Ist es fünf vor 1933?

20.10.2024, Lesezeit 45 Min.
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Die Nazis waren noch Jahre von der Macht entfernt, für ihre Berliner Führungsfigur Horst Wessel war ein halbes Jahr später Schluss: Aufmarsch beim NSDAP-Reichsparteitag 1929 in Nürnberg.

Steht Deutschland wirklich kurz vor der Rückkehr des Faschismus? Über historische Analogien und linke Strategien.

„Es steht fünf vor 1933“, „Aus der Geschichte nichts gelernt?“ und „Nie wieder ist jetzt“: Historische Vergleiche zwischen der gegenwärtigen Lage in Deutschland und dem Aufstieg des Nationalsozialismus haben Konjunktur. Angesichts der enormen Erfolge der AfD – einer Partei, die durch zahlreiche Verflechtungen mit Nazistrukturen auffällt und eine extrem rechte, rassistische, queer- und arbeiter:innenfeindliche Agenda verfolgt – gibt es dazu durchaus Anlass. Bei den jüngsten Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg wurde die Partei mit jeweils um die 30 Prozent stärkste beziehungsweise zweitstärkste Kraft. Im Wahlkampf forderte sie unter anderem, Geflüchtete aus dem öffentlichen Raum und von Veranstaltungen auszuschließen. Gleichzeitig sind wir mit einem zunehmend selbstbewussten Auftreten von militanten Nazis konfrontiert, die es schaffen, insbesondere in der Jugend zu rekrutieren und Jagd auf LGBTQIA+-Personen, Migrant:innen und Linke machen. Das zeigen die geplanten Anschläge auf die CSDs in verschiedenen Städten oder der Naziangriff auf Antifaschist:innen am Berliner Ostkreuz.

Doch der Rechtsruck beschränkt sich bei Weitem nicht auf die Nazigewalt und den Aufstieg der AfD. Scheinbar paradoxerweise machen sich die Parteien der bürgerlichen „Mitte“, welche sich zu Beginn des Jahres gerne auf Anti-AfD-Protesten zeigten und als Brandmauer gegen Rechts stilisieren, selbst immer mehr Forderungen zu Eigen, die vor wenigen Jahren nur die AfD aufstellte. Im Zentrum dieser Entwicklung steht die Migrationspolitik, die von der Ampelregierung kontinuierlich verschärft wird, während die Union diese permanent als zu lasch kritisiert. Zu denken ist dabei an die Einführung von Grenzkontrollen an allen deutschen Außengrenzen, die Einführung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) und die Wiederaufnahme von Abschiebeflügen nach Syrien und Afghanistan, gemeinsam mit zunehmender rassistischer Hetze im Diskurs von Ampel, CDU/CSU und bürgerlicher Presse. Darüber hinaus greift der Staat zu immer autoritäreren Maßnahmen, wie dem flächendeckenden Ausbau von Polizeibefugnissen und Überwachung, die aktuell am härtesten die palästinasolidarische Bewegung treffen. 

Angesichts dessen kommen Teile der radikalen Linken zu dem Schluss, es fände bereits eine „Faschisierung“ des gesamten Regimes statt. Steht die Bedrohung des Faschismus mit einer Machtübernahme der AfD nun tatsächlich kurz bevor oder wird der Faschismus sogar schon schrittweise von der Regierung eingeführt? In diesem Artikel wollen wir uns, ausgehend von einer kurzen historischen Auseinandersetzung mit dem Aufstieg des deutschen Faschismus, einer Charakterisierung der aktuellen politischen Lage in Deutschland nähern. Insbesondere wollen wir uns mit den strategischen Schlussfolgerungen der Analyse von Rechtsruck, Autoritarismus und Faschismus widmen und die Aufgaben der Linken in der aktuellen Phase beleuchten. 

Was ist Faschismus?

Obwohl der Faschismusbegriff aktuell in aller Munde ist, besteht häufig eine große Unklarheit darüber, was diesen eigentlich ausmacht. Häufig werden damit einfach eine auf die Spitze getriebene rassistische und nationalistische Ideologie oder ein besonders autoritäres und kriegslüsternes Agieren des Staates bezeichnet. Beispielhaft für Faschismus-Konzeptionen, die diesen auf ein ideologisches Phänomen reduzieren, sind „Checklisten“, an denen man Faschismus erkenne, wie sie etwa vom US-amerikanischen Philosophen Jason Stanley formuliert werden. Dieser subsumiert Donald Trump und Wladimir Putin unter dem Faschismusbegriff und nennt als entscheidende Charakteristika:

[d]ie Verklärung einer mythischen Vergangenheit, zu der man das Land unter der eigenen Führung zurückführen werde – ganz wie es Trump mit seinem ‚Make America Great Again‘ (MAGA) verspricht; der ungehemmte Einsatz von Propaganda ohne Rücksicht auf deren Wahrheitsgehalt; Anti-Intellektualismus, der sich gegen alle Eliten, aber ganz besonders die Wissenschaft richtet; eine Vorliebe für Verschwörungstheorien, was Stanley als ‚Unwirklichkeit‘ bezeichnet; eine Betonung gesellschaftlicher Hierarchien und eine Ablehnung von Gleichberechtigung; das Hervorheben der eigenen Opferrolle: ein ständiger Ruf nach Recht und Ordnung, abseits von verfassungskonformer Rechtsstaatlichkeit; das Spielen mit sexuellen Ängsten, was sich in Antifeminismus und der Diskriminierung von LGBTIQ niederschlägt; eine Verklärung des Landlebens und eine Verachtung für Städte, die als ‚Sodom und Gomorrha‘ verunglimpft werden: und eine Teilung der Gesellschaft in die angeblich Fleißigen und Faulen, die Stanley unter dem provokanten Kapiteltitel ‚Arbeit macht frei‘ beschreibt.1

Auch wenn dies zweifelsohne Merkmale des Faschismus sind oder sein können, reichen sie nicht aus, um ihn von anderen Formen der bürgerlich-kapitalistischen Herrschaft abzugrenzen. Um Faschismus wirklich zu verstehen und zu bekämpfen, ist es wichtig, ihn nicht als rein ideologisches Phänomen oder moralische Kategorie zu begreifen. Stattdessen müssen seine historischen Bedingungen, also die materiellen Verhältnisse, aus denen er erwächst, insbesondere seine Rolle im Klassenkampf, analysiert werden.

Der Aufstieg des deutschen Faschismus an die Macht fand in einer Zeit der extremen Krise des Kapitalismus statt, gezeichnet von einem starken Rückgang der Produktion, Bankenkrisen, zunächst Inflation, dann Deflation und grassierender Arbeitslosigkeit. Oberflächliche Auslöser waren etwa der New Yorker Börsencrash von 1929, die Krise ging aber viel tiefer als falsche Spekulationen an der Börse. Sie war Ausdruck von der zunehmenden Fäulnis des kapitalistischen Systems, das drohte, an seinen inneren Widersprüchen zugrunde zu gehen und es zunehmend unmöglich machte, sich auf „normale“ Weise zu reproduzieren. Der Kapitalismus war in eine Akkumulationskrise geraten, in der profitabel verwertbare Anlagemöglichkeiten knapp wurden. Erst durch den Zweiten Weltkrieg als Kampf um die Neuaufteilung der Welt, mit seiner Kriegswirtschaft und insbesondere der massiven Zerstörung von Produktivkräften konnte diese Krise wirklich überwunden werden, indem „überflüssiges“ Kapital vernichtet wurde und durch die weitläufige Zerstörung neue Möglichkeiten für profitable Investitionen geschaffen wurden. In Deutschland traten diese Widersprüche besonders eklatant zu Tage. Die deutsche Bourgeoisie, also die herrschende Kapitalist:innenklasse, strebte weiterhin imperialistische Vorherrschaft an, war in Folge des Ersten Weltkriegs in der imperialistischen Konkurrenz aber zurückgeworfen worden. Einen Ausgang, den sie nicht akzeptieren wollte und konnte.

Gleichzeitig sah sie sich mit einer starken und gut organisierten Arbeiter:innenbewegung, deren revolutionärer Flügel ihren politischen Ausdruck in der KPD und ihr reformistischer in der SPD fand, konfrontiert. In den Folgejahren des Ersten Weltkriegs hatte es mehrere vorrevolutionäre und revolutionäre Situationen gegeben, in denen die Arbeiter:innenklasse kurz davor stand, die Bourgeoisie zu stürzen und zu einer sozialistischen Ordnung voranzuschreiten. Diese waren aus verschiedenen Gründen, allen voran dem Verrat der Sozialdemokratie und schweren strategischen Fehlern der KPD, nicht erfolgreich. Die Bourgeoisie sah ihre Herrschaft aber immer noch durch eine mögliche sozialistische Revolution akut bedroht. Dazu kam, dass sie in Folge der Krise extreme wirtschaftliche Maßnahmen durchsetzen musste, um ihre eigenen Profite und Gewinne zu retten – Maßnahmen, die sich in allererster Linie gegen die Arbeiter:innenklasse richteten. Diese Konstellation war dauerhaft kaum haltbar – sie musste entweder auf den vollständigen Triumph der Revolution oder der Konterrevolution hinauslaufen. 

Vor diesem Hintergrund hievte das deutsche Großkapital den Faschismus an die Macht. Die NSDAP wurde in ihren ersten Jahren von großen Teilen der Kapitalist:innen noch eher skeptisch betrachtet, bestimmte Kapitalist:innen wie der Großindustrielle Fritz Thyssen förderten sie aber schon ab 1923 mit umfangreichen Spenden. Spätestens zu Beginn der 1930er Jahre schwenkten wichtige Teile des Monopol- und Finanzkapitals jedoch dazu um, die Faschist:innen zu unterstützen. Nachdem eine Reihe von immer autoritäreren Notkabinetten nicht in der Lage war, den Klassenkampf einzudämmen, setzte das Großkapital schließlich die Machtübertragung an die NSDAP durch. In Zeiten der tiefgreifenden Krise und des zugespitzten Klassenkampfes waren die Institutionen der parlamentarischen Demokratie für die herrschende Klasse unbrauchbar geworden; sie waren „zu schwach“, um die kapitalistischen Interessen durchsetzen zu können. Für sie stellte der Faschismus den letzten Ausweg aus der Krise und die Sicherung ihrer Macht vor der Arbeiter:innenbewegung dar. Ein Ausweg, der eine unvorstellbare Katastrophe für organisierte Arbeiter:innen, Linke und alle unterdrückten Bevölkerungsgruppen wie Juden:Jüdinnen, queere Menschen, behinderte Menschen und Sinti:zze und Rom:nja bedeutete. 

Denn der Faschismus erfüllte die Funktion, die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten zu atomisieren, das heißt, sie zu zersplittern, ihre Organisationen zu zerschlagen und zu enthaupten und sie somit völlig kampfunfähig zu machen. Jegliche demokratischen Rechte und Institutionen, die irgendeine Form von unabhängiger Organisierung der ausgebeuteten und unterdrückten Massen oder auch nur die legale Opposition zur Regierung möglich machten, waren zu gefährlich geworden und wurden mit dem Fachismus ausgelöscht. Anführer:innen der Arbeiter:innenbewegung, egal ob reformistisch oder revolutionär, wurden inhaftiert oder ermordet.

Der russische Revolutionär, marxistische Theoretiker und Gründer der IV. Internationale Leo Trotzki beschreibt den Inhalt der faschistischen Herrschaft so: 

Der Sieg des Faschismus führt dazu, daß das Finanzkapital sich direkt und unmittelbar aller Organe und Einrichtungen der Herrschaft, Verwaltung und Erziehung bemächtigt: Staatsapparat und Armee, Gemeindeverwaltungen, Universitäten, Schulen, Presse, Gewerkschaften, Genossenschaften. Die Faschisierung des Staates bedeutet […] vor allem und hauptsächlich die Zertrümmerung der Arbeiterorganisationen, Zurückwerfung des Proletariats in amorphen Zustand, Schaffung eines Systems tief in die Massen dringender Organe, die eine selbständige Kristallisation des Proletariats unterbinden sollen. Darin besteht das Wesen des faschistischen Regimes.2

Doch auch für Trotzki war der Aufstieg des Faschismus nicht allein als Komplott der Großbourgeoisie und des staatlichen Regimes zu verstehen. Ein entscheidendes Merkmal des Faschismus ist sein Bewegungscharakter. Neben dem parlamentarischen Flügel stützte sich die NSDAP insbesondere auf paramilitärische Milizen wie die SA, die den bewaffneten, außerparlamentarischen Kampf gegen die Arbeiter:innenbewegung und unterdrückte Minderheiten aufnahmen. Es handelte sich um marodierende Banden, Schlägertrupps, die Streiks, Demonstrationen und Lokale von KPD, SPD und Gewerkschaften angriffen, Pogrome begingen und blutige Straßenkämpfe lostraten. Entsprechend schlug Trotzki vor, eine Einheitsfront aller Arbeiter:innenorganisationen aufzubauen, um sich den faschistischen Angriffen entgegenzustellen: 

Getrennt marschieren, vereint schlagen! Sich nur darüber verständigen, wie zu schlagen, wen zu schlagen und wann zu schlagen! […] Ohne Verzug muß endlich ein praktisches System von Maßnahmen ausgearbeitet werden – nicht mit dem Ziel der bloßen ‚Entlarvung‘ der Sozialdemokratie (vor den Kommunisten), sondern mit dem Ziel des tatsächlichen Kampfes gegen den Faschismus. Die Frage des Betriebsschutzes, der freien Tätigkeit der Betriebsräte, der Unantastbarkeit der Arbeiterorganisationen und -einrichtungen, der Waffenlager, die von den Faschisten geplündert werden können, Maßnahmen für den Fall der Gefahr, die Koordinierung der Kampfhandlungen der kommunistischen und sozialdemokratischen Abteilungen usw. müssen in dieses Programm aufgenommen werden.3

Zugleich bestand Trotzki auf der politischen Unabhängigkeit der Kommunist:innen, die auch als Teil einer solchen defensiven Einheitsfront nicht auf die Kritik an der sozialdemokratischen Führung der SPD und der Gewerkschaften verzichten durften. Weder die KPD noch die SPD ließen sich jedoch auf eine solche Einheitsfrontpolitik ein, wodurch sie das deutsche Proletariat letztlich entwaffneten und den Aufstieg der NSDAP besiegelten.

Die hauptsächliche soziale Basis der faschistischen Bewegung waren das Kleinbürger:innentum, ehemalige Soldat:innen und Arbeitslose, häufig ehemalige Kleinbürger:innen, die durch die kapitalistische Krise verelendeten. Beim Kleinbürger:innentum handelt es sich um eine Zwischenklasse zwischen Bourgeoisie und Arbeiter:innenklasse, die über Produktionsmittel in kleinem Umfang verfügt und ihre Arbeitskraft nicht an eine:n Kapitalist:in verkaufen, aber selbst arbeiten muss. Dazu zählen etwa Bäuer:innen, Handwerker:innen und Ladenbesitzer:innen. Diese Klasse stellt ein Überbleibsel aus frühkapitalistischen Verhältnissen mit freier Konkurrenz kleiner Betriebe dar. Mit der fortschreitenden Entwicklung des Kapitalismus, der Konzentration des Kapitals in immer weniger Händen und der Herausbildung eines immer mächtiger werdenden Finanz- und Monopolkapitals verschwand das Kleinbürger:innentum allerdings nicht einfach. Es blieb zahlenmäßig groß –  in Deutschland machte es zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch annähernd die Hälfte der Bevölkerung aus – , verlor allerdings immer weiter an Selbständigkeit und ökonomischen Erfolgsmöglichkeiten und wurde somit zwischen den Hauptklassen zerrieben. Während es vom Großkapital zu Tode konkurriert und in unbezahlbare Schulden gestürzt wurde, pflegte es einen ebenso großen Hass auf die Arbeiter:innenbewegung. Da es selbst häufig einige wenige Arbeiter:innen anstellte, hatte es kein Interesse an höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen; es fürchtete sich aber vor allem davor, dass die Arbeiter:innenklasse seine – bescheidenen und schwindenden – Privilegien liquidieren könnte. Gerade in Zeiten der Krise, von der das Kleinbürger:innentum besonders stark gebeutelt war, bedeutete ein Verlust des Kleinbürger:innenstatus keinesfalls den Übergang in eine gesicherte Lohnarbeit, sondern das Abrutschen in die völlige Deklassierung und Verelendung. 

Seine sozioökonomische Lage und die doppelte Abgrenzung – gegen das Finanzkapital einerseits und die sozialistische Bewegung andererseits – spiegeln sich in der faschistischen Ideologie wider. Der groteske Antisemitismus der Nazis brandmarkte Juden:Jüdinnen einerseits als Verkörperung eines angeblich raffenden Finanzkapitals, im Gegensatz zum guten schaffenden Kapital (die imperialistische Epoche ist gerade durch die enge Verschmelzung von Bank-und Industriekpapital gekennzeichnet), andererseits als Verkörperung des Bolschewismus. Die faschistische Ideologie integriert Elemente eines diffusen Antikapitalismus, ohne sich gegen den Kapitalismus zu richten, und steht denjenigen, die wirklich den Kapitalismus überwinden wollen, als unversöhnlicher Feind gegenüber. Die Zuflucht in irrationale, vermeintlich „ewige“ Kategorien von Nation und Rasse war ein verzweifelter Versuch, die unvermeidliche historische Entwicklung zu negieren. Trotzki analysiert treffend in Porträt des Nationalsozialismus

Der Kleinbürger ist dem Entwicklungsgedanken feind, denn die Entwicklung geht beständig gegen ihn – der Fortschritt brachte ihm nichts als unbezahlbare Schulden. […] Der Kleinbürger braucht eine höchste Instanz, die über Natur und Geschichte steht, gefeit gegen Konkurrenz, Inflation, Krise und Versteigerung. Der Evolution, dem ‚ökonomischen Denken‘, dem Rationalismus – dem zwanzigsten, neunzehnten und achtzehnten Jahrhundert – wird der nationale Idealismus als die Quelle des Heldischen entgegengestellt. Die Nation Hitlers ist ein mythologischer Schatten des Kleinbürgertums selbst, sein pathetischer Wahn vom tausendjährigen Reich auf Erden.4

Der Faschismus an der Macht bedeutete allerdings keinesfalls die Herrschaft des Kleinbürger:innentums. Als Zwischenklasse ist es unter Bedingungen des entwickelten Kapitalismus zu langfristig wirklich selbstständiger Politik im großen Stil unfähig und kann somit von einer der Hauptklassen angeführt werden. In der Russischen Revolution gelang es der Arbeiter:innenklasse unter Führung der Bolschewiki, das erdrückte Kleinbäuer:innentum hinter einem Programm des Kampfes gegen Kapital und Zarismus zu versammeln. In Deutschland hingegen brachte die Großbourgeoisie die verelendeten kleinbürgerlichen Massen in Anschlag, um die Arbeiter:innenbewegung zu zertrümmern und auf diesen Trümmern ein Regime der reinsten Diktatur des Monopol- und Finanzkapitals und des imperialistischen Militarismus zu errichten. 

Faschismus oder Bonapartismus?

Dabei ist jedoch wichtig festzuhalten, dass die Bourgeoisie nicht per se pro-faschistisch ist. Welche Form der politischen Herrschaft sie unterstützt, hängt von den konkreten historischen Bewegungen, den sozialen Kräfteverhältnissen, der Intensität des Klassenkampfes ab. In den Anfangsjahren der Weimarer Republik stützte sich die herrschende Klasse auf die parlamentarische Demokratie und damit verbunden die Sozialdemokratie und die gewerkschaftlichen Bürokratien. Diese erfüllten die Funktion, im Rahmen des kapitalistischen Systems für begrenzte Zugeständnisse an Teile der Arbeiter:innenklasse zu sorgen und sie so an das Regime zu binden und im Zaum zu halten. Als die Bourgeoisie nicht mehr in der Lage war, irgendwelche Zugeständnisse zu machen, wurden diese Bürokratien für sie zu einem Hindernis und wurden vom Faschismus ebenso zertrümmert wie die tatsächlich revolutionären Organisationen. Die SPD klammerte sich dabei an die vermeintlichen Verteidiger der Weimarer Demokratie wie Reichspräsident Hindenburg und Reichskanzler Brüning von der katholischen Zentrumspartei, die der NSDAP schließlich den Weg ebneten und die Zerschlagung der SPD ermöglichten.

Der Machtübertragung an die NSDAP ging eine Periode zunehmend autoritär agierender Regierungen voraus, verkörpert von den Kabinetten Brünings (März 1930 bis Juni 1932), Papens (bis Dezember 1932) und schließlich Schleichers (bis Januar 1933), die als Bonapartismus charakterisiert werden kann. Trotzki definierte diesen Zustand folgendermaßen: 

Wir haben seinerzeit die Brüningregierung als Bonapartismus („Karikatur auf den Bonapartismus“) bezeichnet, d.h. als ein Regime militärisch-polizeilicher Diktatur. Sobald der Kampf zweier sozialer Lager – der Besitzenden und Besitzlosen, der Ausbeuter und Ausgebeuteten – höchste Spannung erreicht, sind die Bedingungen für die Herrschaft von Bürokratie, Polizei, Soldateska gegeben. Die Regierung wird ‚unabhängig‘ von der Gesellschaft.5

In allen Klassengesellschaften basiert der Staat als „besondere Formation bewaffneter Menschen“6 auf der Trennung der unterdrückten Klassen von der politischen Macht und erhebt sich somit über die Gesellschaft. In bonapartistischen Regimen tritt diese Trennung besonders offen zutage. Die Regierung, oft verkörpert von einem „starken Mann“ (Bonaparte), erhebt sich nicht nur stärker über die Gesellschaft als ganzes, sondern auch zunehmend über Parlament und Justiz. Es handelt sich um einen Zustand der Notverordnungen, in dem der staatliche Repressionsapparat, Polizei, Bürokratie und Militär an Bedeutung gewinnen und härter durchgreifen. Der Bonapartismus kommt zum Zuge in Zeiten der Instabilität, in denen es der herrschenden Klasse schwerer fällt, durch „friedliche“ Mittel Konsens für ihre Herrschaft zu erzeugen, und sie stärker auf staatlichen Zwang zurückgreifen muss. 

Er unterscheidet sich zum Faschismus in der Hinsicht, dass er sich auf eine Stärkung des staatlichen Apparates, nicht aber auf die Mobilisierung von paramilitärischen Milizen stützt. Nach der Machtübertragung glich sich der Faschismus historisch an den Bonapartismus an, indem die kleinbürgerlichen und deklassierten Milizen, die ihn an die Macht gespült hatten, entweder ausgeschaltet oder in den Staatsapparat integriert wurden. 

Auch ist der Bonapartismus keinesfalls die zwangsläufige Vorstufe zum Faschismus. Mit Erdoğan in der Türkei oder Putin in Russland bestehen heute verschiedene Regime, die als bonapartistisch charakterisiert werden können. Auch die Fünfte Republik in Frankreich, mit weitreichenden präsidialen Befugnissen, trägt wichtige bonapartistische Züge, die sich unter Macrons Präsidentschaft verschärft haben. 

Autoritärer Staatsumbau in der BRD

Auch in Deutschland sehen wir aktuell Tendenzen der Bonapartisierung, die in anderen Worten auch als autoritärer Staatsumbau bezeichnet werden könnten. Umgesetzt werden diese, neben den verschiedenen Landesregierungen unter Union- und SPD-Führung, hauptsächlich von der Ampelregierung, also von Parteien, die nicht aus dem extrem oder konservativ rechten Lager stammen. Was sind die zentralen Elemente dieser Entwicklung? 

Zum einen findet eine Aufrüstung des Polizei- und Überwachungsapparates statt, sowohl in Bezug auf finanzielle Mittel und Ausstattung als auch auf Befugnisse. Beispielsweise soll die Polizei nach verschiedenen Initiativen auf Bundes- und Landesebene künftig mehr Zugriff auf Messengerdienste und biometrische Daten erhalten sowie heimliche Wohnungsdurchsuchungen mit der Installierung von Überwachungssoftware durchführen können. Demokratische Rechte wie die Presse-, Meinungs,- und Versammlungsfreiheit werden zunehmend eingeschränkt, insbesondere wenn ihre Ausübung zu sehr von der staatlichen Linie, wie im Bezug auf den Genozid in Gaza, abweicht. 

Im Umgang mit der Palästinabewegung zeigt sich der Staat aktuell von seiner autoritärsten Seite. Verschiedene Organisationen und Demonstrationen wurden verboten, wobei besonders das Verbot des Palästina-Kongresses im Frühjahr heraussticht. Die Berliner Polizei stürmte das Kongressgebäude gewaltvoll, während gleichzeitig kurzfristige Einreiseverbote gegen Redner:innen wie den reformistischen Politiker Yanis Varoufakis oder den Rektor der Glasgower Universität Ghassan Abu-Sittah verhängt wurden. Als Studierende der FU und HU Berlin in Protest gegen den Völkermord ihre Universitäten besetzten, ordnete der Berliner Senat Räumungen durch die Polizei an. Dozierenden, die sich in einem offenen Brief gegen die Polizeigewalt positioniert hatten, sollten nach Plan des Bundesbildungsministeriums die Mittel gestrichen werden. Aktivist:innen in der Bewegung sind seit Monaten mit massiver Polizeigewalt sowie zahlreichen Razzien und Festnahmen konfrontiert, die auf einem juristisch mindestens wackeligen Boden stehen. 

Die Unterdrückung der Solidarität mit Palästina ist verbunden mit einem weiteren zentralen Ausdruck der autoritären Tendenzen: des immer extremer werdenden staatlichen Rassismus, der sich insbesondere gegen arabische und muslimische Menschen richtet. Die Regierung ist dabei, das Asylrecht nahezu vollständig auszuhebeln, lässt die Außengrenzen kontrollieren und schiebt in Kriegsgebiete ab. Begleitet werden diese Vorstöße von einem rassistischen Diskurs, der ein vermeintlich riesiges Sicherheitsrisiko durch Geflüchtete heraufbeschwört und massenhafte Abschiebungen als einzigen Ausweg propagiert. Zudem wird die Migration mit Verweis auf die „Überlastung der Kommunen“ für allerlei reale Probleme wie den schlechten Zustand der Schulen und Krankenhäuser verantwortlich gemacht.

Bei alledem sehen wir, wie der Staat Versuche unternimmt, sich über geltendes Recht hinwegzusetzen. So wurden etwa die Einreiseverbote zum Palästina-Kongress im Nachhinein von Gerichten als rechtswidrig eingestuft und das Bundesverfassungsgericht hält das BKA-Gesetz des Innenministeriums für verfassungswidrig. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder sprach diese Tatsache in einem ARD-Interview sogar recht offen aus, als er sagte, „Das deutsche Volk sollte entscheiden, wer nach Deutschland kommt“, und damit die Souveränität der Regierungen gegenüber dem Recht in Bezug auf die Migration impliziert. 

Um die Ursachen dieser autoritären Entwicklung zu verstehen, müssen wir sie in Zusammenhang mit den Tendenzen zur ökonomischen Krise, zur Militarisierung und Kürzungspolitik setzen, die wiederum nur im Kontext der internationalen Situation verstanden werden können. In seinem Essay Autoritärer Kapitalismus, der in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift marxistische Erneuerung erschienen ist, analysiert der Marburger Politikwissenschaftler Frank Deppe den Aufschwung der politischen Rechten gemeinsam mit den autoritären Tendenzen der Regime. Darin diskutiert er die Verkehrung „von der Konstruktion eines globalen Schlachtfeldes zwischen Demokratie und Autokratie zur Realität einer tiefen Krise der demokratischen Regime in den Kapitalmetropolen selbst.“7 Er deutet die politische Rechtsverschiebung als Ausdruck eines Zustands der „multiplen Krisen“, in dem das neoliberale Wachstumsmodell und die US-Hegemonie zunehmend Erschöpfungserscheinungen aufweisen und die Konfrontation zwischen den Großmächten sich verschärft: „Die Entfaltung der inneren Widersprüche des neoliberalen Booms verbindet sich mit den selbstzerstörerischen Krisenprozessen sowie mit dem Wandel der strukturellen Machtveränderungen im Weltsystem, genauer: dem Niedergang des Westens.“8

Tatsächlich ist die deutsche Bourgeoisie im sich verändernden Weltsystem mit großen Herausforderungen konfrontiert. In den Anfangsjahren der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 kam sie mit einer raschen wirtschaftlichen Erholung und der relativen politischen Stabilität des Merkelismus zumindest oberflächlich noch recht glimpflich davon. Spätestens seit der Coronapandemie und dem Ausbruch des Ukrainekriegs, mit dem Deutschland auch in einen Wirtschaftskrieg mit Russland eintrat, offenbarte sich aber die strukturelle Schwierigkeit, wieder in eine Phase des stabilen Wirtschaftswachstum einzutreten. Die drohenden Schließungen bei VW, Thyssenkrupp und BASF – also Industriesektoren, die das Rückgrat der deutschen Ökonomie bilden und die in neuem Niveau der Arbeitsplatzvernichtung und sozialen Verwüstung münden könnten – zeugen von einem Zurückfallen des deutschen Kapitals in der internationalen Konkurrenz. 

Deppe betont vor diesem Hintergrund eine erneuerte Relevanz des Nationalstaats als „Krisenmanager im Inneren“9, dem er auch die Aufgabe einer Sanierung der durch die Austeritätspolitik ausgehöhlten Infrastruktur zuspricht, um einerseits sozialen Unruhen vorzubeugen, andererseits aber vor allem die Attraktivität des Standorts zu erhöhen. Das Versprechen eines aktiveren Staates, der mit großangelegten Investitionen die „Grüne Transformation“ fördert, die Infrastruktur auf Vordermann bringt und den Sozialstaat befestigt, mit welchem die Ampelkoalition, besonders die Grünen, noch 2021 angetreten waren, scheint aber immer mehr verbraucht zu sein. Die Bundesregierung hat alle nennenswerten Klima- und Sozialprogramme begraben. Ihre Agenda besteht stattdessen in einer massiven Hochrüstung der Bundeswehr, die den Übergang von einer spezialisierten Interventionsarmee zu einer allgemeinen „Kriegstüchtigkeit“, für die Vorbereitung auf eine mögliche kriegerische Auseinandersetzung mit Großmächten wie Russland, einläutet. Diese geht einher mit Einsparungen in nahezu allen anderen Bereichen. Das Ziel, die Produktions- und Wettbewerbsbedingungen zu verbessern, scheint nicht mittels staatlicher Investitionsprogramme, sondern mittels Angriffen auf die Arbeiter:innenklasse, die das Reproduktionsniveau und damit die „Lohnkosten“ für Unternehmen senken sollen, verfolgt zu werden. Diese Angriffe waren bisher eher kleinteilig und konzentriert auf die prekärsten Schichten der Klasse – Arbeitslose, arme Renter:innen, Alleinerziehende und Geflüchtete–, zielen jedoch darauf ab, den Druck auf die gesamte Arbeiter:innenklasse zu erhöhen. Auch Deppe beschreibt diesen Vorgang: „Die Politik im Interesse des Kapitals will die Aufrüstung und die Herstellung der Kriegstüchtigkeit durch den Abbau staatlicher Sozialleistungen – und durch Zurückfahren der notwendigen Reparaturarbeiten im Bereich der sozialen Reproduktion und der Infrastruktur […] – erreichen.“10 

In Verbindung mit diesen Krisentendenzen ergibt sich eine schwerwiegende Legitimationskrise der etablierten Parteien, die sich nicht nur in hohen Abstimmungswerten für die AfD ausdrückt, sondern in einem weit verbreiteten Vertrauensverlust insbesondere in die Ampelregierung, die noch nie so unbeliebt war wie heute. Vor diesem Hintergrund kann die Regierung eben nicht mehr wie bisher auf den Konsens der Beherrschten verlassen, sondern muss immer mehr Zwangselemente einsetzen, um ihre Politik durchzusetzen. In den Worten des italienischen Revolutionärs Antonio Gramsci könnten wir von Tendenzen zu einer organischen Krise sprechen, die bonapartistische Maßnahmen von oben ankündigt, aber ebenso Ausdrücke der Unzufriedenheit der Massen – auch wenn diese aktuell hauptsächlich von rechts kommen, aber angesichts der weiter ansteigenden Kriegstendenzen und den damit einhergehenden sozialen Angriffen potentiell auch in einen verstärkten Klassenkampf von links umschlagen könnten.

Die Stoßrichtung, Arbeiter:innen und Arme für die Kosten der Krise aufkommen zu lassen, scheint eindeutig. In dieser Hinsicht agiert die Ampelkoalition, die mit großer Wahrscheinlichkeit keine Neuauflage erhalten wird, als „Nachlassverwalterin“ und Vorbereiterin für eine kommende Bundesregierung unter Führung der Union. Diese diskutiert offen über Einschränkungen des Streikrechts, Arbeitszeitverlängerung und die Rente mit 70, fordert die Einführung einer Wehrpflicht, die vollständige Abschaffung des Bürgergelds sowie Steuersenkungen für Unternehmen bei gleichzeitiger Einhaltung der Schuldenbremse. Die Härte der Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse und der Sozialkürzungen dürfte sich mit einer mutmaßlichen Merz-Regierung also verschärfen. 

Auch in den Forderungen nach mehr Polizei- und Überwachungsstaat sowie einer rassistischen Verschärfung des Migrationsregimes stellt sich die Union als konsequentere Alternative zur Ampelregierung dar. Die autoritären Tendenzen müssen als andere Seite der Medaille zur Militarisierung und Kürzungspolitik verstanden werden. Arbeiter:innen, Arme und die Jugend sollen nach dem Willen des Regimes Einschnitte hinnehmen, um für die Aufrüstung und den Erfolg des schwächelnden deutschen Kapitals in einer unsicheren Weltlage verwertbar zu sein, oder wie Verteidigungsminister Pistorius es ausdrückt, „kriegstüchtig“ zu werden. Deppe identifiziert das Zusammenfallen von innerer und äußerer Militarisierung als „eine Verschiebung zum autoritären Kapitalismus, der – zu Lasten demokratischer Politikgestaltung – den Primat der äußeren und inneren Sicherheit anerkennt, Disziplin nach Innen durch die Konfrontation mit den äußeren Feinden (Russland und China), durch die ideologische Aufwertung des Nationalismus und der christlichen Religion, vor allem aber durch repressive Maßnahmen gegen Ausländer und Migranten erzwingen will. Das ‚kriegstüchtige‘ Volk muss sich den durch den Staat definierten Zielen der Selbstverteidigung gegen die Feinde von außen und innen unterordnen.“11 

Damit deutet er den Bedarf der herrschenden Klasse und ihrer politischen Vertretung – auch wenn er in seinem Essay davor zurückweicht, der Klassencharakter des Staates eindeutig zu benennen – nach einer Disziplinierung und Spaltung der Ausgebeuteten und Unterdrückten an. Dies geschieht zum einen, indem der Repressionsapparat befähigt wird, möglichen Widerstand gegen die sozialen Angriffe und die Kriegspolitik im Keim zu ersticken, und dabei auch gewisse Einschränkungen der Grundrechte zunehmend vertretbar erscheinen. Andererseits, indem durch einen reaktionären nationalistischen Diskurs und eine durch rassistische und armenfeindliche Gesetze zementierte Differenzierung der Arbeiter:innenklasse – in „Einheimische“ und „Ausländische“, besser gestellte und prekäre –  einem Zusammenschluss verschiedener Teile der Klasse im Kampf gegen Staat und Kapital vorgebeugt wird. Mit der Konstruktion von Feindbildern wie der „russischen Bedrohung“, „kriminellen Migrant:innen“ oder „faulen Arbeitslosen“, müssen diese als Sündenbock für reale Probleme herhalten. So sollen Unzufriedenheit in für das System ungefährliche Bahnen kanalisiert sowie die Verantwortlichkeit der Regierung für die sozialen Missstände und der ihr zugrundeliegende Klassenkonflikt verschleiert werden. 

Gleichzeitig müssen wir die Tendenzen zum autoritären Staatsumbau eben als genau das betrachten: Tendenzen. Davon, dass der deutsche Staat bereits zu einem bonapartistischen Regime geworden wäre, kann nicht die Rede sein. Die Institutionen der parlamentarischen Demokratie und des Justizsystems weisen trotz gewissen Momenten der Schwächung immer noch eine relative Stabilität auf, auch im Vergleich zu anderen zentralen imperialistischen Ländern wie den USA oder Frankreich, welche schon ihrem Aufbau nach bonapartischer angelegt sind. Gleichwohl kann auch die Ost-West-Spaltung im Kontext des bundesrepublikanischen Föderalismus dazu beitragen, dass eine Vertiefung bonapartistischer Tendenzen stattfinden könnte, beispielsweise in Form von Minderheitenregierungen oder technokratischen Kabinetten auf Landesebene, die eine tiefgreifendere Bonapartisierung auf Bundesebene vorbereiten. 

Eine entscheidende Rolle kommt dabei auch den bürokratischen Gewerkschaftsführungen und dem System der Sozialpartnerschaft zu, die trotz der Schwächung der SPD weiterhin stark bleiben. Dieser Aspekt wird von Deppe in seinem Text nicht ausreichend beachtet. Er identifiziert zwar die extreme Rechte richtigerweise als Feinde von Sozialstaat und Gewerkschaftsmacht12 und deutet die „Bereitschaft, gewerkschaftliche Streiks zu unterstützen“13 als Ausdruck der Desillusionierung mit dem Krisenmanagement der Regierung, übergeht aber die Funktion der Gewerkschaftsführungen als Polizist innerhalb der Arbeiter:innenklasse. In dieser Rolle, als Vermittlungsinstanz zwischen Arbeiter:innen und Kapital, erfüllte sie etwa in den letzten Jahren die Funktion, durch mickrige Tarifabschlüsse Reallohnverluste in verschiedenen Branchen durchzusetzen, schränkt damit aber auch die Notwendigkeit des Staates ein, selbst arbeiter:innenfeindliche Maßnahmen umzusetzen. 

Vor diesem Hintergrund halten wir die These von Teilen der Linken, es fände bereits eine Faschisierung des Staates statt, für nicht haltbar. Auch wenn die Bundes- und Landesregierungen autoritärer werden, zielen sie nicht auf die Zerschlagung des parlamentarischen Systems und aller Arbeiter:innenorganisationen und die Errichtung von Konzentrationslagern ab. Dominierende Fraktionen der deutschen Bourgeoisie sehen zwar die stärkere Gewichtung von Elementen des Zwangs und der Repression innerhalb des bestehenden bürgerlich-demokratischen Systems als notwendig an, arbeiten aber nicht auf eine faschistische Machtübernahme hin. Wir dürfen natürlich nicht den Fehler begehen, Kapital und bürgerlichem Staat eine antifaschistische Grundhaltung anzudichten und dabei auch die Präsenz von faschistischen Strukturen in den Sicherheitsbehörden zu ignorieren. Nüchternerweise muss aber festgehalten werden, dass sich die kapitalistische Herrschaft in der aktuellen Situation nicht auf die Mobilisierung von faschistischen Milizen stützt und der Repressionsapparat auch gegen extrem rechte Staatsgegner:innen in Anschlag gebracht wird, wenn auch häufig inkonsequenter als gegen Linke. 

Wie steht es in dieser Hinsicht aber um den Elefanten im Raum, die AfD?

AfD und Faschismus

Neben den schon beschriebenen Ursachen stellt der Rechtsruck des Regimes auch eine Reaktion auf die wachsenden Erfolge der extremen Rechten dar. Verbunden mit der Unfähigkeit der Bourgeoisie, die verschiedenen systemimmanenten Krisen, die Abstiegsängste und Perspektivlosigkeit in wachsenden Teilen der Bevölkerung hervorgerufen haben, zu lösen, befindet sich die liberale Demokratie in einer gewissen Legitimationskrise. In Kombination mit dem Scheitern der Linken, eine revolutionäre Alternative zur kapitalistischen Wirtschaftsweise und der bürgerlichen Demokratie aufzuzeigen (darauf werden wir später weiter eingehen), konnte die AfD in ganz Deutschland, aber besonders im durch die Folgen der kapitalistischen Restauration verwüsteten Osten, große Wähler:innenschichten mobilisieren. Das schaffte sie mit einer auf rassistischer Hetze, Antifeminismus, völkischem Nationalismus und verlogenem „Anti-Establishment“-Diskurs aufgebauten rechten Opposition gegen die Regierung, die sowohl an vorhandene rassistische Vorurteile anknüpfte als auch bestehende Unzufriedenheiten in reaktionäre Bahnen lenkte. In den letzten Jahren ist auch die Inszenierung der AfD als „Friedenspartei“, die neben dem neu gegründeten BSW als einzige Partei deutliche Kritik an der deutschen Beteiligung am Ukrainekrieg ausspricht, hinzugekommen. 

Indem die etablierten Parteien immer weiter auf viele Forderungen der AfD, insbesondere in der Migrationspolitik, eingehen, wollen sie die AfD-Basis, die das Regime von rechts infragestellt, wieder integrieren und ihrer politischen Konkurrenz das Wasser abgraben. Ein Wahlplakat der FDP zur EU-Wahl brachte diese Taktik auf den Punkt: „Migration begrenzen, sonst tun es die Falschen.“ Es stellt sich die Frage, ob auf diese programmatische Annäherung auch eine stärkere Integration der AfD in das Regime mit möglichen Regierungsbeteiligungen folgt. Diese ist nicht ganz eindeutig zu beantworten. Zum einen sehen wir Anzeichen einer „Normalisierung“ im Umgang mit der extrem rechten Partei, zum anderen bestehen aber auch noch größere Hürden für die Zusammenarbeit. 

Im Gegensatz zur der auf EU und NATO ausgerichteten Mehrheit des Großkapitals, kritisiert die AfD diese Institutionen und orientiert mit Rufen nach mehr nationaler Souveränität stärker auf das russische Regime. Damit spricht sie die Interessen von, häufig im Osten ansässigen, Kapitalfraktionen und Kleinbürger:innen, die besonders unter den Folgen des Wirtschaftskriegs leiden, an. Neben den außenpolitischen Hürden sorgen sich die etablierten Parteien auch, dass eine Koalition mit der AfD den Zuzug von „nützlichen“ Arbeitsmigrant:innen erschweren und gleichzeitig eine große Empörung in der Bevölkerung und ihrer eigenen Wähler:innenschaft hervorrufen könnte. Denn trotz ihrer enormen Erfolge ist die AfD in der Mehrheit der Bevölkerung immer noch sehr unbeliebt, in Umfragen bezeichnen 75 Prozent die Partei als rechtsextrem, 66 Prozent sehen in ihr eine Gefahr für die Demokratie. 

Gleichzeitig sehen wir zwar noch recht vorsichtige, aber klare Tendenzen zu einer verstärkten Zusammenarbeit mit der AfD. Dieser Druck ist besonders stark in Regionen, in denen die AfD ein Drittel bis die Hälfte der Wähler:innenstimmen auf sich vereint und es für die anderen Parteien im Sinne der politischen Stabilität und „Regierbarkeit“ schwerer wird, die Kollaboration zu verweigern. Im Thüringer Landtag und mehreren Kommunalvertretungen in Ostdeutschland hat die CDU bereits gemeinsam mit der AfD für verschiedene Gesetze und Initiativen gestimmt. Auch das BSW wirbt für einen „anderen Umgang“ mit der extrem rechten Partei, der zwar Koalitionen noch ausschließt, sich aber für gemeinsame Abstimmungen im Falle von „vernünftigen“ AfD-Anträgen offen zeigt. Auch die Anpassung der etablierten Parteien an die Forderungen der AfD dürfte die Integration eher erleichtern als erschweren. 

Wir gehen nicht davon aus, dass Union, BSW oder FDP in der aktuellen Phase in eine Koalitionsregierung mit der AfD eintreten werden, auch wenn das für die Zukunft nicht ausgeschlossen werden kann. Stattdessen wird sich die Normalisierung der Partei wahrscheinlich nicht schlagartig, sondern eher kleinschrittig und zunächst in Ostdeutschland vollziehen. Zweifelsohne würde eine AfD-Regierungsbeteiligung harte Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse, Migrant:innen, Frauen und LGBTIAQ+-Personen und eine drastische Verschärfung der autoritären und repressiven Tendenzen des Regimes, die insbesondere Linke bedrohen würde, bedeuten. Wir können auch damit rechnen, dass diese Angriffe deutlich härter ausfallen als unter einer CDU-Regierung. Doch würde diese auch den Weg zur faschistischen Machtübernahme ebnen, wie viele befürchten? Schließlich gingen der Machtübernahme der NSDAP auch ihre Beteiligungen in Koalitionsregierungen, zunächst 1930 in Thüringen, im Januar 1933 dann im Reichskabinett, voraus. 

Neben dem elektoralen Aufstieg der AfD sehen wir auch in Teilen einen Anstieg faschistischer Bewegungsmomente. In den diesjährigen Wahlkämpfen gab es zahlreiche Angriffe von Nazis auf Politiker:innenbüros und Wahlkämpfer:innen, zudem wurden auch Gewerkschafter:innen bedroht und zusammengeschlagen. Auf dem Land gehören Naziangriffe schon länger zur Realität, in der aktuellen Phase scheinen sich militante Faschist:innen aber auch immer weiter in die Großstädte hineinzutrauen. Besonders eindrückliche Beispiele sind die geplanten Angriffe auf die CSD-Paraden in Leipzig, Berlin und Bautzen. Besonders erschreckend ist dabei, wie viele Jugendliche, teilweise erst 12 oder 13 Jahre alt, dabei mitmarschieren. Auch die AfD-Basis speist sich stark aus der Jugend, so konnte die Partei bei der Thüringer Landtagswahl in der Altersgruppe der 18-24 Jährigen ihre besten Ergebnisse erringen. 

Die AfD hat, besonders in ihrem Jugendverband und in den ostdeutschen Landesverbänden, viele Verbindungen in die faschistische Szene. Sie organisiert Demonstrationen, auf denen AfD-Mitglieder gemeinsam mit Nazis marschieren. Auch in der Partei selbst, einschließlich ihrer Führungspositionen, sind zahlreiche Faschist:innen organisiert. Die Partei bildet allerdings nicht die unumstrittene Führung der faschistischen Bewegungsmomente. Zum einen schreckt sie noch häufig davor zurück, sich offen dazu zu bekennen, zum anderen wird ihre Führung von offen auftretenden, faschistischen Organisationen wie dem III. Weg streitig gemacht, die die AfD als zu angepasst und feige kritisieren. Der faschistische Flügel der Partei hat zwar seit ihrer Gründung deutlich an Einfluss gewinnen können, hat den internen Machtkampf aber noch nicht für sich entschieden. Fraktionen, die einen rechtspopulistischen Politikansatz vertreten, sind in der Partei weiterhin stark. Das bedeutet, dass die Basis in erster Linie als Wähler:innen, nicht aber als militante Bewegung, die es zu mobilisieren gilt, angesprochen wird und die Institutionen der parlamentarischen Demokratie den Rahmen des politischen Handelns bilden. Die AfD hat ihren Schwerpunkt noch vor allem in den Parlamenten, in Talkshows und auf Social Media und stützt sich nicht in großem Stile auf paramilitärische Banden, die Arbeiter:innenorganisationen, politische Gegner:innen und unterdrückte Minderheiten gewaltsam attackieren. Das hängt auch mit dem aktuellen Niveau des militanten Faschismus zusammen, der sich zwar im Aufwind befindet und eine große Bedrohung darstellt, allerdings nicht den Charakter einer Massenbewegung trägt. Wie bereits erwähnt, wird er auch nicht von bedeutenden Teilen der Bourgeoisie unterstützt, was einen großen Unterschied zum Aufstieg des Faschismus in  den 1920er und 30er Jahren darstellt.

Wir denken also, dass die AfD zum jetzigen Zeitpunkt nicht als vollständig faschistische Partei begriffen werden kann. In anderen europäischen Ländern, wie Österreich, in denen extrem rechte Parteien bereits seit längerer Zeit Teil von Regierungskoalitionen sind, hat dies zwar zu einem Rechtsruck der Regierungspolitik und einem Anwachsen von bonapartistischen Tendenzen, nicht aber zu einem faschistischen Staatsumbau geführt. Dass eine AfD-Regierung eine ähnliche Entwicklung durchmacht, ist nicht ausgemacht, so könnte sie zu einer Stärkung der faschistischen Kräfte im Staatsapparat und größeren Freiheiten für militante Nazis führen, wir halten die Identifizierung von einer AfD-Regierungsbeteiligung mit einer Rückkehr des Faschismus aber dennoch für irreführend. Im folgenden Abschnitt wollen wir darauf eingehen, warum diese Einschätzung relevant ist.

Wir haben noch nicht verloren

Der Rechtsruck in all seinen Facetten, inklusive dem Aufstieg der AfD, den faschistischen Bewegungsmomenten und den autoritären und rassistischen Entwicklungstendenzen des Regimes, stellt eine Gefahr für die politische Linke, Arbeiter:innen und unterdrückte Gruppen dar. Gleichzeitig verfügen wir aber weiterhin über weitreichende Möglichkeiten, uns gegen diese Entwicklungen zur Wehr zu setzen. Die Rechtsentwicklung ist weder abgeschlossen noch unumkehrbar. In einem faschistischen Regime ist die politische Organisierung höchstens in äußerst klandestiner Weise, unter Riskierung des eigenen Lebens, möglich. Ein Sieg des Faschismus würde die größte Katastrophe, die Linke, Arbeiter:innenorganisation und Unterdrückte treffen kann, bedeuten. Doch davon sind wir noch weit entfernt und es gilt, auf der Grundlage einer klaren Strategie und eines klaren Programms alle bestehenden Möglichkeiten auszuschöpfen, um den Kampf gegen den Rechtsruck und seine Ursachen aufzunehmen. 

Viele, die sich davor fürchten, dass eine faschistische Machtübernahme durch die AfD bevorstehe, spüren einen starken moralischen Druck, sich mit „allen Demokrat:innen“ zusammenzuschließen, um die AfD zu stoppen. Dieser äußerte sich etwa in den Massenprotesten gegen die AfD Anfang des Jahres, in denen Linke gemeinsam mit Vertreter:innen von CDU/CSU, Ampelkoalition und Kirchenverbänden auf die Straße gingen. Vor den Landtagswahlen hörten wir immer wieder Appelle zum „taktischen“ Wählen, die darauf hinausliefen, CDU-Politiker:innen die Stimme zu geben, um die AfD zu verhindern. Diese Resignation vor dem Aufstieg der Rechten zeigt sich auch an den Rufen nach einem Verbot der AfD. 

Doch das Hereinfallen auf die Brandmauer-Logik ist eine Kapitulation. Anstatt die Parteien des Regimes als Mitverursacher:innen und Träger:innen des Rechtsrucks zu bekämpfen, begibt man sich aus Furcht vor dem Faschismus in einen politischen Block mit ihnen, auch wenn man nicht von ihrer Politik überzeugt ist, um zumindest das Schlimmste zu verhindern. Doch nicht nur kann man sich auf die etablierten Parteien im Kampf gegen die AfD nicht verlassen, weil sie das Programm der AfD immer mehr selbst umsetzen. Es stärkt auch die Mär der AfD als einzige Opposition, die sich zudem damit rühmen kann, dass mit möglichst viel Druck von rechts ein möglichst großer Teil der Agenda der AfD von der heutigen „demokratischen Regierung“ umgesetzt werden wird. Das realistische Resultat ist eine weitere Stärkung der AfD in Richtung der Bundestagswahl nächstes Jahr. Dort wird die Stärke der AfD erneut zum Argument für die Unterstützung „nicht ganz so rechter“ Parteien, um die AfD „zu verhindern“, anstelle der Regierung und der rechten Opposition den unversöhnlichen Kampf anzusagen. Es ist eine immer weiter nach rechts driftende Spirale der immer neuen Kapitulation vor den verheerenden antisozialen, rassistischen und kriegstreiberischen Politiken von Ampel und Union. Was dadurch verunmöglicht wird, ist hingegen eine kampfstarke Bewegung gegen die AfD und den Rechtsruck auf der Straße, in den Betrieben, Unis und Schulen. Denn der Widerstand gegen AfD und Co. fällt nicht vom Himmel, er muss mittels Demonstrationen, Streiks und Blockaden geübt werden. Mobilisierungen gegen die AfD wie in Essen oder Blockaden wie in Jena sind wichtige erste Schritte. Wo 1.000 Nazis auftauchen, müssen wir uns mit 10.000 gegen sie stellen!

Anstatt darauf zu hoffen, dass die etablierten Parteien „standhaft“ bleiben und keine Koalitionen mit der AfD bilden oder vielleicht ein Verbotsverfahren einleiten werden, müssen Linke und Arbeiter:innenorganisation eine unabhängige Perspektive aufwerfen, die sowohl die extreme Rechte als auch die rechter werdende Politik der etablierten Parteien konfrontiert. Gegen die Einschränkung des Asylrechts, gegen die innere und äußere Militarisierung und die schon vollzogenen und drohenden Kürzungen. Zudem müssen wir den antifaschistischen Selbstschutz stärken, um die Angriffe von militanten Nazis zurückschlagen zu können, anstatt uns darauf zu verlassen, dass der Staat das tut. Die „Feuerlöscher“-Logik, die von großen Teilen der autonomen Linken verfolgt wird, reicht hier jedoch nicht aus, da sie wenig nachhaltig ist und häufig in relativer gesellschaftlicher Isolierung mündet. Es muss darum gehen, ausgehend von der Organisierung in den Betrieben, Schulen und Unis eine Kraft aufzubauen, die den Naziterror wirksam verhindern und die Rechten von der Straße und aus den Strukturen der Arbeiter:innenklasse vertreiben kann. Dabei kommt auch den Gewerkschaften eine wichtige Rolle zu. Ihre Führungen müssen herausgefordert werden, zur Entwicklung von Selbstverteidigungsstrukturen beizutragen und ihre Basis zu antifaschistischen Mobilisierungen aufzurufen. Eben diesen Sinn hatte die von Trotzki vorgeschlagene Einheitsfrontpolitik, auf die wir weiter oben verwiesen haben. Auch heute gilt es, der heuchlerischen „Einheit aller Demokrat:innen“, die darauf hinausläuft, der AfD die Opposition gegen die Regierung zu überlassen, eine Einheitsfront aller Ausgebeuteten und Unterdrückten gegen die Angriffe der Rechten und gegen die Kriegs- und Kürzungspolitik der Regierung und der etablierten Parteien entgegenzustellen.

Über die notwendigen Abwehrkämpfe hinaus, kommt der politischen Linken aber auch insbesondere die Aufgabe zu, ein positives Programm zu entwickeln, welches einen wirklichen Ausweg aus den verschiedenen Krisen bieten kann und die reaktionären Antworten, die die Rechten auf die um sich greifenden Abstiegsängste und düsteren Zukunftsaussichten geben, bloßstellt. 

Denn dass aktuell in allererster Linie die Rechten von der Legitimationskrise der Ampelregierung profitieren können, ist kein Naturgesetz. Eine solche Vorstellung hat der Theoretiker der linksparteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS), Mario Candeias, im vergangenen Jahr in seinem Text „Wir leben in keiner offenen Situation mehr“ nahegelegt, der beispielhaft für diese resignierte Perspektive stehen kann. In dem Text macht Candeias aus, dass wir in eine reaktionäre Phase eingetreten seien, in der die Möglichkeiten für die politische Linke, auf die gesellschaftliche Entwicklung einzuwirken, schwinden. Tatsächlich hat sich die Linkspartei entzaubert, ohne eine Alternative zu geben. Ihre Wahlergebnisse in Thüringen, Sachsen und Brandenburg zeigen auf, dass die jahrelange Mitverwaltung der kapitalistischen Misere die Partei an den Rand des Abgrunds gebracht hat. Candeias‘ Prophezeiung (gegen die wir hier ausführlicher polemisiert haben), dass die „gesellschaftliche Linke […] für mindestens ein Jahrzehnt oder länger eine defensive Position einnehmen und kaum Gestaltungsraum haben“ und „mit drastisch schwindenden Ressourcen, mit dem Verlust an Kräften und der Gefahr der Zersplitterung“ konfrontiert sein wird, hat sich für die Partei DIE LINKE bewahrheitet. Aber nicht, weil wir „in keiner offenen Situation mehr“ leben würden, wie Candeias behauptet, sondern weil die Linkspartei weder programmatisch, noch strategisch und auch nicht ideologisch (trotz RLS und anderen Thinktanks) in der Lage war, dem Zerfall der neoliberalen Hegemonie eine sozialistische Alternative entgegenzusetzen.

Dabei geht es nicht um Sonntagsreden, sondern darum, den immer weiter voranschreitenden kriegerischen Tendenzen und den damit einhergehenden Angriffen auf soziale und demokratische Rechte ein Kampfprogramm entgegenzustellen. Das statt sich mit der „humaneren“ Verwaltung des Elends zu begnügen, wie es DIE LINKE immer wieder tat, tatsächlich darauf abzielt, die Profite und großen Vermögen der Kapitalist:innen zu enteignen, anstatt Arbeiter:innen, die Jugend, die Rentner:innen und die Migrant:innen die Kosten der Krise tragen zu lassen. Gegen rassistische Spaltung und „Kriegstüchtigkeit“ müssen wir für die Öffnung der Grenzen und volle Staatsbürger:innen- und Arbeitsrechte für alle Geflüchteten kämpfen. Wir kämpfen dafür, dass alle Geflüchteten Gewerkschaftsmitglieder werden können, um Seite an Seite mit ihren Kolleg:innen hier kämpfen zu können. Für gleichen Lohn, für gleiche Arbeit und ein Ende von Outsourcing und Armutslöhnen. Gegen Racial Profiling und rassistische Gewalt von Nazis und Staat. Für einen Stopp aller Abschiebungen, sichere Fluchtrouten, und Bleiberecht für alle. Angesichts angedrohter Schließungen und Massenentlassungen muss die Antwort die Enteignung der Konzerne und die Arbeiter:innenkontrolle in den Betrieben sein. Wir brauchen einen Wirtschaftsplan, der statt dem Konkurrenzdruck der Produktion unter kapitalistischen Bedingungen eine rational und demokratisch organisierte Produktion und Verteilung stellt. Die Banken müssen verstaatlicht werden, um Investitionen gezielt für eine Umstrukturierung der Industrie nach sozialen und ökologischen Maßnahmen zu mobilisieren. Wir müssen die Autoindustrie so umbauen, dass sie vor allem Fahrzeuge und Infrastruktur für den öffentlichen Nah- und Fernverkehr produziert. Wir müssen die Energiewirtschaft mit gewaltigen Investitionen in eine ökologische Zukunft überführen. Wir brauchen hunderte Milliarden für Personal und Ausstattung von Kitas, Schulen, Unis, Bibliotheken, Krankenhäusern, für soziale Projekte, Wohnungen, kulturelle Förderprogramme, kostenlose Sport- und Freizeiteinrichtungen, öffentliche Kantinen, Umweltschutz, eine Wende der Landwirtschaft, den Umbau der Städte zur Anpassung an den Klimawandel und vieles mehr. Kurzum: ein Programm, das eine konsequente sozialistische Alternative zur kapitalistischen Dystopie kommender Kriege, Entbehrungen und Katastrophen aufwirft.

Die Umsetzung eines solchen Programms kann nicht einfach herbeigewählt werden. Dafür braucht es den Aufbau der breitestmöglichen Selbstorganisation der Arbeiter:innen und der Jugend zur Verteidigung gegen kommende Angriffe seitens der Regierung, ebenso wie der Selbstverteidigung gegen faschistische Angriffe. Wie Trotzki mit seinen Vorschlägen zu einer antifaschistischen Einheitsfront aufzeigte, geht es dabei aber nicht nur um die Verteidigung allein. Im Gegenteil kann auf der Grundlage dieser Selbstorganisation auch die Offensive vorbereitet werden, um die Macht von Kapital und Staat selbst zu konfrontieren.

Es fehlt aktuell an einer politischen Kraft, die sich dieser Aufgabe stellt. Da die reformistischen Führungen der LINKEN, der Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen nicht in der Lage sind, die engen Grenzen des kapitalistischen Privateigentums zu überschreiten, können sie die potentiellen Möglichkeiten für eine linke Alternative zum Status quo nicht ausschöpfen. Indem sie als Säule des Regimes wahrgenommen werden, können sie auch der Rechtsentwicklung nichts entgegensetzen. So beschränken sich die von den Gewerkschaftsführungen angestoßenen Kampagnen gegen Rechts, wenn sie überhaupt stattfinden, häufig auf Aufrufe, nicht AfD zu wählen, wodurch auch in der Basis entsteht, die Gewerkschaften seien Anhängsel der etablierten Parteien. Dem tatsächlichen Kampf gegen Rechts wird so ein Bärendienst erwiesen.

Die Antwort kann jedoch nicht der Versuch sein, sich fernab von den Massengewerkschaften aufzubauen. Vielmehr muss es darum gehen, innerhalb der Gewerkschaften klassenkämpferische Strömungen und revolutionäre Fraktionen aufzubauen, um den Führungen einen Kampfplan gegen die extreme Rechte und die Regierungspolitik aufzwingen. Mit massenhaften Blockaden gegen Nazi-Aufmärsche und AfD-Versammlungen und politischen Streiks, koordiniert durch an der Basis gewählte und kontrollierbare Komitees, gegen drohende Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse, wie die Kürzungspolitik, Entlassungen, Arbeitszeitverkängerung und Einschränkung des Streikrechts. Aber auch gegen die Militarisierung und die Einschränkung demokratischer Rechte oder des Asylrechts. So könnte eine kraftvolle Gegenoffensive zur rechten Konjunktur entstehen, die auch in den Betrieben und Gewerkschaften den Rechten ihre Basis entzieht, indem der Kampf sich gegen die wirklichen Verursacher:innen der verschiedenen Krisen richtet. Wenn rechte Kräfte versuchen, in Betrieben und Gewerkschaften an Einfluss zu gewinnen, müssen fortschrittliche Kolleg:innen sich zusammenschließen, um sie militant zurückdrängen und auch die Gewerkschaftsführungen auffordern, das zu tun. Auch die reformistischen Parteien müssen herausgefordert werden, ihre Basis zu solchen Aktionseinheiten zu mobilisieren.

Eine wichtige Rolle kommt dabei auch den fortschrittlichsten Sektoren der Jugend zu, die im vergangenen Jahr insbesondere in der Bewegung für Solidarität mit Palästina trotz massiver Repression immer wieder Beispiele ihrer Kampfbereitschaft gezeigt haben. Eine Jugendbewegung, die den deutschen Imperialismus herausfordert und es schafft, dies mit einem Kampf gegen den Rechtsruck zu verbinden, hätte großes Potenzial, auch der Arbeiter:innenbewegung einen Impuls zu geben, der die Herrschaft der Kapitalist:innen ernsthaft gefährden könnte.

Um diesen Aufgaben gerecht zu werden, braucht es eine unabhängige revolutionäre Kraft, die zum einen einen scharfen politischen Kampf mit den bürokratischen und reformistischen Führungen aufnimmt, zum anderen für die größtmöglichste Einheit der Ausgebeuteten und Unterdrückten im Kampf gegen den Rechtsruck eintritt. Als Trotzkistische Fraktion für die Vierte Internationale verfolgen wir das Ziel einer internationalen revolutionären Partei der Arbeiter:innenklasse, die den Rechtsruck und seine Ursachen wegfegen kann und ihm einen sozialistischen Ausweg entgegensetzt. 

Fußnoten

  1. 1. Eric Frey: Philosoph Jason Stanley: Die richtige Bezeichnung ist Faschismus, in: Der Standard, 02.06.2024, abgerufen am 08.10.2024.
  2. 2. Leo Trotzki 1932: Was Nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats, Demokratie und Faschismus, marxists.org, abgerufen am 30.09.2024.
  3. 3. Leo Trotzki: Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen? Brief an einen deutschen Arbeiter-Kommunisten, Mitglied der KPD (8. Dezember 1931), marxists.org, abgerufen am 9.10.2024.
  4. 4. Trotzki 1932: Porträt des Nationalsozialismus, marxists.org, abgerufen am 30.09.2024.
  5. 5. Trotzki 1932: Der einige Weg, Bonapartismus und Faschismus, marxists.org, abgerufen am 30.09.2024.
  6. 6. W.I. Lenin 1918: Staat und Revolution, Klassengesellschaft und Staat, marxists.org, abgerufen am 30.09.2024.
  7. 7. Frank Deppe: Autoritärer Kapitalismus, in: Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 139, September 2024, S. 18-28, hier S. 21.
  8. 8. Ebd., S. 24.
  9. 9. Ebd., S. 25
  10. 10. Ebd., S. 27.
  11. 11. Ebd., S. 27.
  12. 12. Vgl. ebd., S. 21.
  13. 13. Ebd., S. 26.

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