Italien: Noch ein Referendum, noch ein Sieg für die Arbeiter*innenklasse?
Ein neues Referendum mit Verbesserungen für die Arbeiter*innenklasse drohte in Italien. Die herrschende Klasse bekam Angst, jetzt findet es wohl nicht statt. Reformen kommen trotzdem raus – ein widersprüchliches Ergebnis. Ein Gastbeitrag.
Nach dem Referendum, das den Versuch einer reaktionären Verfassungsreform im Dezember verhindert hatte, war in Italien ein weiteres Referendum vorbereitetet worden. Wir benutzen hier die Vergangenheitsform, weil es höchstwahrscheinlich nicht mehr stattfinden wird.
Dieses Mal kam der Vorschlag eines neuen Referendums aus der Gewerkschaft CGIL heraus, das heißt aus der größten italienischen Gewerkschaft, die unter den „offiziellen“ Gewerkschaften auch die linkeste ist. Das ursprüngliche Konzept der CGIL beinhaltete drei Punkte und die Abstimmung sollte drei spezifische Objekte betreffen: die Abschaffung des Gesetzes, das 2015 den „Artikel 18“ aufgehoben hatte, die Abschaffung der sogenannten „Voucher“ (Gutscheine) und die Außerkraftsetzung einer Norm, die 2003 das Prinzip der „solidarischen Verantwortlichkeit“ abgeschafft hatte.
Artikel 18 war ein wichtiger Schutz für Arbeiter*innen gegen die Willkür der Kapitalist*innen: 1970 dank der schlagkräftigen Arbeiter*innenkämpfe in den Jahren 1968/69 eingeführt, verhinderte er die wahllose und willkürliche Entlassung der Arbeiter*innen. Im Rahmen des „Jobs Act“ wurde er dann 2015 von der Renzi-Regierung stark abgeändert und praktisch abgeschafft.
Voucher: eine neue Form der Ausbeutung
Hingegen sind die Voucher eine neuere Form der Ausbeutung. Sie sind eine Art Gutschein, damit Bosse ihre Arbeiter*innen entlohnen können, ohne sie unter Vertrag zu nehmen. Obwohl Voucher bereits zwischen 2003 und 2008 in Kraft traten, spielten sie vom Jahr 2012 an eine zunehmende Rolle innerhalb des italienischen Arbeitsmarktes. In ihrer ursprünglichen Funktion sollten sie „Schwarzarbeit“ (illegalisierte Arbeit) bekämpfen, die in Italien ein großes Phänomen ist (laut verschiedenen Statistiken bildet sie über fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts).
Voucher wurden für spezifische Bereiche eingesetzt, wie in der Feldarbeit oder im Haushalt, und blieben auf den Niedriglohnsektor beschränkt. Nach und nach wurden diese Beschränkungen aufgehoben, so dass die Voucher am Ende praktisch in jedem Bereich und für hohe Summen verwendbar waren. Für Kapitalist*innen ergaben sich viele Vorteile: Ein Voucher bildet keinen Vertrag, deshalb fehlen alle Bestandteile zum Arbeitsschutz wie Urlaubsanspruch, Lohnfortzahlung, Dienstalter, Mutterschutzund so weiter.
Es bleibt fast nur das bloße Ausbeutungsverhältnis, das die Arbeiter*innen den Ausbeuter*innen unterwirft (der Anteil an Sozialabgaben ist geringer als bei vertraglich geregelten Arbeitsverhältnissen). Ein Traum für jede*n Kapitalist*in! Die Verwendung der Voucher stieg jedes Jahr an und verfielfachte sich zwischen 2008 und 2016. Innerhalb der Arbeiter*innenklasse wurden sie bald besonders unbeliebt, da sie von den Arbeiter*innen als neue Stufe ihrer Prekarisierung und als Beseitigung der Errungenschaften von 50 Jahren Arbeitskämpfen gesehen wurden. Außerdem haben sie dank besonderer Dynamiken die illegalisierte Arbeit nicht bekämpft, sondern gefördert.
Abschließend sah das Prinzip der „solidarischen Verantwortlichkeit“ vor, dass beim Subunternehmer*innenverhältnis Auftraggeber*in und Subunternehmer*in die gleiche Verantwortlichkeit in Bezug auf die Belegschaft hatten. Das sollte massive und regelmäßige Entlassungen in vielen Bereichen verhindern, beispielsweise bei den Telefonkonzernen oder in der Logistik.
Das neue Referendum: ein paradoxes Gebilde
Insgesamt war das Ziel dieses Referendumsvorschlags, die Prekarisierung der Arbeit zu bekämpfen. Ein paradoxes Ziel, wenn wir darüber nachdenken, dass die CGIL anlässlich der Verabschiedung des Jobs Act nichts tat. Bei vielen Gelegenheiten war sie Mittäterin der Regierung gegen die Interessen der Arbeiter*innenklasse (z.B. anlässlich der letzten Verlängerungen der Tarifverträge).
Mit einer politischen Entscheidung erklärte dann das Verfassungsgericht den ersten Teil des Referendums über Artikel 18 für ungültig, aber trotzdem gibt es eine gute Möglichkeit für die Arbeiter*innenklasse, ihre Arbeits- und Lebensbedingungen zu verbessern. Es ergibt sich die Chance, das politische Bewusstsein und das organisatorische Niveau dank der Kampagne vor der Abstimmung zu heben. Zudem kann sich die Moilisierung auch gegen die CGIL und ihre vergangenen Entscheidungen richten.
Aber am 17. März kündigte Ministerpräsident Gentiloni an, dass die Regierung die Voucher abschaffen und das Prinzip der solidarischen Verantwortlichkeit wieder einführen möchte. Tags darauf waren zwei Dekrete schon bereit. Gentiloni behauptete ausdrücklich, das Land brauche keine gesellschaftliche und politische Spaltung. Wichtige Tageszeitungen der Bourgeoisie (Corriere della sera, Sole24ore) schrieben über die Auseinandersetzung zwischen Arbeiter*innen und Ausbeuter*innen und ihre „Ideologisierung“.
Zusammenfassend hatten Regierung und Bourgeoisie Angst vor einer erneuten Niederlage, ähnlich der im Dezember und vor einer Kampagne, die die Grundlage der kapitalistischen Ausbeutung zur Diskussion stellen könnte. Genauer gesagt befürchteten sie die Rückkehr des Gespenstes des Klassenkampfs! Daher haben sie entschieden, diese Schlacht statt des gesamten Kriegs zu verlieren.
Wie ist das Ergebnis zu bewerten?
Höchstwahrscheinlich wird das Referendum jetzt nicht mehr stattfinden, man wartet noch auf den offiziellen Beschluss. Wie sollen wir dieses Ereignis deuten? Einerseits haben die Arbeiter*innen die Möglichkeit verloren, angesichts der kommenden Kämpfe eine starke Kampagne innerhalb ihrer Klasse zu entwickeln und damit ein höheres organisatorisches Niveau zu erreichen. Andererseits ist es ein Sieg, bei dem die Arbeiter*innenklasse mit der solidarischen Verantwortlichkeit und der Abschaffung der Voucher zwei wichtige Ergebnisse verzeichnen kann. Dieser Sieg soll an allen Arbeitsplätzen verkündet werden, aber zugleich müssen wir wissen, dass der Rückzug der Regierung bloß taktisch ist, weil die Bourgeoisie schon Ersatzmaßnahmen vorbereitet.
Wir können hieraus ableiten, dass die Linke die richtige Strategie verfolgte, indem sie anlässlich des Verfassungsreferendums mobilisierte, obwohl es um einen „bürgerlichen“ Kampf ging. Die vorangegangenen Niederlagen waren ausschlaggebend für die Entwicklung der italienischen Klassenverhältnissen, die sich jetzt ein bisschen mehr in unsere Richtung neigen, wie uns dieses Ereignis gezeigt hat.