Ist Israel ein faschistischer Staat?

02.04.2024, Lesezeit 10 Min.
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Protest gegen die Justizreform in Tel Aviv 2023. Bild: Shakked Rashty / Shutterstock.com.

In der palästinasolidarischen Bewegung hört man immer wieder, Israel sei faschistisch. In diesem Artikel begründen wir, warum dies nicht zutrifft und welche Konsequenzen das für den Kampf gegen Genozid, Apartheid und Besatzung hat.

Auf pro-palästinensischen Protesten hört man häufig Parolen wie
„Israel’s a fascist state“ oder „Zionisten sind Faschisten“. Angesichts des Genozids an der Bevölkerung Gazas und der möglichen Ausweitung des Kriegs, der brutalen Unterdrückung der Palästinenser:innen in der Westbank und des Aufstiegs ultra-rechter Politiker:innen, die sich teilweise selbst kokettierend als faschistisch bezeichnen, ist die These, dass Israel ein faschistischer Staat sei, verständlich.

Faschismus: eine Form der Herrschaft des Großkapitals gestützt auf das Kleinbürger:innentum

Der Faschismus-Begriff sollte jedoch nicht als moralische Kategorie für besonders grausam agierende Staaten genutzt werden, da die tatsächlichen Wurzeln und Mechanismen des Faschismus so verschleiert werden. Wenn wir eine Strategie gegen Unterdrückung und Krieg entwickeln wollen, helfen uns solche moralischen Debatten kaum weiter. Stattdessen ist eine wissenschaftliche Analyse des Faschismus, die seine historischen Bedingungen, insbesondere seine Rolle im Klassenkampf, betrachtet, notwendig. Extremer Nationalismus, Militarismus und Rassismus bis hin zu ethnischen Säuberungen sind zwar Merkmale des Faschismus, allerdings keine Alleinstellungsmerkmale. All diese Merkmale treffen und trafen häufig auch auf liberal-demokratische Staaten zu. So hat die US-Regierung einige der abscheulichsten imperialistischen Verbrechen der Geschichte begangen.

Der Faschismus entstand im Europa der 1920er Jahren, einer Zeit, in der der Kapitalismus von tiefgreifenden Krisen betroffen war. Er war ein Phänomen der imperialistischen Zentren, in denen die kapitalistische Entwicklung bereits weit fortgeschritten war und die Kapitalist:innen begannen, ihre Herrschaft weit über die Nationalgrenzen hinweg auszudehnen. Die Kapitalist:innenklasse sah ihre Herrschaft akut bedroht durch die Stärke der organisierten Arbeiter:innen und die Möglichkeit einer sozialistischen Revolution. Die Unterstützung des Faschismus stellte für sie den letzten Ausweg dar, um dieser Bedrohung zu entgehen. Außerdem stellte der Krieg für Großkapital eine Notwendigkeit dar und die Faschist:innen waren die kriegswilligste politische Kraft. Die Verflechtung wird deutlich an der direkten finanziellen Unterstützung der faschistischen Parteien durch bedeutende Kapitalist:innen und deren Beeinflussung der Politik in Richtung einer Machtübertragung an die Faschisten. So unterstützte beispielsweise der Großindustrielle Fritz Thyssen bereits ab 1923 die NSDAP mit großzügigen Spenden.

Der Faschismus war aber mehr als ein Komplott der Großbourgeoisie. Seine hauptsächliche soziale Basis war das Kleinbürger:innentum. Das Kleinbürger:innentum stellt einen Überbleibsel aus der vor- und frühkapitalistischen Produktionsweise dar, war in Deutschland und Italien des frühen 20. Jahrhunderts aber zahlenmäßig groß. Es lebt nicht vom Verkauf seiner Arbeitskraft an Kapitalist:innen, verfügt jedoch auch nicht über Produktionsmittel im nennenswerten Umfang. Zu ihm gehören Bäuer:innen, Handwerker:innen, Ladenbesitzer:innen und Beamt:innen. Es war ökonomisch verzweifelt, durch den Krieg gebeutelt und von sozialem Abstieg bedroht. Auf ihm lastete der Druck des Monopolkapitals auf der einen und der Druck der Arbeiter:innenklasse auf der anderen Seite. Es fürchtete eine Liquidierung seiner Privilegien durch die Arbeiter:innenbewegung und wurde vom Großkapital ausgeblutet und zu Tode konkurriert, wodurch ein „Abrutschen“ in die Arbeiter:innenklasse oder völlige Deklassierung drohte. Zwischen den Hauptklassen wurde es also zermalmt und wandte sich so der faschistischen Ideologie zu, die vorgab, nicht nur die schädlichen Einflüsse der Arbeiter:innenbewegung, sondern auch des Finanzkapitals zu bekämpfen. Letztendlich wurden die faschistischen Kleinbürger:innen aber zum Instrument des Monopolkapitals, welches mittels des Faschismus seine Herrschaft sichern konnte. Das radikalisierte Kleinbürger:innentum formierte sich in paramilitärischen Milizen, die den bewaffneten Kampf gegen die Arbeiter:innenklasse aufnahmen, indem sie etwa Streiks, Versammlungen und Demonstrationen attackierten und so die faschistische Herrschaft durchsetzten.

Der Faschismus ist also, wie die liberale Demokratie, eine Form der Herrschaft des Großkapitals. Während die Herrschaftsform der liberalen Demokratie sich aber auf reformistische Arbeiter:innenorganisationen wie Gewerkschaften oder sozialdemokratische Parteien und deren Integration in das System stützt, besteht der Kern der faschistischen Herrschaft gerade in der Zerschlagung aller Arbeiter:innenorganisationen durch eine kleinbürgerliche Massenbewegung und nach der Machtergreifung durch den Staatsapparat, gleichgültig ob sie revolutionär oder reformistisch sind. 

Im Faschismus wurden konsequenterweise alle demokratischen Rechte, wie die Wahl- oder Meinungsfreiheit, abgeschafft und das für alle Teile der Bevölkerung. Jede Form der unabhängigen Organisierung wurde verunmöglicht, das gesamte politische, journalistische und kulturelle Leben wurde unter die Kontrolle der faschistischen Herrschaft gebracht und straff hierarchisch organisiert. Aufgrund seiner inneren Widersprüche sowie des starken Expansionsdrangs konnte der Faschismus sich meist nicht für eine lange Zeit halten und ist nach einigen Jahren zusammengebrochen. 

Israel: Zionismus, Apartheid und Besatzung

Die Betrachtung des israelischen Staates zeigt, dass viele der Voraussetzungen, die historisch zum Faschismus führten, sowie relevante charakteristische Eigenschaften nicht gegeben sind. Israel spielt zwar für den westlichen Imperialismus eine entscheidende Rolle, ist aber kein eigenständiger imperialistischer Akteur. Israel ist zwar wie Deutschland und Italien in den 1920er und 1930er eine kapitalistische Klassengesellschaft, es bestehen aber kaum nennenswerte innere Kräfte, die diesen Zustand bedrohen würden. Ein großer Teil der israelischen politischen Organisationen ist mit dem System, welches auch auf der Unterdrückung und Vertreibung der Palästinenser:innen beruht, grundsätzlich einverstanden, auch wenn sie in anderen Fragen untereinander Differenzen haben.

Da die zahlenmäßig sehr kleine linke Opposition keine ernsthafte Gefahr für das Fortbestehen Israels als kapitalistischer, siedlerkolonialer Staat darstellt, wird ihre Existenz bis zu einem gewissen Grade geduldet. Dies wird daran deutlich, dass Antizionist:innen an den Universitäten lehren und in bedeutenden Zeitungen schreiben dürfen. Sogar eine kommunistische und dem Selbstverständnis nach pro-palästinensische Partei ist im israelischen Parlament vertreten. Auch existieren Gewerkschaften, die nicht direkt vom Staat abhängig sind. Der große Gewerkschaftsbund Histadrut steht allerdings unter viel größerem Einfluss des Regimes als Gewerkschaftsverbände wie etwa der DGB. Er fungiert als Agent des kolonialen Projekts und spielt eine entscheidene Rolle bei der Unterdrückung der Palästinenser:innen, indem er etwa dafür sorgte, Palästinenser:innen aus dem Arbeitsmarkt zu drängen. Es gibt jedoch auch Gewerkschaften innerhalb des Histadrut, in denen palästinensische Arbeiter:innen organisiert sind, sowie von ihm unabhängige Gewerkschaften. 

Israelischen Staatsbürger:innen werden viele demokratische Rechte zugesichert, sie sind in der Lage zu wählen und – mit Abstrichen – ihre Meinung zu äußern, Demonstrationen abzuhalten und politische Organisationen zu gründen. Selbstverständlich kann Israel aufgrund des gegenüber der palästinensischen Bevölkerung durchgesetzten Apartheidregimes nicht als verwirklichte Demokratie angesehen werden. Die fünf Millionen Palästinenser:innen in Gaza und der Westbank haben kein Wahlrecht, und auch Palästinenser:innen mit israelischem Pass erleben umfangreiche, gesetzlich zementierte Benachteiligungen.

In einem vollständig faschistischen Staat wäre dieser Grad an demokratischen Rechten jedoch auch für nur einen nennenswert Teil der Bevölkerung undenkbar. Diese Einschätzung dient nicht dazu, die zionistischen Verbrechen zu verharmlosen und macht den Zionismus kein Stück weniger bekämpfenswert. Sie zeigt aber, dass das israelische Herrschaftssystem innenpolitisch eher auf der Schaffung von aktiver oder passiver Zustimmung, die etwa durch die Integration von Arbeiter:innenorganisationen erzielt wird, beruht. Es bedarf nicht der umfassenden und systematischen Gewalt von faschistischen Milizen und der Zerschlagung jeglicher oppositioneller Kräfte, denn die parlamentarische Demokratie ist geeignet, um reaktionäre Politik ohne systemgefährdenden Widerstand umzusetzen.

Eine mechanistische Auslegung des Faschismus-Begriffs, die nur zwischen faschistisch und nicht-faschistisch unterscheidet, hilft jedoch auch nicht weiter. Denn obwohl der israelische Staat nicht faschistisch ist, gibt es durchaus einige Tendenzen, die mindestens als faschistoid bezeichnet werden müssen.

Besonders deutlich treten diese in der Westbank und in Ostjerusalem zu Tage. Dort haben bewaffnete, extrem rechte Siedler:innen in den letzten Jahren zahlreiche Palästinenser:innen vertrieben und begehen immer wieder Pogrome. Die Siedler:innenbewegung, die etwa 700.000 Israelis umfasst und von der Regierung unterstützt wird, erinnert stark an die militante kleinbürgerliche Massenbewegung, auf die sich der Faschismus stützte. Auch ein Blick auf die aktuelle Zusammensetzung der Regierung zeigt, dass faschistoide Kräfte in der israelischen Gesellschaft stärker geworden sind. So baut etwa der ultra-rechte Innenminister Ben Gvir, dessen Partei in den letzten Wahlen fünf Sitze hinzugewonnen hat, eine eigene paramilitärische Miliz auf. Auch gibt es von Seiten der Regierung Bemühungen, die demokratischen Rechte ebenso für israelische Staatsbürger:innen einzuschränken. So ermächtigte sie die Polizei, zahlreiche Menschen unter dem Vorwand der Terrorverherrlichung festzunehmen, die auf Social Media palästinasolidarische Inhalte geteilt hatten.

Diese Entwicklungen sind Ausdruck einer konsequenten Form des Zionismus, der die Schaffung eines jüdischen Ethnostaates als oberstes Ziel hat. Dabei schrecken einige seiner Vertreter:innen auch vor faschistischen Methoden nicht zurück. Angesichts der Justizreform und anderer anti-demokratischer Maßnahmen der Netanyahu-Regierung warnten auch einige pro-zionistische Stimmen vor einer Faschisierung, wobei diese nach dem 7. Oktober deutlich leiser geworden sind. Eine Bewegung, die vorgibt, gegen faschistische, antidemokratische Tendenzen kämpfen zu wollen, dabei aber die Fragen von Apartheid und Besatzung außen vor lässt, wie etwa die Protestbewegung gegen die Justizreform im vergangenen Jahr, geht über Symptombekämpfung nicht hinaus, wird unglaubwürdig und letztendlich machtlos bleiben. Eine Front von linken Antizionist:innen mit den pro-demokratischen, links-zionistischen Teilen der israelischen Bevölkerung, um die vermeintliche Faschisierung abzuwenden, ist also fehlgeleitet. Der Kampf gegen die faschistoiden Tendenzen kann nur im Rahmen eines allgemeinen Kampfes gegen den Zionismus gewonnen werden.

Der Kampf für ein befreites Palästina 

Ebenso falsch wäre es jedoch, die israelische Gesellschaft in ihrer Gesamtheit als faschistisch korrumpiert oder durch das faschistische System gelähmt zu betrachten und so die Möglichkeit des gemeinsamen Kampfes jüdisch-israelischer und palästinensicher sowie migrantischer Arbeiter:innen auszuschließen und eine Front mit den arabischen Bourgeoisien der angrenzenden Länder gegen den israelischen Staat anzustreben. 

Palästina kann nur durch eine sozialistische Bewegung der internationalen Arbeiter:innenklasse befreit werden. Denn der Weg zur tatsächlichen Befreiung führt zwangsläufig zur Konfrontation mit den Interessen von Staat und Kapital – auch denen der arabischen Länder. Ihre bürgerlichen Regierungen spielen in der pro-palästinensischen Bewegung keine fortschrittliche, sondern eine hemmende bis konterrevolutionäre Rolle. 

Die Aufgabe kann nicht von der israelischen Arbeiter:innenklasse allein gelöst werden, sie kann aber einen Teil dazu beitragen.

Anstatt ihr den Rücken zu kehren, müssen antizionistische Linke für den Aufbau eines sichtbaren und schlagkräftigen antizionistischen Pols in ihr kämpfen. Die Möglichkeiten, diesen Kampf zu führen, sind trotz der großen Schwierigkeiten höher, als sie es in einem faschistischen Staat wären. In einem faschistischen Staat können Linke und Arbeiter:innen sich nur in der Illegalität organisieren und aus dem Untergrund heraus agieren, wobei sie sich damit in Lebensgefahr begeben würden.

Linke im israelischen Territorium können und müssen dagegen möglichst öffentlich, das heißt auf der Straße, in Gewerkschaften und Universitäten, gegen die reaktionäre Führung und das rückständige Bewusstsein in großen Teilen der Arbeiter:innenklasse und Jugend kämpfen. Sie müssen immer wieder die Verbrechen des Staates anklagen und darauf hinarbeiten, in Teilen der israelischen Arbeiter:innenklasse einen Bruch mit dem Zionismus und eine Verbrüderung mit der palästinensischen Bevölkerung zu erwirken. Dafür müssen sie sich international vernetzen und mit all ihren Kräften auch revolutionäre Bewegungen in anderen Ländern unterstützen, die den Zionismus zu Fall bringen können.

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