Iran: Der Aufstand als Antwort auf die Operation des islamischen Kapitalismus – Teil I
Im Iran gehen die Massen seit Tagen gegen eine Benzinpreiserhöhung auf die Straße. Was sind die tieferen Ursachen der Aufstände? Erster Teil einer Hintergrund-Reihe von Narges Nassimi und Suphi Toprak.
In den frühen Morgenstunden des vergangenen Freitags hat sich der Preis für Benzin in Iran verdreifacht und eine Rationierung wurde angeordnet. Ein großer Schock für die Arbeiter*innenklasse, die verarmten Massen auf dem Land in der Stadt und selbst für die unteren Sektoren des städtischen Kleinbürger*innentums und der Bäuer*innen, denn all diesen Sektoren ist bewusst, dass diese Preiserhöhung einen Tsunami der Inflation auslösen wird. Benzinpreiserhöhungen und Rationierung für Benzin hat es im Iran auch in den vergangenen Jahren schon mehrfach gegeben, die jedesmal nach Protesten beendet wurden. Der Unterscheid ist diesmal, dass die Beteiligung und die Radikalität viel größer sind. Denn der Benzinpreis gilt im Iran als der eigentliche „Auslöser der Inflationen“, die Massen haben ihre Erfahrungen mit dieser durch Benzinpreis diktierten Inflation bereits gemacht.
Somit hat die politische und ökomische Krise in Iran eine neue Stufe erreicht, die einen Schritt in Richtung einer revolutionären Phase geht. Die Massen wollen nicht so weiter machen; ob das Regime es immer noch kann, wird sich in den nächsten Tagen zeigen. Die Lebensbedingungen kann das Regime nicht verbessern, eher umgekehrt: Das Regime will seine Fähigkeit testen, ob es die Massen noch brutal unterdrücken kann. Wirtschaftlich will das Regime trotz der bisherigen Proteste weiterhin an seinem Programm festhalten. Es sind sogar neue entsetzliche Wirtschaftspläne geplant, die derzeit durch eine neue Institution unter dem Befehl Khameneis geschmiedet werden. Diese neue Institution heißt „Oberster Rat für wirtschaftliche Koordinierung der Exekutive, Judikative und Legislative“. Nach dem Rückzug der Trump-Regierung aus dem Atomabkommen befahl Ayatollah Ali Khamenei drei obersten Regierungsbeamten aus diesen Bereichen (Hassan Rouhani, Sayed Ebrahim Reisi, Ali Larijani) sich regelmäßig zu treffen, um wirtschaftliche Probleme mit dringender Entscheidungsfindung (ein sogenannter „wirtschaftlicher Notplan“) zu lösen. Ein Beispiel für diese Entscheidungen und angeblichen Lösungen sind die Erhöhung des Benzinpreises und aller restlichen Kraftstoffpreise.
Die Details dieser neuen „ wirtschaftlichen Pläne“ wurden vergangene Woche schlagartig und überrumpelnd in den frühen Morgenstunden, über Nacht angekündigt, um die Reaktion der Öffentlichkeit zu kontrollieren. Die neueste „Operation des iranischen Kapitalismus“ als Folge der Verhandlungen zwischen dem Internationalen Währungsfonds und den Behörden der Islamischen Republik löst härteste Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse des Landes aus.
Wirtschaftskrise im Iran
Die zweitgrößte Volkswirtschaft der Region, die sich überwiegend (etwa 70 bis 80 Prozent) in den Händen der theokratischen Machthaber des Landes beziehungsweise religiöser Stiftungen (Bonyad) konzentriert, befindet sich gerade in einer großen wirtschaftlichen Krise.
Die wichtigsten Wirtschaftszweige Irans sind vor allem die Öl- und Gasindustrie. Die Ölexporte des viertgrößten Ölproduzenten der Welt sind allerdings aufgrund der erneut veranlassten Strafsanktionen des US-Imperialismus bis Anfang Oktober um mehr als 80 Prozent zurückgegangen. Diese imperialistische Unterwerfungspolitik führte dazu, dass die Wirtschaftslage sich deutlich verschlechterte. Unter dem Kommando imperialistischer Institutionen wir dem IWF hat der iranische Rial (IRR) seit Anfang 2018 im Vergleich zum Euro zeitweise 75 Prozent an Wert verloren; aktuell liegt der Wertverlust bei ca. 60 Prozent.
Die Krise ist so tief, dass die Regierung des reformorientierten Präsidenten Hassan Rohani zum ersten Mal nach 31 Jahren die Ausgabe von Lebensmittelbezugsscheinen eingeführt hat. Anders gesagt: Die aktuelle wirtschaftliche Lage ähnelt der Lage während des achtjährigen Kriegs zwischen Iran und Irak. Darüber hinaus wird die Kürzung der Subventionen der Energiepreise massiv vorangetrieben. Die innere politische Krise der zwei Fraktionen des Regimes, die „Hardliner“ und die „Reformer“, vertiefte sich, nachdem die Hardliner Rohani die Schuld an der Misere gaben. Eine Möglichkeit für den vorübergehenden Ausweg aus der aktuellen Krise könnte die Amtsenthebung von Rohani durch die Hardliner sein, so wie es das Regime in seiner Grundungszeit 1979 mit Bani-Sadr gemacht hat.
Auf den Schultern der Arbeiter*innenklasse und verarmten Bevölkerung
Die Wirtschaftsmonopole der religiösen Stiftungen kontrollieren ca. 80 Prozent der Wertschöpfung. Die korrupte Regierung plant mit massiven neoliberalen Privatisierungsmaßnahmen, den privaten Sektor deutlich zu erweitern, was im Endeffekt bedeutet, dass die Profite in den privaten Taschen der herrschenden Elite und ihren Familien landen. Die Bonyads haben die Monopole des Exports, Zoll, Hafen, Baumaterial (Beton), Reedereien und Petrochemie, Hotels, Universitäten und Banken in ihren Händen und genießen Steuervorteile. Währenddessen muss die Arbeiter*innenklasse deren Steueranteil auf ihren eigenen Schultern tragen. Der iranische Kapitalismus hat eine eigene Wirtschaftsvertretung in Form der religiösen Stiftungen gefunden, die mit dem Staatsapparat teilweise verschmolzen sind, während die Arbeiter*innen angekettet an den Staat an diesem korporatistischen Regime mitwirken.
Die Inflationsrate liegt aktuell bei ca. 50 Prozent und die Arbeitslosenrate bei ca. 11 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit (15 – 29 Jahre) liegt bei 25,3 Prozent, vor allem die Student*innen sind davon betroffen. Im Iran sind zurzeit 40 Prozent der Akademiker*innen arbeitslos. Die Wohnungspreise sind laut der iranischen Statistikbehörde um 104 Prozent explodiert, ähnlich wie die Lebensmittepreise. So hat sich der Preis für Kartoffeln vervierfacht, Tomaten sind heute 140 Prozent teurer als vor einem Jahr, Zucker 119 Prozent. Die sind die zentralen Nahrungsmittel der Arbeiter*innenklasse und der verarmten Bevölkerung. Fleisch können viele sich kaum einmal pro Jahr leisten.
Darüber hinaus wurden und werden die Arbeiter*innen in vielen Bereichen nicht mehr bezahlt. So kam es in den vergangenen Jahren und Monaten immer wieder zu Streiks von Bahnmitarbeiter*innen. Sie haben mehrfach Zugstrecken zwischen der Hauptstadt Teheran und der wichtigen Hafenstadt Bandar Abbas blockiert, da ihnen drei Monate lang kein Lohn bezahlt wurde. Die Lehrer*innen streikten landesweit, da sie von ihrem Gehalt nicht mehr leben können. Auch in Fabriken von Autoherstellern, der größten Zuckerfabrik des Landes Haft Tapeh, der Stahlfabrik Fulad oder zuletzt im Mineralwasserwerk Damash kommt es immer wieder zu Aufständen, weil die Besitzer*innen Rohstoffe und Löhne nicht besorgt haben.