Jenseits der „bürgerlichen Restauration“ (Teil 2)

06.05.2023, Lesezeit 40 Min.
Übersetzung:
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Quelle: Ideas de Izquierda

Fünfzehn Thesen zur neuen Etappe der internationalen Situation. Dreiteilige Reihe von Matías Maiello und Emilio Albamonte in Auseinandersetzung mit dem italienischen Soziologen Maurizio Lazzarato. Teil 2: Klassenkampf: Der "Krieg" beginnt mit der Verteidigung.

Wir veröffentlichen hier einen dreiteiligen Beitrag von Matías Maiello und Emilio Albamonte zur neuen Etappe der internationalen Situation in Auseinandersetzung mit Maurizio Lazzarato und der Diskussion über die Natur des Kriegs in der Ukraine. Der Text wurde zuerst am 5. Februar 2023 auf Spanisch bei Ideas de Izquierda veröffentlicht und versteht sich als Beitrag für die Debatten auf der nächsten Konferenz der Trotzkistischen Fraktion für die Vierte Internationale, die in den kommenden Monaten stattfinden wird. Teil 1 erschien vergangene Woche an dieser Stelle. Teil 3 folgt in der kommenden Woche.

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Teil 2: Klassenkampf: Der „Krieg“ beginnt mit der Verteidigung

These X. Der Krieg ist auch die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, was die Begriffe des Klassenkampfes betrifft. Die Tendenzen zu größeren militärischen Konfrontationen erhöhen wiederum die Aussicht auf Zusammenstöße zwischen Revolution und Konterrevolution.

Die revolutionären Marxist:innen des frühen 20. Jahrhunderts, so Lazzarato, haben „den Krieg immer unter dem Gesichtspunkt des Bürger:innenkriegs zwischen den Klassen gelesen, daher untersuchten sie mit besonderer Aufmerksamkeit das Verhalten der Massen, weil die Massen und nicht die Staaten das eigentliche politische Subjekt sind. Es wäre richtiger, von einem Partisanenkrieg als von einem Krieg zu sprechen.“1 Dieser Gedanke ist zwar als Blickwinkel richtig, das bedeutet aber nicht, dass die Realität des Krieges sich auf diese Weise darstellt. Die von Lazzarato aufgegriffene Losung Lenins, „den imperialistischen Krieg in einen Bürger:innenkrieg zu verwandeln“, ging gerade von der Realität des zwischenstaatlichen Krieges und der Existenz von „schwachen Gliedern“ in der imperialistischen Kette (z.B. Russland) aus, um das strategische Ziel zu setzen, diesen in eine Revolution zu verwandeln. Mit anderen Worten: Der Bürger:innenkrieg war keine „gegebene“ Tatsache.

In unserem Buch Sozialistische Strategie und Militärkunst haben wir versucht zu analysieren, wie Lenin eine originelle Interpretation der Clausewitzschen Formel vornimmt, die auch heute noch sehr nützlich ist, um nicht in polare Gegenüberstellungen zu verfallen. Zum Einen definiert er wie Clausewitz den Krieg durch das spezifische Mittel, das er einsetzt – physische Gewalt – und nicht durch die Funktion, die er erfüllt2. So behält er den Begriff des Krieges für die Fälle vor, in denen die Politik groß angelegte physische Gewalt als Mittel für ihre Zwecke einsetzt, d.h. für jene Konfrontationen „auf dem Schlachtfeld zwischen Menschen und Maschinen“, wie wir mit Smith gesagt haben. Zum Anderen entwickelt er ein marxistisches Verständnis dieser Formel, in dem sich die Politik nicht auf die „personifizierte Intelligenz der Nation“ (durch den Staat) bezieht, wie Clausewitz sie verstand, sondern auf den Klassenkampf. Wie Raymond Aron betont, „ignoriert Lenin nicht die Tatsache, dass der Klassenkampf nicht immer den gewaltsamen Charakter eines Krieges annimmt. Aber kehrt [Clausewitz‘] Formel um, wie in seiner Ablehnung der nationalen Einheit implizit ist. Alle Gewalt ist physisch, schreibt Clausewitz, denn moralische Gewalt gibt es nicht außerhalb des Bereichs von Staat und Gesetz. Auch im Leninschen Marxismus gehen Staat und Recht auf mehr oder weniger getarnte physische Gewalt zurück. Jeder Frieden in einer Klassengesellschaft verschleiert den Kampf“3. Diese Ablehnung der „nationalen Einheit“ bedeutet jedoch nicht, dass Lenin die Formel umkehrt.

Es stimmt zwar, dass laut Lenin in einer Klassengesellschaft jeder Frieden den (Klassen-)Kampf verschleiert. Jedoch schlägt dieser nur in bestimmten Momenten in einen Bürger:innenkrieg um. In dieser Herangehensweise ist der Begriff des Klassenkampfes viel weiter gefasst als der des Bürger:innenkrieges, welcher ein bestimmtes Stadium zum Ausdruck bringt. Dies erlaubt es Lenin einerseits, die Unterscheidung zwischen „physischer“ und „moralischer“ Gewalt aufrechtzuerhalten, die für das Eingreifen in den Klassenkampf von grundlegender Bedeutung ist und die heute in den politischen Diskursen des Progressivismus weitgehend undifferenziert erscheint, wo beispielsweise „Faschismus“ mit so genannten „Hassreden“ gleichgesetzt wird, wie in einem postmodernen Amalgam. Andererseits erlaubt diese Differenzierung Lenin, den Klassencharakter der Gesellschaft und den Kampf sichtbar zu machen, den die hegemonialen Diskurse zu verbergen suchen. Auf dieser Grundlage kann er Konzepte wie die „Kriegsschule“4 entwickeln, um sich auf partielle Konfrontationen zu beziehen (er führt das Konzept angesichts von Phänomenen ein, die wir als „wilde Streiks“ bezeichnen würden), die noch nicht der eigentliche Krieg sind, die aber auf kleiner Skala viele seiner Elemente aufweisen.

Bei diesen Begriffen handelt es sich um grundlegende Unterscheidungen und Konzepte. Es gibt keine absolute Diskontinuität zwischen vorrevolutionären und revolutionären (oder konterrevolutionären) Situationen. Ein Konzept wie das der „Übergangssituation“, das von Trotzki ausgearbeitet wurde, berücksichtigt diese hybriden oder Zwischensituationen, in denen sich grundlegende Momente ausdrücken, die das Kräfteverhältnis in die eine oder andere Richtung definieren. Lazzarato greift diesen Begriff Trotzkis auf, tut dies aber, um eine Art Gleichsetzung zwischen „Klassenkampf“ und „Bürger:innenkrieg“ zu machen und die Existenz einer Art „permanenten Bürger:innenkriegs“ zu postulieren. Während Trotzki sagt: „Die absolute Gegenüberstellung einer revolutionären und einer nichtrevolutionären Situation stellt ein klassisches Beispiel metaphysischen Denkens dar“5 , lässt Lazzarato das Adjektiv „absolut“ weg und bekräftigt, dass an sich „der Gegensatz zwischen einer revolutionären Situation und einer nicht-revolutionären Situation ein metaphysischer Gegensatz ist“6.

Trotzki debattierte aber nicht nur gegen diejenigen, die wie der französische Stalinismus in den 1930er Jahren ihren eigenen Konservatismus rechtfertigen wollten, indem sie eine metaphysische Mauer zwischen nichtrevolutionären und revolutionären Situationen errichteten. Sondern er wandte sich auch – wie Lenin mit Der Linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus und später Gramsci – gegen diejenigen, die Klassenkampf mit Bürger:innenkrieg verwechselten. In diesem Sinne erläuterte er die Beziehung mit folgenden Worten, die es wert sind, wiederholt zu werden: „Die Wahrheit ist, dass der Bürgerkrieg ein bestimmtes Stadium des Klassenkampfes darstellt, in welchem dieser, indem er den Rahmen der Legalität durchbricht, sich auf die Ebene einer öffentlichen und bis zu einem gewissen Grad physischen Konfrontation der gegnerischen Kräfte erhebt. In diesem Sinne umfasst der Bürgerkrieg spontane Aufstände, die durch lokale Ursachen bedingt sind, das blutige Eingreifen konterrevolutionärer Horden, den revolutionären Generalstreik, den Aufstand zur Machtergreifung und die Zeit der Niederschlagung versuchter konterrevolutionärer Aufstände“7.

Lazzarato greift auch eine andere wichtige Definition Trotzkis auf, in der er darauf hinweist: „Wer nicht sieht, dass der Klassenkampf unweigerlich zum bewaffneten Konflikt führt, ist blind. Aber nicht weniger blind ist derjenige, der angesichts eines bewaffneten Konflikts nicht die gesamte vorherige Politik der Klassen im Kampf sieht“8. Für Lazzarato bekräftigt diese Aussage seine Ansicht, dass es für revolutionäre Marxist:innen „als politisch und theoretisch unverantwortlich galt, die Bedingungen des Krieges im ‚Frieden‘ der kapitalistischen Produktion nicht zu begreifen“9. Aber wie gesagt, gab es weder für Lenin noch für Trotzki die Bedingungen eines permanenten Krieges, sondern den Klassenkampf als Begriff, der den Bürger:innenkrieg (als spezifisches Moment) umfasst und beinhaltet, wobei letzterer die Fortsetzung der Politik (im Sinne des Klassenkampfes) mit anderen Mitteln ist.

Die Folgen dieses Unterschieds zwischen den beiden Ansätzen sind von großer Bedeutung. Während dies für Lazzarato dazu führt, den Krieg in eine Konstante zu verwandeln und damit die Formel von Clausewitz umzukehren, so bedeutete es für Trotzki im Gegenteil, den Vorrang der Politik in den Vordergrund zu stellen und insbesondere die politische Vorbereitung auf den Fall, dass sich der Klassenkampf in einen Bürger:innenkrieg verwandelt. So argumentierte er: „Der Ausgang des Bürgerkriegs hängt nur zu einem Viertel (um nicht zu sagen zu einem Zehntel) vom Verlauf des Bürgerkriegs selbst, von seinen technischen Mitteln, von der rein militärischen Führung ab, und zu den restlichen drei Vierteln (wenn nicht neun Zehnteln) von der politischen Vorbereitung. Worin besteht diese politische Vorbereitung? Im revolutionären Zusammenhalt der Massen, in ihrer Befreiung von den unterwürfigen Hoffnungen auf Milde, Großzügigkeit, Loyalität der ‚demokratischen‘ Sklavenhalter, in der Ausbildung revolutionärer Kader, die der bürgerlichen öffentlichen Meinung zu trotzen wissen und die in der Lage sind, der Bourgeoisie auch nur ein Zehntel der Unerbittlichkeit entgegenzusetzen, welche diese gegenüber den Arbeitern an den Tag legt. Ohne diesen Mut wird sich der Bürgerkrieg, wenn die Umstände ihn erzwingen – und sie werden ihn am Ende immer erzwingen –, unter für das Proletariat ungünstigeren Bedingungen entwickeln, er wird in größerem Maße vom Zufall abhängen; danach kann selbst im Falle eines militärischen Sieges die Macht den Händen des Proletariats entgleiten.“10

Dies alles beiseite zu lassen, ist ein Merkmal all jener Post-68er wie Foucault oder Deleuze und Guattari, die sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln daran machen, die Clausewitz’sche Formel umzukehren. Die Auflösung der Strategie in eine Art prozessuale Summierung von Widerständen ist eine Schlussfolgerung, die in dieselben Prämissen eingeschrieben ist. Daraus ergibt sich unseres Erachtens die Schwierigkeit, auf die Lazzarato stößt, wenn er versucht, das strategische Denken des revolutionären Marxismus des 20. Jahrhunderts mit Autoren zu artikulieren, die aus unterschiedlichen Perspektiven behaupten, dass Politik die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln ist. Die Elemente, auf die Trotzki bei der Erläuterung der politischen Vorbereitung hinweist, sind nur dann sinnvoll, wenn wir verstehen, dass der Krieg – obwohl er eine eigene Grammatik hat – seine Logik der Politik entlehnt, die im Marxismus, anders als bei Clausewitz, als Klassenkampf (und nicht als Staatsräson) konzipiert ist.

These XI. Der eigentliche Klassen-„Krieg“ beginnt nicht mit der Offensive des Kapitals, sondern mit der Verteidigung von Seiten der Massenbewegung. Reiner „Widerstand“ ist keine Verteidigung, er muss offensive Elemente enthalten. Der Neoreformismus und der „Linkspopulismus“ sorgen dafür, dass es keine Verteidigung gibt, so dass die Klassendespotie weiter voranschreiten kann.

Wie bereits erwähnt, sieht Lazzarato keinen Widerspruch zwischen den Aussagen, dass a) Kriegsmaschinen den „Frieden“ zum Ziel haben und b) das Kapital nicht in der Lage ist, sich vom Staat zu trennen. Einerseits wegen seiner Fähigkeit, sich auf ein zu eroberndes „Außen“ auszudehnen, welche indes heute ohne eine Umverteilung der Macht und eine groß angelegte Liquidierung von Kapital äußerst begrenzt erscheint. Andererseits weist Lazzarato darauf hin, dass die Verflechtung der Kriegsmaschinerie, die den „Frieden“ zum Ziel hat, mit dem Staat auf einen „permanenten Bürger:innenkrieg“ gegen die Bevölkerung abzielt. Der Autor argumentiert, dass die Matrix der Bürgerkriege, die weltweit, auch in den zentralen Ländern, stattfinden, eine Fortsetzung der kolonialen Kriegsführung mit eigenen Merkmalen ist. „Der Kolonialkrieg war nie ein Krieg zwischen Staaten, sondern im Wesentlichen ein Krieg innerhalb und gegen die Bevölkerung, in dem die Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden, zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten, zwischen Wirtschaft, Politik und Militär nie angewendet wurde.“11 Er fügt hinzu: „Die neue faschistische Kriegsmaschinerie funktioniert durch Ausgrenzung auf der Grundlage rassistischer, sexueller und nationaler Identität“12.

In diesem Rahmen schlägt Lazzarato vor, sexualisierte, rassistische und Klassengewalt als Individualisierung des Eroberungskrieges zu verstehen und zu politisieren. Auf diese Weise versucht er, die Fortschritte, die die Offensive des Kapitals in den letzten Jahren gegen die Massenbewegung gemacht hat, aus der jüngsten Geschichte heraus zu erklären. Er greift auch Felix Guattaris Begriff des „Krieges der Subjektivitäten“ auf, verstanden als politische Kriege der „Bildung“ und „Steuerung“ der für die Produktion, den Konsum und die Reproduktion des Kapitals notwendigen Subjektivität. Ausgehend von einem Schmitt’schen Ansatz weist der Autor darauf hin, dass sich in einer Situation, die durch ein hohes Maß an Klassenkampf gekennzeichnet ist, keine Norm – sei es eine wirtschaftliche, sexuelle oder rassistische – durchsetzen kann. „Die produktive Norm – so Lazzarato – gilt ebenso wie die Rechtsnorm nicht im Chaos, sondern setzt eine normative Strukturierung der Lebensbeziehungen voraus“. Im Fall von Carl Schmitt in der Weimarer Republik führte dieser Ansatz dazu, dass er nach Wegen suchte, die Ordnung zu verteidigen und einen Bürger:innenkrieg zu vermeiden. Für Lazzarato sieht es jedoch ganz anders aus: Die Konsequenz wäre die Notwendigkeit einer „präventiven Normalisierung“, sowohl politisch als auch subjektiv, die sich mit „einem je nach den Umständen variierenden Einsatz von Gewalt und Bürger:innenkrieg“13 entwickelt.

Die von Lazzarato aufgezeigten Phänomene (sexuelle, rassistische, klassenbasierte, wirtschaftliche, neokoloniale Gewalt usw.) haben eine breite – historische und (sehr) aktuelle – Bedeutung für die Produktion und Reproduktion des Kapitals. Man könnte sie im Marx’schen Sinne als das wachsende Wirken des Staates als „organisierte Gewalt zur Versklavung der Arbeit“ oder „Maschine der Klassenherrschaft“14 betrachten. Aber die Einordnung in den Begriff „Bürger:innenkrieg“ und die daraus folgende Nicht-Unterscheidung zwischen moralischer und physischer Gewalt hindert uns daran, den Krieg in seiner Besonderheit (in Bezug auf die eingesetzten Mittel) zu verstehen. Noch wichtiger ist, dass die Darstellung als andauernder „Bürger:innenkrieg“ es schwierig – wenn nicht gar unmöglich – macht, die konkreten strategischen Fragen zu verstehen, die heute im Mittelpunkt der Situation stehen.

Erstens muss es für einen „Bürger:innenkrieg“ nicht nur eine, sondern zwei Seiten auf dem Kriegspfad geben, und hier ergibt sich ein Schlüsselproblem für das Nachdenken über die Aussichten der Revolution heute. Zweitens, und um auf die Ausführungen von Schmitt zurückzukommen, ist es eine Sache, wenn der Staatsapparat autoritäre Mechanismen einsetzt, um die bestehende Ordnung aufrechtzuerhalten, aber es ist etwas ganz anderes, einen Bürger:innenkrieg (d.h. die Liquidierung der bestehenden Ordnung, um eine neue zu erobern) gegen die Massenbewegung zu führen. Diese beiden Begriffe fügen sich wiederum in einem dritten Problem zusammen: die notwendige Problematisierung der bestehenden Mechanismen der bürgerlichen Demokratie und ihrer Rolle bei der Aufrechterhaltung der Herrschaft des Kapitals. Schauen wir uns diese Punkte an.

Für Lazzarato verändert der Krieg unter dem Einfluss des Finanzkapitalismus sein Wesen. Die Umkehrung der Clausewitz’schen Formel findet ihre endgültige Form, wenn der Krieg sich in Kriege innerhalb der Bevölkerung als Politik des Kapitals diversifiziert, die „in ihrem Projekt der Angst, der Befriedung und der Gegensubversion alle Netzwerke wirtschaftlicher Macht einbezieht, durch die sich die neue Ordnung des globalisierten sicherheitspolitischen Kapitalismus entfaltet“15. Er fügt hinzu, dass das Ausmaß dieses Projekts der Angst nicht unendlich ist, sondern durch den Widerstand, der ihm entgegengebracht wird, begrenzt wird. Der Begriff „Widerstand“ selbst ist jedoch problematisch und mehrdeutig. Foucaults bekannter Aphorismus „wo Macht ist, ist Widerstand“ bezieht sich auf einen Begriff des Widerstands, der die Abkehr von der Frage des Staates bekräftigt, welcher nicht mehr als spezieller bewaffneter Apparat konzipiert wird, der die kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse garantiert, sondern als ein Machtverhältnis unter vielen anderen.

Sogar Foucault selbst war sich der Grenzen dieses Ansatzes bewusst, wenn er zum Beispiel sagte: „Ich war keineswegs der erste, der die Frage der Macht aufgeworfen hat […] Das war schon sehr früh seit den 1930er Jahren in trotzkistischen oder aus dem Trotzkismus hervorgegangenen Kreisen geschehen. Sie haben großartige Arbeit geleistet. Sie haben viele wichtige Dinge erwähnt, aber es ist absolut richtig, dass ich das Problem auf eine andere Art und Weise angehe, weil ich nicht versuche, die Fehlentwicklung zu erkennen, die in den Staatsapparaten stattgefunden hat und zu dieser Machterweiterung geführt hat. Im Gegenteil, ich versuche zu sehen, wie im täglichen Leben, in den sexuellen Beziehungen, in den Familien, zwischen den Geisteskranken und den Vernünftigen, zwischen den Kranken und den Ärzten, kurz gesagt, in all dem, eine Inflation der Macht stattfindet. Mit anderen Worten: Die Inflation der Macht hat in einer Gesellschaft wie der unseren nicht nur einen einzigen Ursprung wie den Staat und die staatliche Bürokratie.“16

Unter dem Gesichtspunkt der Machtverhältnisse beleuchtet Foucaults Ansatz eine ganze Reihe von Phänomenen. Aber wenn es darum geht, ihn unter dem Blickwinkel der strategischen Beziehungen zu verwenden, verwässert sich die Perspektive in einer Summe von Widerständen ohne die Möglichkeit eines Sieges. Wie Lazzarato betont, „erklärt Foucault nicht, wie der Übergang von Beherrschten zu Gegnern erfolgt“17. Das Problem ist, dass nach Clausewitz die absolute Verteidigung, der reine Widerstand, „dem Begriff des Krieges völlig widerspricht, weil bei ihr nur der eine Krieg führen würde“18. In diesem Schema wäre der Krieg, der in der Politik fortgesetzt wird, gemäß der Umkehrung der Clausewitz’schen Formel ein einseitiger „Krieg“.

Lazzarato problematisiert zahlreiche Aspekte von Foucaults Werk und weist an dieser Stelle auf die große Einschränkung hin, die sich der französische Philosoph dadurch auferlegt hat, dass er die Entwicklungen des strategischen Denkens im Marxismus praktisch ignoriert hat. Jedoch bleibt der „permanente Bürger:innenkrieg“, auf den sich Lazzarato – als zentrales Element seiner Theoretisierungen – bezieht, ein „einseitiger Krieg“, der mit dem Begriff des reinen Widerstands verbunden ist. Es ist wichtig zu betonen, dass Lazzarato den Bürger:innenkrieg nicht einfach als eine Perspektive in Bezug auf eine revolutionäre Strategie betrachtet, sondern als eine konstante, operative Realität, die die Gegenwart beschreibt.

Wie Clausewitz hervorhebt, beginnt der Krieg selbst nicht mit der Offensive, sondern mit der Verteidigung, mit der Aktion des „Abwehren eines Stoßes“. Aus diesem Grund ist ein einseitiger Krieg ein Widerspruch in sich. Der Angreifer will erobern, seinen Willen durchsetzen, und wenn er dies tun kann, ohne auf wirksamen Widerstand zu stoßen, um so besser. Wenn wir von Verteidigung sprechen, meinen wir deshalb nicht die „passive Verteidigung“ oder den „reinen Widerstand“, was für den preußischen General eine strategische Absurdität darstellte, sondern diejenige Verteidigung, die offensive Elemente – „geschickte Streiche“ nach Clausewitz – enthält. Denn die Verteidigung selbst kann nur dazu dienen, das Kräfteverhältnis zugunsten des Verteidigers zu verändern und die Möglichkeit eines Gegenangriffs zu eröffnen, der nicht mehr und nicht weniger ist als die „Verwirklichung“ der Verteidigung selbst.

Betrachten wir den Zeitraum von der Krise 2008 bis heute, so stellen wir fest, dass in der Hitze der Prozesse von Mobilisierungen und Revolten neoreformistische oder „linkspopulistische“ politische Führungen wie Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien, Boric in Chile usw. entstanden sind, die man nicht verdächtigen kann, eine ernsthafte Verteidigung der Massenbewegung anzuführen. Lazzarato argumentiert in diese Richtung, wenn er sagt: „Seit 2011 haben die antikapitalistischen Bewegungen die Modalitäten des subjektiven Bruchs vervielfacht. Sie sehen sich jedoch schnell mit einer ausweglosen Situation konfrontiert. […] Die aus diesen Bewegungen hervorgegangenen ’neuen Parteien‘ nehmen kosmetische Änderungen an der parlamentarischen Vertretung vor und reproduzieren die Illusion, dass diese ‚Politik‘ etwas verändern kann, obwohl doch gerade eine ‚andere Politik‘ innerhalb der Gouvernementalität unmöglich ist. Das hat das jüngste Wahlmissgeschick von ‚Podemos‘ in Spanien gezeigt (das an den Toren der ‚Macht‘ scheitert). Weniger als ein Jahr nach dem Syriza-Fiasko…“.19

Weit entfernt von Lazzaratos Vision des „permanenten Kriegs“ ergeben sich letztlich zyklische Prozesse der Mobilisierung und Institutionalisierung, bei denen die Aufstände der letzten Jahre trotz ihrer Massivität und Stärke von den etablierten Mächten zerschlagen oder assimiliert werden, ohne dass es zu neuen Revolutionen kommt. Eine Art Ökosystem der Reproduktion bürgerlicher Regime in der Krise, mit rechten und ultrarechten Kräften auf der einen Seite und Neoreformismen und Linkspopulismen auf der anderen Seite, die den verfallenden kapitalistischen Regimen das Überleben sichern.

Lazzarato argumentiert: „Die beiden Mobilisierungszyklen von 2011 und 2019-2021, die durch Repression und Konterrevolution unterbrochen wurden, laden uns dazu ein, das strategische Wissen über Revolutionen zurückzuerlangen“20. Wir stimmen mit letzterem überein, aber genau dies erfordert von uns heute die Feststellung, dass diese Prozesse nicht nur – und nicht vor allem – durch Repression unterbrochen wurden, sondern in den meisten Fällen durch Mechanismen der Umlenkung im Rahmen der bürgerlich-demokratischen Regime. Dies gilt nicht nur für Europa und die zentralen Länder, wie Lazzarato in seiner Analyse zu behaupten scheint, sondern auch für einen Großteil der kapitalistischen Peripherie. Denn die neoliberale Offensive ging in vielen Ländern der Peripherie, in fast ganz Lateinamerika, einem Teil Afrikas und Asiens, gerade mit der Ausweitung der bürgerlichen Demokratie einher, je nach Fall mit mehr oder weniger bonapartistischen Zügen.

Betrachtet man diese beiden Mobilisierungszyklen, so hatten jene Prozesse den Charakter von Revolten (für eine Analyse verweisen wir auf das Buch Von der Mobilisierung zur Revolution21 ), die trotz ihrer riesigen Mobilisierungen und all der Energie, die von den Massen eingesetzt wurde, nicht zu „Bürger:innenkriegen“ geführt haben (obwohl es einige Elemente davon gab, wo die Konfrontationen schärfer waren, zum Beispiel in Chile, Kolumbien, Bolivien, Myanmar usw.). Eine der wenigen Ausnahmen in diesem Sinne ist Ägypten im Jahr 2011, wo ein revolutionärer Prozess eingeleitet wurde, der durch den konterrevolutionären Putsch von Al-Sisi schnell niedergeschlagen wurde. An anderen Orten wie Syrien führte der Prozess zu einem – allerdings reaktionären – Bürger:innenkrieg, auch wenn dieser als fortschrittliches Phänomen die Entwicklung des Kampfes des kurdischen Volkes hatte (dessen Unabhängigkeit sich jedoch im Rahmen der militärischen Bündnisse mit den USA und dann mit Assad gegen die türkischen Angriffe verwässerte).

Diese Beobachtung ist aus zwei Gründen von höchster Wichtigkeit. Erstens handelt es sich in vielen Fällen, da sie nicht durch Repression besiegt wurden, um Prozesse, die in gewisser Weise offen bleiben (je nach den besonderen Merkmalen des jeweiligen Falles), d.h. sie stellen keine strategischen Niederlagen der Massenbewegung „im Kampf“ dar. Stattdessen wirkten die Kräfte, die gegen die Entwicklung dieser Prozesse von Aufständen zu Revolutionen arbeiteten, zum großen Teil eher auf die „moralische Kraft“ der Massenbewegung als auf ihre „physische Kraft“ ein und demoralisierten und demobilisierten sie. Zweitens impliziert deshalb die Vorbereitung darauf, die zirkuläre Beziehung zwischen Mobilisierung und Institutionalisierung zu durchbrechen, die Notwendigkeit der Vorbereitung auf noch schärfere Szenarien des Klassenkampfes als die gegenwärtigen. Hierfür ist es in der Tat von grundlegender Bedeutung, das gesamte angesammelte strategische Wissen zurückzuerlangen und zu erneuern; die Frage ist, welche konkreten Begriffe wir dem geben.

These XII. Organische Krisen oder Tendenzen dazu haben bis heute nicht zu „faschistischen“ Regierungen geführt, sondern zu schwachen bonapartistischen Regierungen. Es gibt keinen (friedlicheren) „Neofaschismus“, der den „klassischen“ Faschismus (Bürger:innenkrieg) ersetzt hätte. Dessen Entstehungsmöglichkeit besteht noch, ebenso wie die der Revolution.

Ein charakteristisches Merkmal seit der Krise von 2008 ist die Verbreitung autoritärer Elemente und die Konzentration der Macht in bestimmten Institutionen – im Allgemeinen in der Exekutive – innerhalb bestehender bürgerlich-demokratischer Regime. Wie Lazzarato betont: „Wenn es der Wirtschaft nicht gut geht, geht es auch der Demokratie nicht gut, die Zentralisierung der politischen Macht in der Exekutive, die Marginalisierung des Parlaments, der permanente Ausnahmezustand sind die Kehrseite der Zentralisierung der Wirtschaft. Die beiden Konzentrationen von wirtschaftlicher und politischer Macht sind konvergierende Parallelen und eine verstärkt die andere.“22 Diese Elemente, die in der Tradition des Marxismus als „bonapartistische“ Merkmalen bezeichnet werden, werden jedoch häufig mit der Kategorie „Faschismus“ vermengt. In Lazzaratos eigener Analyse sehen wir etwas davon, wenn er feststellt, dass „man über/an die systematische Koexistenz von Faschismus und Demokratie nachdenken muss“.

Wie bereits erwähnt, ist Lazzaratos von Schmitt übernommene Behauptung, dass sich im Chaos keine Normen durchsetzen können, zwar zutreffend. Aber das steht im Widerspruch zur Idee, die der italienische Soziologe damit verbindet, dass dies zur Notwendigkeit einer „präventiven Normalisierung“ führe, welche nicht nur die Anwendung von Gewalt, sondern auch die Entwicklung eines Bürger:innenkriegs einschließe. Dieser Widerspruch wird deutlich, wenn man den Begriff „Bürger:innenkrieg“ in seiner vollen Bedeutung versteht, d. h. als die Aufteilung einer bestimmten „politischen Einheit“ in bewaffnete Parteien, die sich militärisch bekämpfen. Oder, weiter gefasst, als eine besondere Phase des Klassenkampfes, wenn dieser, „indem er den Rahmen der Legalität durchbricht, sich auf die Ebene einer öffentlichen und bis zu einem gewissen Grad physischen Konfrontation der gegnerischen Kräfte erhebt“23. Wie wir schon gesagt haben, hatte Schmitts Auseinandersetzung mit diesem Problem (die Garantie der Ordnung für die Aufrechterhaltung der Normen) das Ziel, die Aussicht auf einen Bürger:innenkrieg zu vermeiden oder auszuschließen. Seine Überlegungen durchliefen verschiedene Stadien, die er aber mit der Figur des Reichspräsidenten als legitimem „Hüter der Verfassung“ (in seinen Begriffen von 1931) verbindet.

In ähnlicher Weise betont Leo Trotzki in seiner allgemeineren Definition des Bonapartismus, dass dieser sich über die kämpfenden Lager erhebt, um das kapitalistische Eigentum zu bewahren und die Ordnung durchzusetzen, und fügt hinzu: er „unterdrückt […] den Bürgerkrieg, verhindert diesen oder lässt sein Wiederaufflackern nicht zu.“24 Ausgehend von diesem Rahmen unterscheidet er die Bonapartismen nach den verschiedenen historischen Etappen und analysiert insbesondere diejenigen, die sich ab dem zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entwickelt haben und für die Phase der Vorherrschaft des Finanzkapitals typisch sind. Er entwickelt die Kategorie des „Kerenskiismus“ (über die Russische Revolution hinaus), um schwache Bonapartismen zu erklären, eine Art „Bonapartismus ohne Bonaparte“ oder, in Gramscis Worten, „Cäsarismen ohne Cäsar“. Er entwickelt auch die Kategorie des „Vor-Bonapartismus“ (oder „vorbeugenden Bonapartismus“, wie er es 1934 formulierte), um jene Bonapartismen zu analysieren, die ein extrem instabiles und kurzes Gleichgewicht zwischen den gegnerischen Klassen widerspiegeln. Gleichzeitig unterscheidet er diese Bonapartismen, bei denen es sich um Übergangsphänomene handelt, mit denen die Bourgeoisie versucht, sich ohne den Bürger:innenkrieg durchzusetzen, vom Faschismus, der das Proletariat mit bürgerkriegsähnlichen Methoden offen zerschlagen und in „sozialen Staub“ verwandeln will. Der Bonapartismus faschistischen Ursprungs, der aus der Zerstörung, Desillusionierung und Demoralisierung der Massenbewegung entstanden ist, zeichnet sich durch eine viel größere Stabilität aus.

Wenn wir uns die Regierungen der imperialistischen Länder ansehen, ist ein gemeinsames Merkmal die bonapartistische Tendenz innerhalb der bürgerlich-demokratischen Regime. So ist eine Regierung wie die von Macron in Frankreich trotz ihres langen Weges, trotz der Konfrontation mit den „Gelbwesten“, den Streiks gegen die Rentenreform usw. immer noch Ausdruck eines schwachen, neoliberalen und pro-europäischen Bonapartismus25. Sie besitzt eine schmale soziale Basis, die aus der Diskreditierung der Abwechslung von Sozialdemokratie und Konservativen an der Macht entstanden ist. Macron versuchte, eine ganze Reihe von Gegenreformen voranzutreiben, wurde aber schnell zermürbt und überlebte unter diesen Bedingungen. Auch eine Regierung wie die von Trump, die von „progressiven“ Kräften immer wieder als „faschistisch“ bezeichnet wird, ging nie über eine schwache bonapartistische Regierung hinaus, welche aus der Krise des überparteilichen neoliberalen Konsenses hervorgegangen war. Eine Regierung, die von Instabilität geprägt war (die Konfrontation zwischen den Geheimdiensten und Sicherheitsbehörden wie dem FBI und der CIA mit der Exekutive, „Russiagate“ usw.).

Insgesamt kann man sagen, dass die Krise von 2008 bisher in verschiedenen Ländern, auch in den imperialistischen Ländern, organische Krisen oder Tendenzen dazu ausgelöst hat, welche zu schwachen bonapartistischen Regierungen geführt haben, die aus den Spaltungen der Gesellschaft, der herrschenden Klasse und des Staatsapparats hervorgegangen sind26. Gleichzeitig muss unterschieden werden, dass die verschiedenen Regierungen dieses Typs Ausdruck unterschiedlicher politischer Phänomene sind, wie die Fälle Macron und Trump zeigen. Fälle wie der letztgenannte bringen eine der Neuerungen nach 2008 zum Ausdruck: die Rechtsentwicklung der Rechten und die Entstehung einer ganzen Reihe rechtsextremer Phänomene (mit Gewicht vor allem in den konservativen Mittelschichten und entpolitisierten Teilen der armen Massen) mit ihren jeweiligen Kombinationen aus Religion, Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, Frauenfeindlichkeit und Rassismus. Die so genannte „neue Rechte“ befindet sich im Allgemeinen rechts von den traditionellen Liberalen und Konservativen, ohne jedoch den Rahmen des neoliberalen Konsenses zu sprengen. Sie entsteht im Kontext der sich verschärfenden Krise der „extremen Mitte“, so wie sich am anderen Ende des politischen Spektrums – und gemäßigter als ihre rechten Pendants – die Neoreformismen und „Linkspopulismen“ entwickelt haben.

Zum Anderen ist es notwendig, Fälle wie die Regierung Bolsonaro in Brasilien zu unterscheiden, die ebenfalls zu dieser vielfältigen Gruppe von „schwachen Bonapartismen“ gehören, aber nicht analysiert werden können, ohne von dem bestehenden Unterschied zwischen bonapartistischen Phänomenen in den zentralen Ländern und der kapitalistischen Peripherie auszugehen. In den zentralen Ländern versuchen diese schwachen bonapartistischen Regierungen, den internationalen Einfluss ihres Imperialismus zum Ausdruck zu bringen (z. B. im Fall von Macron, der eine führende Rolle in Europa anstrebt, im Fall von Trump, der viel offener auf Konfrontation mit China und die Revidierung der Bedingungen der neoliberalen Globalisierung setzte). Währenddessen sind in der Peripherie Fälle wie der von Bolsonaro Ausdruck der unterwürfigsten Abhängigkeit vom ausländischen imperialistischen Kapital27. Denn letzteres hat in diesen Regimen aufgrund der relativen Schwäche der lokalen Bourgeoisien (gegenüber den Arbeiter:innenklassen und dem Imperialismus) besonderes Gewicht28.

Schließlich ist ein Phänomen, das in letzter Zeit an Bedeutung gewonnen hat, die zunehmende Rolle der Justiz als politischer „Schiedsrichter“, nicht nur in Brasilien, Argentinien und anderen Ländern der Peripherie, sondern selbst in den USA, im Spanischen Staat und generell als Tendenz in vielen Ländern. Betrachtet man die Frage oberflächlich unter dem Gesichtspunkt der „Gewaltenteilung“, so scheinen bonapartistische Tendenzen ausschließlich mit der Exekutive verbunden zu sein. Die Gewaltenteilung ist jedoch Teil eines Systems von Mechanismen, die die Wirksamkeit der Herrschaft garantieren sollen, und die Kategorie des „Bonapartismus“ im Marxismus bezieht sich nicht nur auf die Regierung, sondern auch auf das politische Regime. Auf dieser Grundlage kann man von „Justizbonapartismus“ sprechen. Er bezieht sich nicht auf ein voll ausgebildetes bonapartistisches Regime, sondern auf die Entwicklung bonapartistischer Tendenzen innerhalb bürgerlich-demokratischer Regime. Die Ausprägung dieser Tendenzen im Bereich der Justiz ist sowohl eine Reaktion auf das niedrige Niveau der Klassenkämpfe als auch auf das Gewicht, das die Illusionen in die kapitalistische Demokratie in den letzten Jahrzehnten gewonnen haben. Während Schmitt, wie gesagt, in der Exekutive den „Hüter der Verfassung“ sah, vertrat der Jurist Hans Kelsen die Auffassung, dass diese Aufgabe einem Verfassungsgericht zufallen sollte (die so genannte „Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit“ ist einer der Mechanismen schlechthin der richterlichen Schiedsgerichtsbarkeit, um die Durchsetzung von Gesetzen zu verhindern, wenn diese armen Massen gegenüber der Bourgeoisie begünstigen). Der „Justizbonapartismus“ könnte irgendwo in der instabilen Mitte zwischen Kelsens Normativität und Schmitts Ausnahmezustand29 angesiedelt werden.

Zusammengefasst führt das Szenario der Ausbreitung organischer Krisen oder von Elementen davon zu einer stärkeren Präsenz bonapartistischer Tendenzen. Aber innerhalb dieses Panoramas sind die Abstufungen zwischen verschiedenen Phänomenen für die Strategie und für die bestmögliche Identifizierung des genauen Zeitpunkts in der Entwicklung des Klassenkampfes, den sie zum Ausdruck bringen, unerlässlich. Dies bedingt natürlich die Art der Antwort, die vom Standpunkt der revolutionären Kräfte aus nötig ist. Die Vorstellung, dass jedes rechtsextreme Phänomen faschistisch oder neofaschistisch sei, macht es unmöglich, diese Probleme anzugehen. Diese Gleichsetzung verschiedener Regierungen unter dem Etikett „faschistisch“ wird wiederum in der Regel von neoreformistischen oder linkspopulistischen Kräften, welche die Massenbewegung zu demobilisieren versuchen, als „Strohmann“ benutzt, um alle möglichen Vereinbarungen mit bürgerlichen Kräften und Kürzungspläne oder die Unterordnung unter imperialistische Interessen mit dem Arguments des „geringeren Übels“ zu akzeptieren. Nicht der Faschismus, sondern diese spiegelbildliche Beziehung zwischen rechten und ultrarechten Kräften auf der einen Seite und Neoreformismen und Linkspopulismen auf der anderen Seite ist das Hauptphänomen, das derzeit das Ökosystem der Reproduktion der krisengeschüttelten bürgerlichen Regime am Laufen hält.

Lazzarato meint: „Bolsonaro und Trump haben alle verfügbaren Technologien der digitalen Kommunikation genutzt, aber ihr Sieg ist nicht das Ergebnis einer Technologie: Er ist das Ergebnis einer politischen Maschine und einer Strategie, die eine Mikropolitik der traurigen Leidenschaften (Frustration, Hass, Neid, Angst, Furcht) mit der Makropolitik eines neuen Faschismus verbindet, der den von der Finanzialisierung zerstörten Subjektivitäten politische Konsistenz verleiht.“30 Davon gibt es in der Tat viel; das Problem ist wiederum, welche Auswirkungen die Kategorie des „neuen Faschismus“ hat. Natürlich finden wir in der sozialen Basis sowohl des Bolsonarismus als auch des Trumpismus Sektoren mit faschistischer oder faschistoider Ideologie, und bei einer Verschärfung des Klassenkampfes können sie die Grundlage für die Entwicklung breiterer faschistischer Bewegungen sein und im Fall einer regelrechten Niederlage der Arbeiter:innenklasse neue faschistische Regierungen im 21. Jahrhundert hervorbringen. Aber wie gesagt, was heute in Bezug auf Regierung und Regime zum Ausdruck kommt, sind Varianten von schwachen bonapartistischen Regierungen im Rahmen von bürgerlich-demokratischen Regimen mit zunehmend autoritären Zügen.

Lazzarato bejaht die Möglichkeit einer „systematischen Koexistenz von Faschismus und Demokratie“, aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass es sich um unterschiedliche Regime und Phänomene mit spezifischen Beziehungen handelt. Zum Einen neigt die Idee der „systematischen Koexistenz“ dazu, die Unterschiede zu verwischen. Definitorisch ist – zumindest im Marxismus – die Unterscheidung zwischen den beiden Regimetypen unabdingbar, um eine taktische Orientierung in einer konkreten Situation vornehmen zu können. Trotzki gehörte zu denjenigen, die dieses Problem Anfang der 1930er Jahre am entschiedensten gegenüber den stalinisierten kommunistischen Parteien diskutierten, welche behaupteten, dass der Faschismus nichts anderes als eine kapitalistische Reaktion sei und dass vom proletarischen Standpunkt aus die Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen der kapitalistischen Reaktion unwichtig sei. In diesem Sinne betonte Trotzki: „Zwischen Demokratie und Faschismus besteht kein ‚Klassenunterschied‘. […] Aber die herrschende Klasse lebt nicht im luftleeren Raum. Sie steht in bestimmten Beziehungen zu den übrigen Klassen. […] Während er das Regime bürgerlich nennt – was unbestreitbar ist – vergißt Hirsch [stalinistischer Theoretiker, A.d.Ü.] gleich seinen Lehrmeistern eine Kleinigkeit: den Platz des Proletariats in diesem Regime.“31 Das heißt, es gibt zwischen beiden Regime einen wichtigen Unterschied, was den Platz der Arbeiter:innenklasse in ihnen angeht.

Zum Anderen können die Berührungspunkte zwischen Demokratie, Bonapartismus und Faschismus kaum statisch im Sinne einer „systematischen Koexistenz“ behandelt werden, sondern müssen im Hinblick auf eine bestimmte Dynamik konkreter Situationen analysiert werden. Trotzki weist darauf hin, dass der Bonapartismus, wenn er aufkommt, mit einer Kombination aus parlamentarischer Herrschaft und Faschismus beginnt. Wenn der Faschismus triumphiert, ist er seinerseits gezwungen, einen Block mit den bonapartistischen Sektoren zu bilden und, was noch wichtiger ist, sich aufgrund seiner inneren Merkmale immer mehr einem bonapartistischen System anzunähern. Letzteres geschieht, weil das Finanzkapital nicht in der Lage ist, seine Herrschaft nur durch reaktionäre soziale Demagogie und kleinbürgerlichen Terror auszudehnen. Einmal an der Macht, sind die faschistischen Machthaber gezwungen, die Massen, die ihnen folgen, mit Hilfe des Staatsapparats mundtot zu machen, wodurch sie ihre Basis in den breiten kleinbürgerlichen Massen verlieren. Der Staatsapparat assimiliert einen Teil, ein anderer stürzt in Gleichgültigkeit, wieder ein anderer in Opposition. Da er seine Massenbasis verliert, indem er sich auf den Staatsapparat stützt und zwischen den Klassen oszilliert, wird der Faschismus seinerseits zum Bonapartismus32.

Lazzarato unterscheidet zwischen den Faschismen der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und denen, die er als Faschismus heute einstuft. Nach seiner Definition des „neuen Faschismus“ wäre eine solche Koexistenz von Demokratie und Faschismus heute möglich, denn: „Der historische Faschismus war eine der Modalitäten, um die zerstörerische Kraft des totalen Krieges zu verwirklichen; der Faschismus, der heute vor unseren Augen wächst, ist dagegen eine der Modalitäten des Krieges gegen die Bevölkerung. Der neue Faschismus muss nicht einmal ‚gewalttätig‘, paramilitärisch sein, wie der historische Faschismus, welcher versuchte, die Organisationen der Arbeiter:innen und Bäuer:innen militärisch zu zerstören. Denn die heutigen politischen Bewegungen sind, anders als der ‚Kommunismus‘ der Zwischenkriegszeit, weit davon entfernt, die Existenz des Kapitals und seiner Gesellschaft zu bedrohen: in den letzten Jahrzehnten gab es keine revolutionären politischen Bewegungen in den USA, Europa oder Lateinamerika, auch nicht in Asien.“33

In der Tat existiert der „historische Faschismus“ heute aufgrund dieser von Lazzarato hervorgehobenen Elemente nicht. Dies bedeutet jedoch nicht, dass er durch den „neuen Faschismus“ ersetzt wurde – der nicht einmal gewalttätig oder paramilitärisch sein müsse –, sondern vielmehr, dass die herrschenden Klassen noch nicht auf diese Alternative zurückgreifen mussten, weil es keine Klassenkämpfe gibt, die dies rechtfertigen. Aus der Kategorie des „neuen Faschismus“ ergibt sich, dass der „historische Faschismus“ eine Frage der Vergangenheit wäre und nicht, wie wir annehmen, der Zukunft; und wir sprechen nicht von einer unbestimmten Zukunft, sondern von einer, die zusammen mit Krieg und Revolution in die tiefsten Tendenzen der gegenwärtigen Etappe eingeschrieben ist. Im Hinblick auf die revolutionäre Strategie ist die Vorbereitung auf das Wiederaufleben dieser „klassischen“ Phänomene von grundlegender Bedeutung. Dies bedeutet nicht, dass sie mit identischen Merkmalen auftauchen, ganz im Gegenteil. Aber es bedeutet, dass ihr Kern, der „Bürger:innenkrieg“ gegen die Arbeiter:innenklasse und die Massenbewegung, nicht als bestimmendes Thema aus den Augen verloren werden darf, um jeden unangebrachten Pazifismus zu vermeiden.

Fußnoten

1. Lazzarato, Maurizio, Guerra o revolución. Por qué la paz no es una alternativa, a.a.O., S. 94. Eigene Übersetzung.
2. General Beaufre war ein Vertreter der letztgenannten Art der funktionalen Definition: „Einige, wie Bouthoul, versuchten, den Krieg anhand seines blutigen Aspekts zu charakterisieren. Meiner Meinung nach ist dies ein zu spezieller Ansatz, da er nur die militärische Kriegsführung betrifft. Er umfasst nicht die manchmal sehr ernsten Konfrontationen, die wirtschaftliche und politische Kriege darstellen, die sich ohne Schlachten und Kämpfe entwickeln können“ (Beaufre, André, La guerra revolucionaria, Buenos Aires, Editorial Almena, 1979, S. 50. Eigene Übersetzung).
3. Aron, Raymond, Pensar la Guerra, Clausewitz, Band II The Planetary Age, Buenos Aires, Instituto de Publicaciones Navales, 1987, S. 48. Eigene Übersetzung.
4. Vgl. Lenin, W. I., „Über Streiks“, in: Werke, Band 4.
5. Trotzki, Leo, Wohin geht Frankreich? 2. Teil, 1935. Abrufbar unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1935/wohinfr2/01.htm
6. Lazzarato, Maurizio, Guerra o revolución. Por qué la paz no es una alternativa, a.a.O., S. 95. Eigene Übersetzung.
7. Trotzki, Leo, Los problemas de la guerra civil, 1924. Eigene Übersetzung.
8. Trotzki, Leo, Enseñanzas de la derrota de octubre de 1934. Eigene Übersetzung.
9. Lazzarato, Maurizio, Guerra o revolución. Por qué la paz no es una alternativa, a.a.O., S. 66. Eigene Übersetzung.
10. Trotzki, Leo, Enseñanzas de la derrota de octubre de 1934. Eigene Übersetzung.
11. Lazzarato, Maurizio und Alliez, Éric, Guerras y capital, a.a.O, S. 42. Eigene Übersetzung..
12. Ebd., S. 43. Eigene Übersetzung.
13. Lazzarato, Maurizio, Guerra o revolución. Por qué la paz no es una alternativa, a.a.O., S. 57. Eigene Übersetzung.
14. Marx, Karl, Erster Entwurf zum „Bürgerkrieg in Frankreich“, 1871. Abrufbar unter: http://www.mlwerke.de/me/me17/me17_493.htm
15. Lazzarato, Maurizio und Alliez, Éric, Guerras y capital, a.a.O. S. 372. Eigene Übersetzung.
16. Foucault, Michel, Dits et écrits III, Gallimard, S. 408. Eigene Übersetzung.
17. Lazzarato, Maurizio und Alliez, Éric, Guerras y capital, a.a.O. S. 427. Eigene Übersetzung.
18. Clausewitz, Carl, Vom Kriege. Band 2, Sechstes Buch.
19. Lazzarato, Maurizio und Alliez, Éric, Guerras y capital, a.a.O. S. 428. Eigene Übersetzung.
20. Ebd., S. 25. Eigene Übersetzung.
21. Vgl. Maiello, Matías, De la movilización a la revolución, Buenos Aires, Ediciones IPS, 2022.
22. Lazzarato, Maurizio, Guerra o revolución. Por qué la paz no es una alternativa, a.a.O. S. 34. Eigene Übersetzung.
23. Trotzki, Leo, Los problemas de la guerra civil, 1924. Eigene Übersetzung.
24. Trotzki, Leo, Der deutsche Bonapartismus, 1932. Abrufbar unter: https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1932/leo-trotzki-der-deutsche-bonapartismus
25. Vgl. Barot, Emmanuel, https://www.revolutionpermanente.fr/Entre-pire-et-moindre-mal-Le-tandem-Le-Pen-Macron-ou-comment-etre-piege-entre-deux-variantes-du
26. Vgl. Cinatti, Claudia, https://www.laizquierdadiario.com/El-traspie-de-Trump-no-es-fake-news
27. Vgl. Matos, Daniel, https://www.laizquierdadiario.com/Bolsonaro-fascismo-o-bonapartismo
28. Es ist wichtig festzustellen, auch wenn es hier nicht darum geht, dass gerade die Konzentration der Macht in der Exekutive, die Marginalisierung des Parlaments usw. zu unterschiedlichen Ausdrucksformen in der Peripherie führen. In diesem Sinne entwickelt Trotzki auch den Begriff des „Bonapartismus sui generis„, um einen besonderen Typus des Bonapartismus zu beschreiben, der für die halbkoloniale Welt spezifisch ist. Dort macht die Schwäche der lokalen Bourgeoisie die Arbeiter:innenklasse und den Imperialismus zu den beiden grundlegenden Klassen. Der Bonapartismus sui generis kann entweder ein Instrument des Imperialismus sein, um die Ketten des Proletariats anzuziehen, oder er kann sich auf die Arbeiter:innenklasse stützen und ihr sogar Zugeständnisse machen, um eine gewisse Unabhängigkeit vom Imperialismus zu erlangen, während sie die Massenbewegung reglementiert (mit diesem „linken“ Bonapartismus sui generis erklärte Trotzki die Regierung Cárdenas in Mexiko). Obwohl es in den letzten Jahrzehnten keine Phänomene gab, die dieser Definition voll und ganz entsprachen (am ehesten noch Chávez in Venezuela), lassen sich einige Elemente in diesem Sinne beispielsweise in den so genannten „Linkspopulismen“ in Lateinamerika erkennen.
29. Zur Entwicklung des „Justizbonapartismus“ vgl.: Maiello, Matías, https://www.laizquierdadiario.com/Bonapartismo-de-toga
30. Lazzarato, Maurizio, Capital Hates Everyone. Eigene Übersetzung.
31. Trotzki, Leo, Was Nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats, 1932. Abrufbar unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1932/wasnun/kap02.htm
32. Vgl. Trotzki, Leo, Bonapartismus und Faschismus, 1934. Abrufbar unter: https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1934/leo-trotzki-bonapartismus-und-faschismus
33. Lazzarato, Maurizio, Capital Hates Everyone. Eigene Übersetzung.

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