Irak: eine mutige Jugend, die nichts mehr zu verlieren hat
Die Bewegung im Irak ging von prekären Jugendlichen und armen Arbeiter*innen aus. Dann schloss sich die Jugend in den Schulen der Bewegung an und zog die Lehrer*innen mit sich. Trotz der Repression gingen die Mobilisierungen weiter.
Dieser Text ist zuerst am 28. Oktober 2019 auf Révolution Permanente erschienen.
Der 1. Oktober war der Beginn massiver Demonstrationen. Sie wandten sich gegen die Korruption, steigende Arbeitslosigkeit und forderten qualitativ hochwertige, öffentliche Dienstleistungen. Nach einigen Tagen beruhigte sich die Lage etwas. Am vergangenen Freitag wurde der Protest im Irak jedoch mit großer Kraft fortgesetzt. Das gilt auch für die Repression. Schätzungsweise sind seit Beginn der Mobilisierungen mehr als 200 Menschen getötet worden, allein 70 davon seit letztem Freitag. Es gibt mehr als 8.000 Verwundete. Irakische Sicherheitskräfte feuern mit scharfer Munition auf Demonstrant*innen, schlagen und verstümmeln sie mit abscheulichen Methoden. Einige Protestierende erlagen Verletzungen, die sie durch Tränengasgeschosse erlitten hatte, die aus nächster Nähe direkt in ihre Gesichter oder auf den Kopf abgeschossen wurden. Videos und Bilder, die in den sozialen Netzwerken kursieren, zeigen buchstäblich Kriegsszenen, in denen die Verbrechen der Armee, Polizei und iranisch unterstützter Milizen zu sehen sind.
Doch trotz dieser krassen Repression halten die Demonstrierenden heldenhaft stand. Sie sind mit Gas und Kugeln konfrontiert und sie haben nichts mehr zu verlieren. Tatsächlich sind es vor allem die prekären oder arbeitslosen Jugendlichen, die die treibende Kraft hinter dem Protest sind, in einem Land, in dem 60% der Bevölkerung unter 25 Jahre alt ist. Diese jungen Menschen verurteilen eine politische Klasse, die nach der Invasion durch die USA an die Macht gekommen ist, völlig korrupt und unfähig, den Menschen Arbeit und qualitativ hochwertige, öffentliche Dienstleistungen zu bieten.
Seit ein paar Tagen gibt es eine neue Entwicklung. Die arbeitslose Jugend und die verarmten Arbeiter*innen der Städte werden seit Sonntag von Schüler*innen unterstützt: Bilder zeigen sehr junge Schüler*innen, Gymnasiast*innen und Student*innen, wie sie an den Demonstrationen teilnehmen und so die Macht herausfordern. Diese Schüler*innen nehmen ihre Lehrer*innen mit und auch andere Beamt*innen schließen sich ihnen an. Einige Lehrer*innen ermutigen ihre Schüler*innen sogar dazu zu demonstrieren, wodurch sie durchaus ihr eigenes Leben und ihren Arbeitsplatz gefährden. Ein solcher Fall ist im folgenden Video zu sehen. Eine Lehrerin, die ihre Schüler*innen zur Demonstration mobilisieren will, wird von einem Polizisten angegriffen:
Im Bewusstsein der Gefahr, dass die Jugend aus den Schulen und die besser organisierten Sektoren der Arbeiter*innenklasse der Bewegung beitreten, bedroht die Regierung Schüler*innen und Beamt*innen, die ihren Schulen und ihren Arbeitsplätzen fern bleiben wollen. Die Armee hat bis auf weiteres auch eine Ausgangssperre von Mitternacht auf sechs Uhr morgens verhängt. Die irakische Regierung und ihre ausländischen Herren, insbesondere die Vereinigten Staaten und der Iran, beginnen Angst zu haben.
Gegen ausländische Einmischung im Irak
Seit dem 25. Oktober haben die Demonstrationen eine immer explizitere Wendung vollzogen, bei der die Einmischung von außen angeprangert wird. Viele Demonstrierende sangen „Raus mit dem Iran“. Tatsächlich nutzte Teheran nach dem Scheitern der Invasion des US-Imperialismus die Gelegenheit, seine Positionen im Irak zu stärken und stützte sich dabei insbesondere auf die schiitische Bevölkerung. Tatsächlich haben die USA und der Iran eng zusammengearbeitet, um einen Anschein von „Stabilität“ zu schaffen, immer auf dem Rücken der Arbeiter*innen und des einfachen Volkes im Irak.
Infolgedessen eröffneten pro-iranische Milizen am vergangenen Freitag das Feuer auf die Demonstrationen. Dieses Verbrechen löste eine sofortige Reaktion aus. Demonstrant*innen zündeten pro-iranische Parteigebäude an und verbrannten iranische Flaggen, doch legten auch Feuer an wichtige Gebäude irakischer Regierungsinstitutionen. In den sozialen Netzwerken wird auch berichtet, dass Demonstrant*innen vier pro-iranische Milizionäre getötet haben sollen.
Der Iran ist nicht das einzige ausländische Regime, das von den Demonstrierenden ins Visier genommen wird. Wie bereits erwähnt, fordert der Protest „den Sturz des Regimes“. Das derzeitige politische Regime im Irak ist jedoch eines, das von den USA in Zusammenarbeit mit Teheran nach dem Sturz von Saddam Hussein im Jahr 2003 installiert worden ist. Ein Regime, das auf einer reaktionären und konfessionellen Aufteilung von Machtpositionen basiert, systembedingt Klientel- und Korruptionsformen erzeugt und fördert. Die irakische Jugend und die Arbeiter*innen fordern also diese so genannte „Demokratie“ heraus, die der US-merikanische Imperialismus und seine Verbündeten mit sich gebracht haben.
Wie derzeit auch im Libanon, haben die irakischen Mobilisierungen in diesem Sinne „nationalen“ Charakter, bei gleichzeitiger Überwindung religiöser Spaltungen. Es ist ein Kampf für soziale und politische Forderungen, aber auch letztlich ein Kampf für die nationale Befreiung aus dem Griff des Imperialismus, genau so wie aus dem Griff von Regionalmächten wie dem Iran. Der Iran, der mit seinen Verbündeten dabei ist, seinen reaktionären Charakter sowohl im Irak als auch im Libanon zu zeigen, wo sich die Hisbollah als Bollwerk für die Verteidigung des Regimes gegen Demonstrant*innen präsentiert.
Schüler*innen trotzen dem Regime
Der Irak ist ein Land, in dem es beispielsweise im Gegensatz zum Libanon sehr selten vorkommt, dass Frauen an Demonstrationen teilnehmen. Während diesen Mobilisierungen sehen wir jedoch immer mehr Bilder von sehr jungen Frauen, einschließlich junge Schülerinnen, die auf die Straße gehen, Slogans gegen die Regierung und das Regime singen, rückständige Normen in Frage stellen und auch Repressionen ausgesetzt sind.
Diese Bilder sind ein Ausdruck der tiefen Unzufriedenheit, ein Ausdruck des Protests. In einem Land, in dem die Bevölkerung durch jahrelange imperialistische Bombardierungen und Invasionen malträtiert wurde, ein Land, das durch einen reaktionären Bürgerkrieg und die Entstehung von Daesh verwüstet wurde, widersetzen sich prekäre Jugendliche, Frauen und Arbeiter*innen der Repression. Nicht nur die jungeen Männer demonstrieren und werden unterdrückt, sondern gerade auch die jungen Frauen des Landes. Sie werden von „tuk-tuks“ geschützt, die gelegentlich auch zum Transport von Verwundeten oder Toten verwendet werden. Im Irak gibt es derzeit eine echte Massenbewegung, die die Sektoren der Arbeiter*innenklasse, die eine größere organisatorische Kapazität haben, mitreißen könnte.
Im Zusammenhang massiver internationaler Mobilisierungen hat der Irak seine Geschichte bereits auf die Liste gesetzt. Offensichtlich ist diese Bewegung nicht immun gegen Abweichung und Manipulation durch demagogische bürgerliche Kräfte. In diesem Zusammenhang ist die Unterstützung des Massenaufstands im Libanon oder gegen die Aggression der Türkei gegen Kurd*innen in Syrien von grundlegender Bedeutung für die Bekämpfung nationalistischer und reaktionärer Genesungsversuche. Diese mutige Jugend zeigt, dass der Klassenkampf trotz Unterdrückung und jahrelanger Reaktion eine Situation ändern und sogar den Grundstein für die Eröffnung einer revolutionären Krise legen kann.