Israel braucht die Beinah-Eskalation

25.04.2024, Lesezeit 10 Min.
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Foto: Shutterstock / Truba7113

Israel spielt mit dem Feuer eines eskalierenden Krieges mit dem Iran und riskiert dabei nicht nur Menschenleben in der gesamten Region, sondern erzwingt im selben Zug auch den Fortbestand westlicher Unterstützung und lenkt vom Genozid in Gaza ab. Das wirkt sich auch auf unsere eigenen Gesellschaften aus.

Nur knapp zog das Gewitter des zwischenstaatlichen Krieges am Himmel des Mittleren Ostens vorüber. In der jüngsten, furchterregenden Eskalationsstufe bombardierten israelische Kräfte das iranische Konsulat im syrischen Damaskus und töteten hochrangige Militärs, worauf der Iran mit der Kaperung eines Containerschiffes und Drohnen- sowie Raketenangriffen auf israelisches Staatsgebiet reagierte – abgefeuert aus iranischen und jemenitischen Staatsgebiet, keine Toten. Nach einigen bangen Tagen begnügte sich Israel mit begrenzten Schlägen auf die iranische Stadt Isfahan, die die Islamische Republik aber herunterspielen und den Schlagabtausch vorerst für beendet erklären konnte. 

Warum unternahm die israelische Führung diesen ersten Schritt hinab des Kriegspfads und provozierte einen Vergeltungsschlag? Und das zu einem Zeitpunkt, in dem das Regime ohnehin international an Ansehen verliert und regionale Fragilität zunimmt? 

Schon lange schwappt der Vernichtungskrieg in Gaza bereits in umliegende regionale Konflikte über; so bombardieren die israelischen Streitkräfte den Süden des Libanons und liefert sich Feuergefechte mit Militant:innen der Hisbollah-Gruppe, jemenitische Kräfte der sogenannten Huthis kapern Schiffe, die sie in Zusammenhang mit Israelis stellen, und diplomatische Anstrengungen ausländischer Akteure sind mit der Stabilisierung der fragilen Region überlastet. Auch fügt sich der Schlagabtausch in eine bereits laufende Serie ein; erst im Januar 2024 trafen israelische Drohnenangriffe Infrastruktur auf iranischem Staatsgebiet. 

Doch der offene Beschuss auf das israelische Territorium durch die Iranische Revolutionsgarde stellt eine qualitative Neuerung im schwelenden Konflikt zwischen Iran und Israel dar – und birgt immer noch erhebliches Gefahrenpotential einer kriegerischen Ausweitung, die nicht nur Regionalmächte, sondern auch die globalen Player erfassen könnte. 

Pokern um das richtige Maß der Eskalation

Die iranische Antwort auf die erste Bombardierung ihrer diplomatischen Einrichtung war in ihrer Form, trotz aller Dramatik, letztlich moderat und defensiv

Das mag kontraintuitiv erscheinen, denn das theokratische Unrechtsregime des Irans hat sich bereits seit Jahrzehnten die Vernichtung Israels offen zum Ziel gesetzt. Doch die Feindschaft wird streng eingehegt von dem immensen geopolitischen Druck und dem Damoklesschwert des offenen Krieges mit den USA und auch Saudi Arabien. In diesem Kontext musste die Iranische Revolutionsgarde abwägen, wie sie einerseits auf die Bombardierung ihres Konsulats reagieren kann, und damit den totalen Gesichtsverlust durch Untätigkeit vermeidet, aber andererseits die Konfrontation mit der Nuklearmacht Israel und ihrem US-amerikanischen Beschützern nicht ausufern lassen muss. Dies steht im Einklang mit ihrer bisherigen Strategie der  „strategischen Geduld“, die den offenen Konflikt vor allem mit den USA zu vermeiden sucht, und stattdessen allierte Gruppen wie die Hisbollah im Libanon, die sogenannten Huthis im Jemen, oder auch Gruppen in Gaza wie der Hamas oder dem Islamischen Dschihad unterstützt. Die Drohnen- und Raketen-Barrage wurde im Vorhinein derart offensichtlich an umliegende Staaten telegraphiert, dass die israelischen, US-amerikanischen, französischen und jordanischen Abwehrsysteme keine Schwierigkeiten mit der Verteidigung hatten. Direkt nach der Barrage meldeten die Iraner bei den Vereinten Nationen, dass sie keine weiteren Maßnahmen planen. Fast nur eine Inszenierung, also. 

Dabei müssen sich linke und palästinasolidarische Bewegungen gegen eine Lesart aussprechen, die im iranischen Gegenangriff eine antiimperialistische Tat erkennt. Denn die Machthaber in Teheran sind keine Verbündete im Kampf gegen Unterdrückung, sondern selbst Unterdrücker der eigenen (palästinasolidarischen) Jugend und Schlächter von Zivilist:innen im eigenen Territorium und im Ausland. Der Imperialismus lässt sich nicht mit den Waffen anderer Ausbeuter schlagen. 

Sowohl die US-amerikanische Biden-Administration als auch europäische Staaten redeten in den darauffolgenden Tagen auf das Kabinett Netanjahus ein, den Schlagabtausch nicht fortzuführen. Offenbar mit mäßigem Erfolg: Israel verzichtete vorerst auf einen drastische Reaktion, aber kündigte weitere Schläge in der Zukunft zu einem „selbstgewählten Zeitpunkt“  und forderte neue Sanktionen gegen Iran, wozu offenbar einige westliche Staaten auch bereit sind. Israels beginnende internationale Isolation könnte vorerst abgewendet worden sein.


Aber der zentrale Gewinn für das israelische außenpolitische Interesse wurde bereits realisiert. Denn: Die stetige Eskalation ist für das israelische Regime überlebenswichtig.

Durch sie wird zweierlei erreicht. 

Erstens werden die verbündeten Staaten Israels bei der Stange gehalten. Je existenzieller die Gefahr für Israel dargestellt werden kann, desto bedingungsloser und massiver ist die Unterstützung des westlichen Blocks. 

Über die letzten sechs Monate wuchs das Unbehagen unter westlichen Regierungschef:innen mit den genozidalen Ausmaßen des israelischen Angriffs auf Gaza, die Anklagen vor den internationalen Gerichtshöfen häufen sich und auch der populäre Widerstand dauert an. Immer mehr Staaten fordern einen Waffenstillstand und eine politische Lösung, und langsam, aber beständig, erhöht sich der Druck auf das israelische Regime. Das hat nicht nur diskursive, sondern auch militärische Konsequenzen. 

Die USA, die den israelischen Militärapparat mit Munition und Technologie aufrechterhalten, sind global überdehnt. Längerfristig muss man sich auf die Eventualität eines Konfliktes mit China über Taiwan vorbereiten, gleichzeitig den Schifffahrtsverkehr im Roten Meer vor jemenitischen Angriffen der sogenannten Huthis schützen, aber vor allem das ukrainische Heer im Kampf gegen die russischen Armee versorgen. Ohne die amerikanische Versorgung würden alle diese Konflikte böse für die US-Satellitenstaaten enden. Auch für Israel. Der Dauerbeschuss der palästinensischen Zivilbevölkerung frisst viel Artilleriemunition, genauso wie der Krieg in der Ukraine. Beides zugleich kann die USA längerfristig in ausreichendem Maße nicht stemmen, denn ihre Munitionsfabriken produzieren zwar nach wie vor immense Quantitäten, aber nicht schnell genug. Das ist eine post-hegemoniale Realität.

Doch indem Israel jetzt die existenzielle Gefahr für das eigene Überleben hochschraubt und glaubwürdig darstellt, rutscht die Versorgung der Truppen höher in der Prioritätenliste der US-Administration. Die Regionalmacht Iran ist den US-Amerikaner:innen schon seit der islamischen Revolution 1979 ein Dorn im Auge, insbesondere wegen der Entwicklung iranischer Nuklearkapazitäten (das israelische Nukleararsenal beunruhigt in Washington DC aber offenbar niemanden). Auch innenpolitisch halten die iranischen Mullahs oft als Boogeyman her für die harten Außenpolitiker:innen der Demokratischen und Republikanischen Parteien. In diesem Kontext ist die Funktion des israelischen Staates als lokaler Wachhund alternativlos für das Weiße Haus.

Zweitens stellt der Konflikt mit Iran, wie auch mit der Hisbollah, schlicht eine willkommene Ablenkung vom laufenden Genozid in Gaza dar und vom Besatzungsterror generell. Im Schatten zwischenstaatlichen Krieges werden durch die Geschichte hinweg immer die schlimmsten Gräueltaten verübt, gehen Skrupel, Recht und internationale Presseaufmerksamkeit im Namen des nationalen Notstands und angeblicher größerer Probleme flöten. So wird im Schatten der zwischenstaatlichen Spannung die Bodenoffensive gegen die Grenzstadt Rafah im Gazastreifen vorangetrieben, vor der die westlichen Staaten die israelische Heeresführung abzuhalten versuchten und wobei tausende Menschenleben auf dem Spiel stehen. 

Im Kontext einer offeneren zwischenstaatlichen Konfrontation werden die Verbündeten Israels humanitäre Bauchschmerzen unter den Tisch fallen lassen und die (ohnehin heuchlerische) Kritik einstellen müssen. Denn beides gleichzeitig geht nicht: einerseits die Unterstützung der Konfrontation mit dem Iran gewährleisten und andererseits sie dem Besatzungsapparat entziehen – oder andersherum. Leider ist die israelische Armee nämlich für beides zuständig. 

Bei der Erkennung dieser israelischen Interessen geht es nicht darum, eine vermeintliche Verschwörung oder klandestine Taktik zu entdecken. Auch die Auffassungen und Taktiken innerhalb der israelischen Militärführung sind vielfältig und inwieweit die jüngste iranische Gegenreaktion konkret antizipiert wurde, ist nicht entscheidend um zu verstehen, dass die historisch gewachsene Interessenlage der Besatzung strukturell auf Eskalation gepolt ist. In einer prekären Lage wie heute treten diese Tendenzen deutlicher zutage.

Klar ist, dass sowohl Israel als auch Iran die richtige Härte ihrer jeweiligen Militärschläge genau kalkulieren, die potentiellen Kosten einer Gegenreaktion mit den Imperativen ihrer Situation gegeneinander abwägen. Sich dabei zu verrechnen, geht schnell. 

Es gilt die übergeordneten, überlebenswichtigen Prinzipien eines Staates analysieren, der sich als liberaler Teil in einer bürgerliche Ordnung einreihen will, aber gleichzeitig eine der langlebigsten und brutalsten Besatzung der modernen Geschichte aufrecht erhält und sich zudem im Dauerkonflikt mit seinen Nachbarstaaten befindet. Die Aufrechterhaltung dieser Situation ist ohne amerikanische Rückendeckung unmöglich, und die notwendigen massiven Ausmaße dieser Unterstützung sind nicht gewährleistet, ohne dass die Dringlichkeit des Konflikts mit dem Iran, Irak, oder wer auch immer tagesaktuell im Fadenkreuz der USA steht, heißläuft. 

Regionaler Frieden ist somit paradoxerweise gefährlich für die israelische Staatsform und den Zionismus, der im konstanten Notstand gedeiht.

Vielfältige westliche Kapitalinteressen und zivile Repression

Nicht alle Zeichen stehen auf Krieg. Innenpolitisch fürchten sich europäische Regierungen teilweise vor dem Widerstand der eigenen Bevölkerung, aber vor allem vor den Menschen, die vor den Resultaten solch einer europäischen Außenpolitik fliehen werden. In den USA stehen dieses Jahr Wahlen an und die muslimisch-arabischen Wählerstimmen sind für die Demokratische Partei nicht ersetzlich. Auch internationaler Druck durch die Staaten des Globalen Südens oder internationale Gerichtshöfe steigt.  

Der bisherige Schaden der Weltwirtschaft, den die israelische Aggression verursacht, beschränkt sich zwar hauptsächlich auf den Schifffahrtsverkehr im Roten Meer. Bei einer Intensivierung des Konflikts ist aber zumindestens eine Explosion des Ölpreises sowie ein Handelseinbruch zu befürchten, denn: Wenn zusätzlich die Meeresstraße von Hormus im Persischen Golf für den internationalen Handel wegfallen würde, dann käme auch das hiesige Kapital ins Schwitzen. Daran haben die meisten produktiven und merkantilen Wirtschaftszweige in imperialistischen Staaten kein unmittelbares Interesse. Auch in China nicht, das ein bedeutender Abnehmer iranischer Energieexporte ist.  

Dagegen wirkt aber das mächtige Interesse des berüchtigten military-industrial-complex. Krieg ist auch ein Geschäft. Heeresführung, Rüstungsunternehmen, ihre Aktieneigentümer:innen und alliierten Politiker:innen, die zusammen ein einflussreiches Interessengewebe vor allem in den USA bilden, hauen zusammen sich die Taschen voll, wenn ihre Bürger:innen in den nächsten sinnlosen Krieg in einem fernen Land ziehen. Einflussreiche Lobbies und Meinungsmacher:innen in Washington, D.C. setzen viel Zeit und Geld um, um die Unterstützung für Israel im Kriegsfall mit Iran zu garantieren. Und dieses Gewebe ist langlebiger, stabiler, ressourcenreicher und beharrlicher als die Biden-Administration, der die Abwahl droht. Somit ist die kriegerische Tendenz des US-Imperialismus, die den Invasionen des Iraks, Afghanistans, Syriens, etc. zugrunde lag, immer noch wirkungsmächtig.

Auch in Deutschland befinden sich die Aktienkurse von Rheinmetall und Co. auf einem Höhenflug, die Exportprofite explodieren. Politker:innen fast aller Parteien überschlagen sich mit Solidaritätsbekundungen mit der Ukraine oder Israel, die Aufrüstung im Rahmen der Zeitenwende macht Schlagzeilen, und die Bevölkerung wird immer mehr auf die Militarisierung gedrillt. Die Auswirkungen eines Konflikts mit dem Iran wären so immens, dass die Geschwindigkeit und Kompromisslosigkeit der Militarisierung in gleichem Maße steigen würde, so viel ist sicher. Linke Bewegungen müssen sich dieser Gefahr bewusst sein, sich wappnen und Widerstand organisieren. 

Denn in Kriegszeiten fällt die Maske der liberalen Toleranz und der Bürgerrechte ganz schnell. Sobald es an die Grundfesten der bürgerlichen Ordnung geht – beispielsweise die NATO-Allianz und Staatsraison der Stützung Israels – macht die achso freie Marktwirtschaft ihre Unfreiheiten sichtbar. Wir haben es vor einigen Wochen, in einer lehrreichen Gleichzeitigkeit mit dem Schlagabtausch zwischen Israel und dem Iran, an der Repression des Palästina Kongresses in Berlin miterlebt. Dort wurden kritische Stimmen mit Mitteln des politischen Betätigungsverbots, Festnahmen, und schließlich Veranstaltungsverbot mundtot gemacht. Nur die letzte Episode des andauernden autoritären Rechtsrucks. 

Die Divise der Arbeiter:innenbewegung und der Jugend muss in diesem Kontext weiterhin lauten: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“. In diesem Szenario ist es notwendig, sich lautstark gegen jegliche Möglichkeit einer Ausweitung der kriegerischen Involvierung der US oder NATO zu stellen. Ebenso muss die internationale Solidarität bedeuten, sich den Waffenlieferungen entgegenzustellen, aus denen die Rüstungsindustrie mit dem Morden Geschäfte macht.

Im Kampf um den Frieden müssen wir jedoch Klarheit darüber herstellen, welche Kräfte tatsächlich den Widerstand in einem Befreiungskampf führen können. Hierbei darf man sich keinen abstrusen Tagträumereien hingeben und im mörderischen klerikalen Regime im Iran, das von der eigenen Bevölkerung verachtet wird, einen vermeintlichen antiimperialistischen Freiheitskämpfer zeichnen. Vielmehr braucht es den Versuch all jener Frauen, Arbeiter:innen und Studierenden, die in den Aufständen der letzten Jahre im Iran kämpften, eine gemeinsame Vision jenseits der kapitalistischen Verhältnisse zu erreichen, damit diese nicht im imperialistischen Pokerspiel um Frieden zermalmt werden.

Der deutsche Staat gewährt der Solidarität mit Palästinenser:innen und Feinden des imperialistischen Krieges keinen Raum. Je heißer die Kriege laufen und je bedrohter die Vormacht des westlichen Blocks, desto kleiner der Raum für Kritik und friedlichen Widerstand. Wir müssen bereit sein, in dieser sich neu eröffnenden Situation eine klare Haltung einzunehmen, denn dieses Spiel mitzuspielen ist keine Option.

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