Ist die Linke praktisch eine neue Partei? 

11.03.2025, Lesezeit 10 Min.
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Foto: shutterstock / Cineberg

Die Linke hat nun über 100.000 Mitglieder. Zehntausende junge Menschen sind der Partei seit Beginn des neuen Jahres beigetreten. Können sie den Charakter der Partei verändern?

„Wir sind praktisch eine neue Partei“, erklärte Ines Schwerdtner, Co-Vorsitzende der Partei Die Linke vergangene Woche. Während des Wahlkampfes sind zehntausende junge Menschen der Linkspartei beigetreten, was die Mitgliederzahlen auf über 100.000 steigen ließ, zum ersten Mal seit Parteigründung 2007. 

Ungewöhnlich für eine linke Partei bestand Die Linke schon immer überwiegend aus Rentner:innen: Noch vor wenigen Jahren waren über zwei Drittel ihrer Mitglieder über dem gesetzlichen Rentenalter. Dies hängt mit ihren Wurzeln in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) zusammen, der einstigen Staatspartei der DDR, die sich zunächst in die PDS und später in Die Linke verwandelte. Diese weitgehend passive, ältere Mitgliedschaft bildete die soziale Basis für „linke“ Minister:innen in verschiedenen Landesregierungen.

Heute jedoch sind junge Menschen innerhalb der Partei Die Linke mehr als nur eine kleine Minderheit. „Das Überalterungsproblem der Partei haben wir wohl überwunden“, feierte Mario Candeias. Und im Wahlkampf klopften tatsächlich Tausende junge Menschen an Türen.

Dies trug teilweise zu dem überraschenden Comeback bei, welches Die Linke auf 8,8 Prozent brachte. Der Hauptfaktor war jedoch der Rechtsruck von Friedrich Merz und der CDU, der gemeinsam mit der extrem rechten AfD für einen Antrag gegen Einwanderung stimmte. Die Linke profitierte davon, dass Millionen von Menschen auf die Straße gingen, um die Rechte aufzuhalten. Dies wurde auch durch den Austritt von Sahra Wagenknecht und ihrem BSW im vergangenen Jahr begünstigt – die „anti-woke“, „linkskonservative“ Politikerin stimmte tatsächlich mit Merz und der AfD gegen Einwanderung. Die Linke wurde dadurch als Bollwerk gegen den rassistischen Wahn wahrgenommen.

Widersprüche

Seit der Wahl sind die Führungskräfte der Linken euphorisch, doch sie können nicht alle Widersprüche verbergen. Die 64 neu gewählten Mitglieder des Bundestags versammelten sich und riefen „Alerta antifascista!“. Rechte Medien waren empört über ein solches „Antifa“-Verhalten, sie zeigten sich beunruhigter über Antifaschist:innen als über tatsächliche Faschist:innen im Parlament.

Zehntausende Menschen traten der Linkspartei bei, um Merz zu stoppen, doch bereits am Tag nach der Wahl erklärte Bodo Ramelow – der ehemalige Ministerpräsident Thüringens und einer der sechs direkt gewählten Abgeordneten der Partei –, dass er bereit sei, mit dem neuen Kanzler grundsätzlich zusammenzuarbeiten. Er habe in den letzten Jahren „ein hohes Maß an Gemeinsamkeit mit den anderen demokratischen Parteien erlebt.“

Ramelow unterstützt die imperialistische Politik Deutschlands in Palästina und der Ukraine: Er hat israelische Flaggen gehisst und gefordert, ukrainische Geflüchtete abzuschieben, damit sie an der Front kämpfen. Als „linker“ Ministerpräsident ließ Ramelow Tausende Menschen abschieben.

Die Linke steht bald vor einer konkreten Bewährungsprobe in Bezug auf ihre Haltung gegenüber dem deutschen Staat. Im Jahr 2011 wurde eine „Schuldenbremse“ in die Verfassung aufgenommen, wobei Konservative und Sozialdemokraten gemeinsam dafür sorgten, dass „ausgeglichene Haushalte“ und permanenter Sparkurs zur Pflicht wurden.

Nun plant Merz, die Schuldenbremse zu „reformieren“ und neue Kredite zuzulassen – jedoch ausschließlich zur Finanzierung der deutschen Aufrüstung. Dafür bräuchte die CDU im neuen Bundestag die Unterstützung der Linkspartei, um die erforderliche Zweidrittelmehrheit zu erreichen. Die Linke hat bereits signalisiert, dass sie für diese Reform „offen“ sei, solange das neue Geld nicht „ausschließlich“ ins Militär fließe. Mit anderen Worten: Es gibt bereits Anzeichen dafür, dass die Linkspartei einer Erhöhung der Militärausgaben zustimmen wird.

Kürzlich schrieb Gregor Gysi, der beliebteste Politiker der Linken, dass wir „ernsthaft für unsere Freiheit, unsere Demokratie und Rechtsstaatlichkeit […] kämpfen“ müssten – auf der Grundlage von Vereinbarungen „von der CSU bis zur Linken“. Dies ist eine kaum verhohlene ideologische Vorbereitung darauf, für die „Landesverteidigung“ zu stimmen.

Gysi war nie Antimilitarist. Schon vor 15 Jahren versicherte er dem US-Botschafter, dass die offizielle NATO-Opposition der Linkspartei nicht das Papier wert sei, auf dem sie steht.

Während Mario Candeias die Perspektiven der Linken anpreist, fügt er hinzu, dass „bestimmte Themen und innerparteiliche Widersprüche wie in der Außen- und Friedenspolitik geklärt“ werden sollten. Mit anderen Worten: Die Partei lehnt den deutschen Imperialismus nicht grundsätzlich ab.

Das ist weit entfernt von der sozialistischen Tradition in Deutschland: Kein Mensch und kein Cent für den Militarismus! Die Verwässerung dieser strikt antimilitaristischen Haltung führte bereits 1914 zum Zusammenbruch der sozialistischen Bewegung.

Eine parlamentarische Partei

Es ist nicht das erste Mal, dass es bei der Partei Die Linke gute Stimmung gibt. Vor fünfzehn Jahren, 2009, gab es nach einem Ergebnis von 11,9 Prozent ähnliche Begeisterung. Damals traten Zehntausende junger Menschen der Partei bei – und die meisten von ihnen wurden schnell enttäuscht, während einige im Austausch für das Aufgeben ihrer Prinzipien bequeme bürokratische Posten erhielten.

Die Linke bleibt trotz eines Anstiegs an Aktivismus vor der Wahl eine bürokratische, parlamentarische Partei, die sich darauf verpflichtet hat, innerhalb des bürgerlichen Regimes zu arbeiten, in der Hoffnung, es zu verändern. Das lässt sich sogar in ihrer „rebellischsten“ Wahlwerbung erkennen. In einem Spot sehen wir eine Arbeiter:innenfamilie, die aus ihrem Zuhause geworfen wird. Gysi erscheint und sagt: „Nein, nicht mit uns. Wieder zurück!“ Er zwinkert. Die Familie geht zurück ins Haus.

Es wäre einfach gewesen, einen echten Protest gegen eine Zwangsräumung zu filmen, mit Gysi mitten im Geschehen. Aber Gysi geht nie zu solchen Protesten. Die Linke ist eine Partei, die darauf abzielt, die Polizei zu verwalten, nicht sie herauszufordern. Gysi selbst war Minister in Berlin. Ironischerweise war die Linke verantwortlich für die Privatisierung von bis zu 200.000 Wohneinheiten in Berlin – sie warf Zehntausende Menschen aus ihren Wohnungen. Reformist:innen wie Gysi versprechen, im Parlament für dich zu kämpfen – und sobald sie auf einem Ministerposten sitzen, werfen sie dich raus.

Schon 2007 schlossen sich mehrere revolutionäre sozialistische Gruppen der Linkspartei an, in der Hoffnung, die Tausenden jungen Menschen zu erreichen und zu organisieren, die der Partei beitraten. Alle gingen aus dieser Erfahrung deutlich schwächer hervor – und mehr als einige Sozialist:innen wurden von der Bürokratie korrumpiert.

Internationale Erfahrungen

Dennoch werden sich die Menschen fragen, ob diese „praktisch neue Partei“ sich wirklich verändern kann. Werden Ramelow, Gysi und andere Regierungssozialist:innen auf dem nächsten Parteitag nicht überstimmt werden? Abgesehen von der Geschichte der Linkspartei selbst können wir uns einige internationale Beispiele anschauen.

Vor zehn Jahren wurden zwei europäische linke Parteien, Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien, mit Zehntausenden neuen Mitgliedern überschwemmt. Sie erzielten erstaunliche Wahlerfolge: Podemos erreichte 20, Syriza 36 Prozent. Diese Ergebnisse führten beide Parteien in bürgerliche Regierungen: Podemos als Juniorpartner der sozialdemokratischen PSOE und Syriza an der Spitze einer Koalition mit der extrem rechten ANEL. Beide Parteien, die ursprünglich gegründet wurden, um der Sparpolitik entgegenzuwirken, setzten diese am Ende selbst um.

Es gibt auch Beispiele von älteren reformistischen Parteien, die von neuen Mitgliedern überrannt wurden. Als Jeremy Corbyn zum Vorsitzenden der Labour Party im Vereinigten Königreich gewählt wurde, traten Hunderttausende junge Menschen bei. Doch angesichts einer Kampagne der Verleumdungen durch die rechte Presse versuchte Corbyn, die Bourgeoisie zu beruhigen: Anstatt sich gegen falsche Antisemitismusvorwürfe zu wehren, schloss er einige seiner eigenen Unterstützer:innen aus. Heute ist die Labour Party weiter nach rechts gerückt als je zuvor und eine Generation seiner Anhänger wurde demoralisiert.

In den Vereinigten Staaten führte der überraschende Erfolg von Bernie Sanders‘ Wahlkampf bei den Vorwahlen der Demokratischen Partei 2016 zu einem schnellen Wachstum der Demokratischen Sozialisten Amerikas (DSA). Jahrzehntelang war die DSA eine sozialdemokratische Lobbygruppe innerhalb einer bürgerlichen Partei mit nur wenigen tausend, meist älteren Mitgliedern. Plötzlich tauchten zehntausende junge Sozialist:innen mit allerlei radikalen Ideen auf, und die alte Garde wurde auf eine winzige Minderheit reduziert. Als die DSA darüber debattierte, sich von den Demokraten zu trennen und eine neue Partei zu gründen, schien alles möglich. Doch Schritt für Schritt wurde diese radikale Opposition niedergeschlagen, und die alte Strategie der DSA setzte sich wieder durch. Heute ist die viel größere DSA erneut darauf verpflichtet, die Demokratische Partei zu unterstützen.

Diese Projekte – Syriza, Podemos, Corbyns Momentum und die DSA – sind nicht aufgrund eines Mangels an jungen Aktivist:innen gescheitert. Das Problem war, dass die Parteien an einer Strategie festhielten, den Kapitalismus zu reformieren. Sie hatten großartige Ideen für Reformen, aber deren Umsetzung bedeutete, sich mit der Kapitalist:innenklasse und ihrem Staat auseinanderzusetzen. In einer Zeit wachsender globaler Krisen waren die Kapitalist:innen nicht bereit, auch nur Krümel anzubieten. Also opferten diese reformistischen Parteien ihre erklärten Prinzipien und die Begeisterung ihrer Unterstützer:innen zugunsten des Ziels, den Staat zu verwalten. Das ist auch mit der Linkspartei in der Vergangenheit passiert – und es wird wieder passieren.

„Die Katze lässt das Mausen nicht“ 

Die Wiederbelebung der Linkspartei hat klare Grenzen. Die Partei hat bereits ihre Bereitschaft unter Beweis gestellt, den deutschen Staat zu verwalten, und sie hat keine grundlegenden Einwände gegen die zentralen politischen Linien des deutschen Imperialismus. Heidi Reichinnek lässt sich gerne als Kämpferin darstellen, aber sie weigert sich bewusst, etwas zur deutschen Unterstützung des Völkermords in Gaza zu sagen. Im Bundestag erklärte sie, dass Israel selbstverständlich das Recht habe, sich zu verteidigen. Selbst Pascal Meiser, direkt in Friedrichshain-Kreuzberg gewählt, wo viele tausend Palästinenser:innen leben, war vorsichtig und schwieg sich zum Krieg aus.

Während einige jüngere Gesichter der Partei wie Ferat Koçak pro-palästinensisch eingestellt sind, sind alle prominenten Führungspersönlichkeiten fanatische Unterstützer:innen des Völkermords. Petra Pau und Dietmar Bartsch, beide in führenden Positionen im Bundestag, unterstüzen nicht nur Israel, sondern gehen so weit, antizionistische Juden:Jüdinnen anzugreifen.

Die Linke möchte sich auf Alltagsfragen konzentrieren – doch die neue Regierung wird eine Sparpolitik durchdrücken, um die Aufrüstung zu finanzieren. Die Arbeiter:innenklasse in Deutschland wird keinen Euro mehr für öffentlichen Wohnraum bekommen, es sei denn, wir stellen uns laut gegen den Militarismus.

Das Innenleben der Linkspartei wird in der kommenden Zeit sicherlich interessanter werden. Es könnte sogar weniger Raum für die erstaunlich chauvinistischen Positionen von Ramelow, Gysi und anderen rechten Führungskräften geben. Die Zeit wird zeigen, ob Die Linke etwas mehr zu einer „normalen“ europäischen reformistischen Partei wird und ihre Unterstützung für Israel im Namen der deutschen Staatsräson abschwächt.

Doch selbst mit solchen Veränderungen wird sich der grundlegend reformistische Charakter der Partei nicht ändern. Die Politiker:innen der Linkspartei werden immer dann in Koalitionen mitregieren, wenn sich die Gelegenheit bietet. Derzeit sind sie in zwei Landesregierungen, in Bremen und Mecklenburg-Vorpommern, und unterstützen zwei weitere rechte Minderheitsregierungen in Sachsen und Thüringen. Mit anderen Worten, sie führen derzeit Abschiebungen und Zwangsräumungen durch.

Es wird Konflikte zwischen all diesen Zehntausenden neuen Mitgliedern und der etablierten Parteiführung geben. Als revolutionäre Sozialist:innen werden wir eine reformistische Partei nicht unterstützen – aber wir werden Seite an Seite mit Parteimitgliedern in Kampagnen gegen Sparpolitik und Rassismus arbeiten. Wir werden die Abgeordneten des Bundestages auffordern, zu den Versprechen zu stehen, die sie im Wahlkampf gemacht haben – und wir werden sie kritisieren, wenn sie diese Versprechen unweigerlich brechen. Wir werden für einen Bruch der Partei mit den kapitalistischen Regierungen kämpfen und gegen jede Abschiebung eintreten.

Die Merz-Regierung wird brutale Angriffe auf unsere Klasse sowohl in Deutschland als auch international durchführen. Wir brauchen einen massiven Widerstand, doch die Parlamentarier:innen der Linken sind, in den Worten Ramelows, „kompromissfähig“. Während alle neuen Mitglieder der Linkspartei Erfahrungen mit ihrer neuen Partei sammeln, wird der Prozess der Polarisierung weitergehen. Viele von ihnen werden sich weiter radikalisieren und als Marxist:innen werden wir diesen Prozess unterstützen.

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