwickeln. Ihnen zufolge „hat Clausewitz ein Gespür [pressentiment] für diese Situation, wenn er den Fluss des absoluten Krieges als eine Idee behandelt, die sich die Staaten je nach ihren politischen Bedürfnissen teilweise aneignen und in Bezug auf die sie mehr oder weniger gute ‚Dirigenten‘ sind“43. In der Lücke zwischen den empirischen Kriegen und dem reinen Kriegsbegriff lesen sie eine inhärente Tendenz der Kriegsmaschine, über den Staat hinauszugehen.
„Die Unterscheidung zwischen dem absoluten Krieg als Idee und den realen Kriegen“, so betonen sie, „scheint uns von großer Bedeutung zu sein, aber mit einem anderen Kriterium als Clausewitz: Die reine Idee ist nicht die der abstrakten Beseitigung des Gegners, sondern die einer Kriegsmaschine, die nicht den Krieg zum Ziel hat„44. Erst wenn der Staat die Kriegsmaschine als Mittel einsetzt, nimmt diese den Krieg als unmittelbares Ziel an (und der Krieg macht die Schlacht zu seinem privilegierten Ziel). Mit anderen Worten: Alles hängt von einer „äußeren“ Begegnung zwischen dem Staatsapparat und der Kriegsmaschine ab. Erst durch diese Begegnung wird die Kriegsmaschine der staatlichen Politik untergeordnet45. Je mehr der Staat die Kriegsmaschine internalisiert, desto mehr wird diese zu einem direkten Instrument nicht nur der Kriegspolitik, sondern auch der zunehmenden Einmischung des Staates in die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse. In diesem Sinne ist der Ansatz der Autoren mit dem von General Ludendorff verwandt, der das Konzept des „totalen Krieges“ entwickelte, bei dem sich die Feindseligkeit nicht mehr nur gegen Armeen richtete, sondern gegen die gesamte Zivilbevölkerung, ihre Wirtschaft, ihre Psychologie usw.
Es hat nicht an Versuchen gefehlt, das Clausewitzsche Konzept des „absoluten Krieges“ fälschlicherweise mit Ludendorffs „totalem Krieg“ gleichzusetzen – 1935 in Der totale Krieg niedergeschrieben –, obwohl letzterer ausdrücklich mit Clausewitz brach, indem er den Vorrang der militärischen vor der politischen Führung betonte. Aber es handelt sich um fast gegensätzliche Konzepte. Der „absolute Krieg“ ist vor allem ein abstrakter Begriff, aber Clausewitz spricht auch in einem anderen Sinne vom „absoluten Krieg“ und erwähnt ihn immer wieder, um darauf hinzuweisen, dass sich der Krieg mit den Napoleonischen Kriegen seinem Begriff annähert. Dies liegt nicht daran, dass der Krieg seine historische Bestimmtheit verliert, sondern an der Schwierigkeit, einen „neuen“ Feind probabilistisch zu beurteilen. Wie Raymond Aron hervorhebt, nähern sich für Clausewitz Kriege der absoluten Form an, „wenn die revolutionäre Neuheit die implizite Kommunikation verhindert, die die Mäßigung begünstigt“46. Im Gegensatz dazu ist beim Konzept des „totalen Krieges“ der Ausgangspunkt durch den technischen Fortschritt und die demographische Entwicklung gegeben.
Das heißt, für Clausewitz bekam das „Volk“, das zuvor als „blindes Instrument“ fungierte, nach der Französischen Revolution ein eigenes Gewicht im Krieg (zur Verteidigung der Eroberungen der Revolution), und dieses brachte den Krieg näher an das Konzept des „absoluten Krieges“47. Der „totale Krieg“ hingegen ist, wie gesagt, für Ludendorff mit objektiven Faktoren wie dem technischen und demographischen Fortschritt verbunden. Andererseits setzt Clausewitz diese Neuheit der Revolution mit ihrem bonapartistischen Stadium gleich, das mit der Institutionalisierung der zuvor von der Französischen Revolution entfesselten Kräfte – durch die Konstituierung der „Grande Armée“ – und damit mit der Politik des bürgerlichen Staates einhergeht. Aber dieses Element ändert nichts an der enormen Distanz zwischen Clausewitz‘ Abhandlungen über den „absoluten Krieg“, die mit dem Aufkommen einer neuen „moralischen Kraft“ in der revolutionären Phase der Bourgeoisie verbunden waren, und Ludendorffs Entwicklungen zum „totalen Krieg“, in dem der bürgerliche Nationalismus der imperialistischen Mächte völlig konterrevolutionär geworden war.
Deleuze und Guattari sehen bei Clausewitz ein Schwanken, „wenn er zeigt, dass der totale Krieg manchmal ein durch die politischen Ziele der Staaten bedingter Krieg bleibt, während er zu anderen Zeiten dazu neigt, die Idee des unbedingten Krieges zu verwirklichen“48. Hier scheinen die Autoren die Perspektive von Clausewitz mit der von Ludendorff zu verwechseln. Für letzteren ist die Politik eine künstliche Grenze für den Einsatz der Mittel des Krieges (im In- und Ausland), um einer Herausforderung zu begegnen, die nicht nur geopolitisch (UdSSR), sondern auch innenpolitisch (die Kommunistische Partei, auch die Sozialdemokratie als Vertreterin der Arbeiter:innenklasse) ist. Aber für Clausewitz ist die Politik nicht unbedingt ein „Mäßiger“ des Krieges, es kommt darauf an, von welcher Politik wir sprechen. „Gehört der Krieg der Politik an“, sagt Clausewitz, „so wird er ihren Charakter annehmen. Sobald sie großartiger und mächtiger wird, so wird es auch der Krieg, und das kann bis zu der Höhe steigen, wo der Krieg zu seiner absoluten Gestalt gelangt.“49 Wenn der preußische General darauf hinweist, dass die napoleonischen Kriege seinem Konzept sehr nahe kommen, so verleugnet er damit natürlich nicht seine Formel, sondern vermerkt das Entstehen einer neuen „großartigen und mächtigen“ Politik.
Mit anderen Worten: Ludendorff denkt darüber nach, wie er die Massen für ein schäbiges und ihnen fremdes Ziel wie die Ausplünderung anderer Nationen zugunsten einer Handvoll deutscher Kapitalist:innen mobilisieren kann, für das die Unterwerfung und Unterwerfung der nationalen Massen von zentraler Bedeutung ist (daher die Bedeutung der „inneren“ Dimension des Krieges, um die Menschen an den Krieg zu binden). Im Fall von Clausewitz trägt er einer Tatsache Rechnung: Die Massen führen den Krieg, anders als in der vorangegangenen Phase, nun zur Verteidigung ihrer eigenen Interessen, was sich in der Entstehung einer neuen „moralischen Kraft“ äußert, die das gesamte europäische Gleichgewicht verändert, und wenn es dem Deutschen Bund nicht gelingt, die Massen in ähnlicher Weise in den Krieg einzubeziehen (wenn auch mit Reformen „von oben“), wird er nicht in der Lage sein, den Schwung der Grande Armée zu besiegen. Daher kann man bei beiden ein sehr unterschiedliches Verhältnis zwischen Krieg und Politik erkennen. Von Clausewitz‘ Ansatz aus können wir das zwanzigste Jahrhundert und in ihm das bestimmende Phänomen der Beziehung zwischen Krieg und Revolution besser verstehen.
Dies bedeutet nicht, dass es bei der Entwicklung groß angelegter Kriege tatsächlich einen Prozess der „Autonomisierung“ der Kriegsmaschinerie gibt. Aber es handelt sich um ein präzises und begrenztes Phänomen, dessen Fortschreibung historisch gesehen unweigerlich zur Revolution geführt hat. Trotzki analysiert dies während des Ersten Weltkriegs folgendermaßen: „Je mehr sich das Feld der militärischen Operationen ausweitete, desto offensichtlicher wurden sie ökonomisch und politisch (d.h. imperialistisch), desto weniger real wurde die Kontrolle über die militärischen Operationen, das politische Ziel und die Parolen des Krieges wurden zu Schatten, die den autarken Bewegungen und den Zusammenstößen der Menschenmassen folgten. Der Militarismus, von dem man annahm, dass er von Natur aus ein gefügiges und treues Instrument der imperialistischen Interessen sei, wurde – durch die Logik der Dinge selbst – fast völlig ‚autonom‘ und verschlang weiterhin automatisch alle Kräfte und Ressourcen der Nation“50.
Nachdem Deleuze und Guattari die Autonomisierung der Kriegsmaschine als scheinbar gefestigtes Phänomen theoretisieren, sehen sie im „Kalten Krieg“ die effektive Umkehrung der Formel, in der die Politik zur Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln wird. Eine Kriegsmaschine, deren Ziel nicht mehr der Krieg, sondern der Frieden des Überlebens im Rahmen der Entwicklung von Atomwaffen ist. In diesem Zusammenhang ist auch ihre Aussage zu verstehen, dass „der Frieden den unbegrenzten materiellen Prozess des totalen Krieges technologisch entfesselt“51. Aber es war nicht das allgemeine („menschliche“) Überleben, das die USA 1945 davon abhielt, den Krieg gegen die UdSSR fortzusetzen52 , sondern ihr eigenes politisches Überleben, flankiert von den Anti-Kriegs-Mobilisierungen in den USA und von der aufkommenden Revolution in mehreren Ländern. Bis heute ist das Einzige, was den Einsatz der zerstörerischen Kräfte des Kapitals – und insbesondere der Atomwaffen – begrenzt hat, die Politik, aber auf eine andere Art und Weise, als Deleuze und Guattari es formulieren. Nicht wegen der Diplomatie, sondern wegen der Unmöglichkeit, aus einem hypothetischen militärischen Sieg politisches Kapital zu schlagen, oder, anders gesagt, wegen der Unmöglichkeit, einen solchen Krieg zu gewinnen, ohne eine Revolution auszulösen und den Verlust der Macht zu riskieren.
Dieses Problem ist auch heute noch in der Welt präsent, und es ist sehr wichtig, sich daran zu erinnern, wenn es um die Rückkehr des Krieges zwischen den Staaten und den wachsenden Militarismus der Großmächte geht. Einer der großen Widersprüche, den die verschiedenen Imperialismen haben, wenn sie auf internationaler Ebene in den Krieg ziehen oder auch nur minimale Maßnahmen wie die Rückkehr zur Massenrekrutierung unter der Bevölkerung durchführen, besteht weiterhin in dem Problem, daraus politisch Kapital zu schlagen und nicht die Büchse der Pandora der Revolution zu öffnen. Trotz aller suggestiven Elemente, die der Begriff der Kriegsmaschine haben mag, wird er zu einem abstrakten Konzept, wenn er von der Politik getrennt wird, nicht nur von der Politik im Sinne von Nationalstaaten, sondern vor allem von der Politik im Sinne von Klassenkampf. Ohne letztere können wir kaum etwas vom 20. Jahrhundert verstehen und, was heute noch dringender ist, eine Politik entwickeln, die den kriegerischen Tendenzen entgegentreten kann –eine Politik, welche den Kampf für die sozialistische Revolution notwendigerweise einschließt.
Fußnoten
1. Lazzarato, Maurizio, ¿Te acuerdas de la revolución? Minorías y clases, Buenos Aires, Eterna cadencia, 2022 (digitale Version). Eigene Übersetzung.
2. Lazzarato, Maurizio und Alliez, Éric, Guerras y capital, a.a.O. S. 33. Eigene Übersetzung.
3. Lenin, W. I., Was tun?, Werke, Band 5, abrufbar unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1902/wastun/kap3e.htm. Hervorhebung i.O.
4. Lazzarato, Maurizio und Alliez, Éric, Guerras y capital, a.a.O. S. 39. Eigene Übersetzung.
5. Vgl. Martínez, Josefina L., https://www.klassegegenklasse.org/feminismus-intersektionalitaet-und-marxismus-debatten-ueber-geschlecht-race-und-klasse/
6. Taylor, Keaanga-Yamahtta, From #BlackLivesMatter to Black Liberation, Haymarket, 2016. Eigene Übersetzung. Hervorhebung i.O.
7. Wie wir in Von der Mobilisierung zur Revolution erörtert haben, steht diese Perspektive in krassem Gegensatz zu der Vorstellung von Sektoren, die sich auf das Programm der alten Sozialdemokratie berufen, wonach die Forderungen der Frauenbewegung oder der Bewegung der Schwarzen die Klasse angeblich „spalten“ können und daher hinter rein wirtschaftlichen Forderungen zurückstehen sollten.
8. Segato, Rita, La guerra contra las mujeres, Madrid, Traficantes de Sueños, 2016 (digitale Version). Eigene Übersetzung.
9. Ebd. Eigene Übersetzung.
10. Siehe den interessanten Artikel von Robert Brenner und Dylan Riler, „Seven theses on american politics“, New Left Review Nr. 138, November/Dezember 2022.
11. Lazzarato, Maurizio und Alliez, Éric, Guerras y capital, a.a.O. S. 429. Eigene Übersetzung.
12. Clausewitz, Carl, Vom Kriege. Band 3, Achtes Buch.
13. Die „strategischen Positionen“ sind zwar die Grundlage für die Stärke der Arbeiter:innenklasse, gehören aber nicht unmittelbar der Arbeiter:innenklasse als Ganzer, sondern den Teilen der Arbeiter:innenklasse, die sie innehaben. So sind sie aufgrund ihrer „Feuerkraft“ auch eher in der Lage, bestimmte Zugeständnisse der Bourgeoisie zu erreichen. Dieser Korporativismus ist – über den direkten Kauf oder die Korruption der Anführer:innen hinaus – die stabilste Grundlage für die Fragmentierung (und soziale Differenzierung) des Proletariats, mit der die Gewerkschaftsbürokratie arbeitet. Auf der anderen Seite gibt es diejenigen Teile der Klasse, die keine strategischen Positionen innehaben und daher weniger Verhandlungs- und Organisationsfähigkeit besitzen, was sie einerseits schwächer und andererseits potenziell explosiver macht. Diese Spaltung ist genau die Negation der „Stärke der Arbeiter:innen“.
14. Vgl. Frank Goudichaud, “Pensando las fisuras del neoliberalismo ‘maduro’. Trabajo, sindicalismo y nuevos conflictos de clases en el Chile actual”, Revista Theomai Nr. 36, 2017.
15. Lazzarato, Maurizio und Alliez, Éric, Guerras y capital, a.a.O. S. 422. Eigene Übersetzung.
16. Trotzki, Leo, „Das Übergangsprogramm“, 1938. Abrufbar unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1938/uebergang/ueberg2.htm
17. Lazzarato, Maurizio, ¿Te acuerdas de la revolución?, a.a.O. Eigene Übersetzung.
18. Auf diesen Seiten befassen wir uns mit dem Ansatz von Lazzarato, aber in den letzten Jahren gab es wichtige Ausarbeitungen zu diesen Aspekten, die offensichtlich eine eigene Debatte verdienen würden, wie die von Isabelle Garo und Frédéric Lordon. Erstere greift in ihrem Buch Communisme et stratégie (2019) eine Reihe klassischer Überlegungen zur Problematik der Vermittlung auf und weist darauf hin, dass die spezifisch marxistische Vermittlung und Repräsentation im Aufbau einer politischen Organisation und Kultur besteht, die in der Lage ist, eine Alternative zu schaffen, die aus den Prozessen und Bewegungen des Widerstands gegen den Kapitalismus hervorgeht. Sie betont die Notwendigkeit, soziale, politische und kulturelle Praktiken zu artikulieren, um eine Alternative zum Kapitalismus aufzubauen, wobei der Schwerpunkt auf der Mobilisierung und Organisation von unten liegt (vgl. Juan Dal Maso „Marx: el comunismo como estrategia“, https://www.laizquierdadiario.com/Marx-el-comunismo-como-estrategia). Lordon seinerseits formuliert die Idee der „recommune“. Mit diesem Ausdruck bringt er die Idee der „Republik“ ins Spiel, aber um „die öffentliche Sache“, um die es geht, in Zahl und Zweck zu erweitern. Sein Ziel ist es, zu suggerieren, dass das Prinzip der radikalen Demokratie für jedes Unternehmen gelten könnte. Er vertritt die Auffassung, dass der Umfang der Beschäftigung, die zu produzierenden Güter, die Mengen, die Rhythmen usw. sich einer kollektiven Überlegung nicht entziehen dürfen, da sie gemeinsame Konsequenzen haben (vgl. Lordon, Frédéric, Capitalisme, desire et servitude. Marx et Spinoza, 2014; in jüngerer Zeit: Figures du communisme, 2021).
19. Lenin, W. I., „Thesen und Referat über die bürgerliche Demokratie und die Diktatur des Proletariats auf dem I. Kongress der Kommunistischen Internationale“, 4. März 1919. Abrufbar unter: https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/lenin/1919/wladimir-i-lenin-thesen-und-referat-ueber-die-buergerliche-demokratie-und-die-diktatur-des-proletariats
20. Poulantzas, Nicos, Estado, L’État, le pouvoir, le socialisme. PUF, Paris 1978. Artous, Antoine, Marx, l’État, et la politique, Paris, Syllepse, 1999. Lih, Lars, „The book that didn’t bark“, Weekly Worker, 27.4.2011.
21. Lazzarato, Maurizio und Alliez, Éric, Guerras y capital, a.a.O. S. 303. Eigene Übersetzung.
22. Vgl. Trotzki, Leo, Die Lehren der Pariser Kommune, 1921. Abrufbar unter: https://www.sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1921/leo-trotzki-die-lehren-der-pariser-kommune
23. Bensaïd, Daniel, Elogio de la política profana, a. a. O., S. 169. Eigene Übersetzung.
24. Vgl. Marx, Karl, Der Bürgerkrieg in Frankreich, a.a.O.
25. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung hatten die monarchistischen Sektoren mit großem Vorsprung gewonnen. Paris hatte überwiegend für republikanische Kandidat:innen gestimmt, aber die Landbevölkerung im Rest des Landes unterstützte die Vertreter:innen der Reaktion, weshalb sie als „Versammlung des Landvolks“ bezeichnet wurde (für eine Ausarbeitung vgl. Castillo, Christian, „Marx, Engels y las revoluciones del siglo XIX“)
26. Für eine längere Ausführung dieses Arguments vgl. Maiello, Matías, https://www.laizquierdadiario.com/Una-democracia-de-otra-clase-sobre-los-usos-de-la-Comuna-de-Paris.
27. Es gibt jedoch Prozesse, die sich von dieser Norm entfernen. Hier könnte man die bolivianische Widerstandsbewegung des Jahres 2019 einordnen, die, wenn auch nur kurz, Instanzen wie das Cabildo Abierto del Alto entwickelte und sich auf die Suche nach strategischen Punkten begab, die den Widerstand der Putschist:innen brechen konnten, wie die Kohlenwasserstoffanlage von Senkata (vgl. Maiello, Matías, https://www.klassegegenklasse.org/bolivien-klassenkampf-und-strategische-positionen/ ).
28. Vgl. zum Beispiel Di Cesare, Donattella, El tiempo de la revuelta, Siglo XXI España, 2021.
29. Lazzarato, Maurizio, ¿Te acuerdas de la revolución?, a.a.O. S. 315. Eigene Übersetzung.
30. Zu diesem Punkt vgl. Maiello, Matías, https://www.klassegegenklasse.org/von-der-fragmentierung-zur-hegemonie-scheidewege-des-heutigen-klassenkampfes/ .
31. Lazzarato, Maurizio und Alliez, Éric, Guerras y capital, a.a.O. S. 337. Eigene Übersetzung.
32. Vgl. Albamonte, Emilio y Maiello, Matías, “La clase trabajadora como productora en Gramsci y Trotsky”, https://www.laizquierdadiario.com/La-clase-trabajadora-como-productora-en-Gramsci-y-Trotsky. Vgl. auch Badaloni, Nicola, “Libertà individuale e uomo collettivo in Gramsci”, in Ferri, Franco (Hrsg.), Politica e storia in Gramsci, Roma, Editori Riuniti, 1977.
33. Es sei darauf hingewiesen, dass wir, wenn wir von Sozialismus sprechen, die wirkliche Bewegung meinen, die, wie Marx und Engels sagten, den gegenwärtigen Zustand umstürzt und überwindet und in der die Arbeiter:innen danach streben, ihre freie Zeit zurückzugewinnen, sowie das Ziel einer neuen Gesellschaft, in der die Produzent:innen sich frei zusammenschließen, mit kollektiven Produktionsmitteln arbeiten und ihre individuellen Kräfte als eine große gesellschaftliche Arbeitskraft vereinen.
34. Foucault, Michel, Nacimiento de la biopolítica, Buenos Aires, Fondo de Cultura Económica, 2007, S. 342. Eigene Übersetzung.
35. Ebd., S. 343. Eigene Übersetzung.
36. Celine Spector, “Foucault, la ilustración y la historia: la emergencia de la sociedad civil”, in: Youkali. Revista crítica de las artes y del pensamiento Nr. 13, Juli 2012, S. 101-112. Eigene Übersetzung.
37. Vgl. Badaloni, Nicola, „Libertà individuale e uomo collettivo in Gramsci“.
38. Lazzarato, Maurizio, Guerra o revolución. Por qué la paz no es una alternativa, a.a.O., S. 128. Eigene Übersetzung.
39. Gramsci, Antonio, „Politischer Kampf und militärische Auseinandersetzung“. Heft 1, §134. In: Gefängnishefte. Band 1. Argument, Hamburg.
40. Lazzarato, Maurizio, Te acuerdas de la revolución?, a.a.O. Eigene Übersetzung.
41. Aron, Raymond, Thinking War, Clausewitz, Band II The Planetary Age, a.a.O. S. 141. Eigene Übersetzung.
42. Ebd., S. 142. Eigene Übersetzung.
43. Deleuze, Gilles und Guattari, Félix, A Thousand Plateaus, a.a.O. S. 362. Eigene Übersetzung.
44. Ebd. S. 419. Eigene Übersetzung. Hervorhebung i.O.
45. Eines der zentralen Probleme, das die Autoren ansprechen, ist daher die Aneignung der Kriegsmaschinerie durch den Staat und die Bedingungen dieser Möglichkeit. „Die Integration der Nomaden in die eroberten Reiche war einer der stärksten Faktoren für die Aneignung der Kriegsmaschinerie durch den Staatsapparat: die unvermeidliche Gefahr, der die Nomaden erlagen“ (A Thousand Plateaus, a.a.O. S. 418. Eigene Übersetzung). Ganz allgemein sprechen Deleuze und Guattari von der „Verzahnung“ bestimmter sozialer Gruppen (Söldner:innen, Milizen, Kondottiere, Sondertruppen usw.) und analysieren die Formen der „Territorialisierung“ von Krieger:innen und die Einbindung ihrer Kräfte in den Staat.
46. Aron, Raymond, Thinking War, Clausewitz, Band I The European Era, a. a. O., S. 227. Eigene Übersetzung.
47. „Zur Zeit der Schlesischen Kriege, war der Krieg noch eine bloße Angelegenheit des Kabinetts, an welchem das Volk nur als blindes Instrument teilnahm; im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts standen die beiderseitigen Völker in der Wageschale.“ (Clausewitz, Carl, Vom Kriege, Band 3, Achtes Buch.).
48. Deleuze, Gilles und Guattari, Félix, A Thousand Plateaus, a.a.O. S. 420. Eigene Übersetzung.
49. Clausewitz, Carl, Vom Kriege, Band 3, Achtes Buch.
50. Zitiert in Heyman, Neil, “Leon Trotsky as a military thinker”, unveröffentlichte Postdoc-Arbeit, Stanford, Stanford University, 1972, S. 95. Eigene Übersetzung.
51. Deleuze, Gilles und Guattari, Félix, A Thousand Plateaus, a.a.O. S. 471. Eigene Übersetzung.
52. Wie Pierre Naville argumentiert, „beendeten die beiden atomaren Explosionen von 1945 mit ihren riesigen Schmelzöfen einen Konflikt, der bereits einen neuen einleitete“. (Naville, Pierre, „Clausewitz en la actualidad“, in: Clausewitz, Carl von, De la guerra, Buenos Aires, Terramar, 2005, S. 296. Eigene Übersetzung.).