Israels Offensive im Libanon: vom Völkermord in Gaza zum Regionalkrieg

01.10.2024, Lesezeit 9 Min.
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Truppen der Israel Defense Forces (IDF) in Gaza. Foto: IDF / Flickr.com

Der Staat Israel scheint in den totalen Kriegsmodus gegen die „Achse des Widerstands“ der Verbündeten des Irans übergegangen zu sein und strebt eine drastische Verschiebung des regionalen Kräfteverhältnisses an.

Wie Benjamin Netanjahu in seiner kämpferischen Rede vor den Vereinten Nationen verkündete, führt Israel einen Krieg an „sieben Fronten“: Nämlich dem Völkermord im Gazastreifen, der sich in Form von Siedlerangriffen ausbreitet, die von den Streitkräften im Westjordanland unterstützt werden; die Offensive im Libanon, die mit den explodierenden Pagern begann und in der Ermordung von Hassan Nasrallah gipfelte – als ikonischer Hisbollah-Führer genoss er das Prestige, als einziger in der Lage gewesen zu sein, Israel im Libanonkrieg 2006 zu besiegen; gezielte Bombenanschläge auf iranischem Gebiet, wo der Führer des politischen Flügels der Hamas, I. Haniyeh, ermordet wurde; sowie Angriffe auf die Houthis im Jemen und pro-iranische Milizen in Syrien und im Irak. Netanjahu machte deutlich, dass das eigentliche Ziel dieser Botschaften der Iran ist, den er daran erinnerte, dass es keinen Ort gibt, den „der lange Arm Israels“ nicht erreicht.

Ermutigt durch den Schlag gegen die Hisbollah, die nun praktisch kopflos ist und sich vorerst in einem Schockzustand befindet, hat Netanjahu die militärischen Einsätze verdoppelt. Nun begann die israelische Armee IDF mit einem offenbar begrenzten Vorstoß in den Südlibanon. In der Zwischenzeit geht der Beschuss weiter und erreicht zum ersten Mal seit dem Krieg von 2006 das Zentrum von Beirut. Zu diesem Zeitpunkt sehen Bezirke der libanesischen Hauptstadt bereits wie eine sepiafarbene Postkarte von Gaza aus: unaufhörlicher Beschuss ziviler Ziele, Tausende von Tote, Hunderttausende von Vertriebenen, ganze Familien, die auf ihrer eiligen Flucht im Freien, in öffentlichen Parks und sogar am Strand schlafen mussten.

Diese Spur des Todes und der Zerstörung im Nahen Osten, die der israelische Staat gelegt hat – 42.000 getötete Palästinenser:innen im Gazastreifen, weitere 700 im Westjordanland und fast 2.000 bei den ersten Bombardierungen im Libanon – ist auch ein Werk des Westens. Trotz der enormen internationalen Ablehnung der israelischen Kriegsverbrechen und der zunehmenden Isolierung des Landes genießt Netanjahu die bedingungslose Unterstützung der USA und europäischer Mächte wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien (zusammen mit Bütteln wie dem argentinischen Präsidenten Milei), die ihn mit Waffen und diplomatischer Deckung für seine völkermörderischen Kriege versorgen. Präsident Joe Biden, die Demokratische Kandidatin und derzeitige Vizepräsidentin Kamala Harris und der Republikanische Kandidat Donald Trump sind allesamt überzeugte Verfechter:innen der strategischen Allianz mit dem zionistischen Staat. Abgesehen von etwaigen Reibereien zwischen dem Weißen Haus und Netanjahu betrachtete „Völkermord-Joe“ die Ermordung Nasrallahs als eine „Maßnahme der Gerechtigkeit “ und hat seine militärische und finanzielle Unterstützung Israels beständig beibehalten und seine militärische Präsenz in der Region für den Fall eines iranischen Angriffs auf den zionistischen Staat verstärkt.

Die Offensive gegen die Hisbollah und den Libanon, die von den israelischen Befehlshabern als „Neue Ordnung“ bezeichnet wird, ist ein großer taktischer Erfolg für Netanjahu, der mit einem komplizierten Szenario konfrontiert war, da es ihm nach einem Jahr Krieg in Gaza nicht gelungen war, die Geiseln zu befreien, geschweige denn einen „totalen Sieg“, also die endgültige Vernichtung der Hamas, zu erreichen. Die Situation in Israel nach dem Hamas-Angriff vom Oktober 2023 ist komplex. In der gesamten Gesellschaft ist zweifellos ein Rechtsruck zu verzeichnen. Und während der Krieg populär ist, ist Netanjahus ultrarechte Regierung es nicht, insbesondere wegen ihrer Weigerung, über einen Waffenstillstand im Austausch für die Freilassung der Dutzenden von Geiseln zu verhandeln, die immer noch von der Hamas festgehalten werden. Die kritische Wirtschaftslage (während Israel die Hisbollah angriff, stufte JP Morgan die Kreditwürdigkeit des Landes herab) und das Gewicht des orthodoxen Sektors und der faschistischen Siedler:innen tragen zu Bibis Unbeliebtheit bei. Die neue Kriegsfront brachte jedoch eine neue „nationale Einheit“ mit Gegner:innen mit sich, die noch mehr nach Krieg verlangen als Netanjahu selbst.

Innerhalb von zehn Tagen ist es den IDF gelungen, die Hisbollah zu enthaupten, indem sie fast ihre gesamte historische politisch-militärische Führung ermordet haben. Der Angriff machte deutlich, wie anfällig die Organisation für die Infiltration durch den israelischen Geheimdienst ist, der den genauen Aufenthaltsort von Nasrallah und seinen hochrangigen Befehlshabern ausfindig machen konnte. Die libanesische Miliz verfügt zwar noch über ein umfangreiches Raketenarsenal und eine beträchtliche Anzahl von Kämpfern, doch wird es wohl noch einige Zeit dauern, bis sie Nasrallah und die ermordeten Militärkommandeure ersetzen und auch nur teilweise ihre Kampffähigkeit wiedererlangen kann.

Bislang ist die „Enthauptungsoperation“ der Hisbollah zweifellos ein taktischer Erfolg für Israel, der den regionalen Status quo ins Wanken bringt. Aber sie scheint nicht auszureichen, um die ehrgeizige „Neue Ordnung“ zu errichten, die Netanjahu anstrebt. Laut der „heiligen Karte„, die er vor den spärlichen Zuhörer:innen in der UN-Vollversammlung zeigte, sieht er die Auslöschung der Palästinenser:innen von der Landkarte und die Angliederung der Gebiete an ‘Groß-Israel“ vor sowie vielleicht auch die Kolonisierung eines Streifens im Südlibanon.

Statt auf eine „Neue Ordnung“ scheint die Situation auf einen Sprung ins regionale Chaos zuzusteuern, der die USA mitten im Streit um das Weiße Haus in ein neues militärisches Abenteuer im Nahen Osten stürzen könnte.

In nächster Zeit wird die Dynamik weitgehend davon abhängen, wie der Iran auf das schwer zu lösende strategische Dilemma reagiert. Das Regime der Ajatollahs hat mit allen Mitteln versucht, eine direkte Konfrontation mit Israel und damit auch mit den Vereinigten Staaten zu vermeiden. Diese strategische Priorität entspricht dem Aufbau einer defensiven Achse von Milizen und taktischen und strategischen Verbündeten, innerhalb derer die Hisbollah eine zentrale Rolle spielt, nicht nur militärisch, sondern auch als Projektion der regionalen politischen Ambitionen des Iran. In diese Richtung ging auch die Intervention des reformorientierten iranischen Präsidenten Masoud Pezeshkian bei den Vereinten Nationen, der in einem versöhnlichen Ton versuchte, einen gewissen Dialog mit den Vereinigten Staaten und den westlichen Mächten wieder aufzunehmen, um die Sanktionen zu lockern und die Verhandlungen über das Atomprogramm wieder in Gang zu bringen.

Der Angriff auf die Hisbollah ist ein direkter Angriff auf das Herzstück dieser iranischen Strategie. Wenn das Regime nicht reagiert, könnte es schwach erscheinen und seine Führungsfähigkeit verlieren, sowohl im Inland, wo es an Legitimität verloren hat, als auch international. Wenn es jedoch in einen Krieg verwickelt wird, den es verlieren könnte, wäre das Ergebnis für das Überleben der Islamischen Republik ebenso katastrophal. Angesichts der schlechten Optionen ist nicht auszuschließen, dass der Oberste Führer Ali Khamenei und insbesondere der konservativere Flügel des iranischen Regimes gestärkt daraus hervorgehen und die Entwicklung von Atomwaffen vorantreiben werden.

In Anbetracht des möglichen Wendepunkts, den die israelische Kriegseskalation darstellen könnte, ziehen einige Analysten eine Analogie zum Sechstagekrieg von 1967, nicht nur wegen des militärischen Aspekts, sondern vor allem, weil die Niederlage Nassers und seiner syrischen Partner den Beginn des Niedergangs des arabischen Nationalismus markierte. In ähnlicher Weise sehen sie darin das Ende eines regionalen Status quo, der in erster Linie als Folge der Niederlage der USA im Krieg und der Besetzung des Irak errichtet wurde, was als Nebeneffekt die regionale Stärkung des Iran zur Folge hatte, der zum Hauptfeind des Staates Israel avancierte.

Die Analogie scheint jedoch übertrieben, denn der Schlag gegen die Hisbollah, eine parastaatliche Miliz, bleibt im Bereich der asymmetrischen Kriegsführung. Darüber hinaus hat der israelische Sieg im Sechstagekrieg zwar das geopolitische Gleichgewicht in der Region verändert und Jahre später zu dem vom US-Imperialismus geförderten Friedensabkommen mit Ägypten geführt, aber er bedeutete nicht das Ende der palästinensischen nationalen Sache, die den Verrat des arabischen Nationalismus überlebte und in den Intifadas in den besetzten Gebieten wieder auflebte. Im Gegenteil, islamistische Organisationen wie die Hamas, die zwar radikalisiert sind, aber die reaktionäre Strategie verfolgen, einen theokratischen Staat zu errichten, machten sich dies zunutze.

Es ist nicht das erste Mal, dass Israel radikal-islamistische bewaffnete Organisationen „enthauptet“ hat. Tatsächlich ist dies eine ziemlich gängige Praxis. Um nur einige Beispiele zu nennen: 1992 ermordete Israel Abbas Mousavi, den damaligen Generalsekretär der Hisbollah, der von Nasrallah abgelöst wurde. Und 2004 wurden der Geistliche Ahmed Yassin und Abdel Aziz al-Rantisi, zwei der Gründer der Hamas, hingerichtet. Es stimmt, dass das Ausmaß des aktuellen Angriffs weitaus größer ist. Der Krieg im Gazastreifen hat die Hamas-Struktur dezimiert, und der Einmarsch in den Libanon zielt wahrscheinlich darauf ab, der Hisbollah das Gleiche anzutun und durch Terror, Völkermord und die Androhung der Vernichtung den Willen und die Fähigkeit des palästinensischen Volkes (zu dem sich nun auch der Libanon gesellt hat) zum Widerstand zu vernichten. Im Lichte der historischen Erfahrung hat sich der taktische Vorteil dieser Schläge nicht in strategische Siege verwandelt, weil Israel und seine imperialistischen Verbündeten den Kampf gegen die koloniale Unterdrückung nicht zunichte gemacht haben. Im Gegenteil, sie haben die Radikalisierung neuer Generationen gefördert, die den Widerstand in den besetzten Gebieten wieder aufleben lassen oder sich in den zentralen Ländern mit der Komplizenschaft ihrer eigenen Regierungen mit dem vom Staat Israel verübten Völkermord auseinandersetzen. Nichts spricht dafür, dass es dieses Mal anders sein wird.

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