Irak: Eine Massenrebellion erschwert die Pläne der USA
Die politische Krise im Irak erreichte am vorletzten Wochenende einen Höhepunkt. Tausende Demonstrant*innen besetzten für einen Tag die „grüne Zone“, das Regierungsviertel im Herzen Bagdads.
Die politische Krise im Irak, die von den großen Medien fast vollständig ignoriert wird, erreichte am vergangenen Wochenende einen Höhepunkt. Tausende Demonstrant*innen besetzten für einen Tag das Regierungsviertel im Herzen Bagdads, das als Festung von Saddam Hussein diente und das Symbol für die US-Besatzung war. Der mögliche Zusammenbruch der Regierung und selbst der staatlichen Einheit bedeutet nichts gutes für die USA, die ihre Strategie zur Bekämpfung des sogenannten Islamischen Staates (IS) in Syrien und dem Irak bedroht sehen.
24 Stunden lang besetzten einige tausend Sympathisant*innen des schiitischen Klerikers Moktada al-Sadr die „grüne Zone“ genannte Festung, die historisch nicht für die einfache Bevölkerung zu betreten war. Die Sicherheitskräfte waren nicht auf diesen Ansturm gefasst und zeigten damit die Schwäche des Ministerpräsidenten Haider al-Abadi und des Staats insgesamt gegenüber einer Bewegung von der Straße und einem Politiker, der sich wieder einmal als populistischer Anführer darstellt.
Laut der New York Times hinterließen diese Szenen einen „Nachgeschmack an Revolution“. Viele Demonstrant*innen jubelten und stellten den Fall der Statue von Saddam Hussein nach, als würden sie eine Diktatur beenden. Und auf Befehl ihres Chefs verließen sie den Stadtkern von Bagdad mit der Warnung, in den nächsten Tagen wiederzukehren. Damit entblößten sie vor den Augen der Welt die tiefe Krise des politischen Systems im Irak, das sich nach der US-Besatzung etablierte.
Doch eine solche Beschreibung wäre übertrieben, wenn diese Aktion der Anhänger*innen von al-Sadr nicht nur die Spitze eines Einsbergs von Massenprotesten in den vergangene Monaten wäre. Immer wieder gingen Menschen auf die Straße, um auf die Probleme im öffentlichen Dienst, die Stromsperren, die Arbeitslosigkeit und die skandalöse Korruption aufmerksam zu machen. Dabei kam es zu Demonstrationen mit mehr als 200.000 Menschen.
Die wichtigste Forderung ist das Ende eines Verteilungssystems der Staatsmacht anhand religiöser und ethnischer Gruppen mit schiitischer Vorherrschaft, das von den USA eingeführt wurde, um die Einheit des Staates zugewährleisten. Damals folgten sie dem Beispiel des Libanon nach dem Ende des Bürger*innenkriegs. Ein Großteil der Bevölkerung findet, dass dieses Modell die intra-religiösen Konflikte zwischen Schiit*innen und Sunnit*innen (und den Kurd*innen) weiter zuspitzt. Diese Konflikte schufen die Bedingungen für den Aufstieg des IS und machten möglich, dass fast 30 Prozent des irakischen Territoriums, darunter auch die zweitwichtigste Stadt des Landes, Mossul, in die Hände des IS-Kalifats fiel.
Der Ministerpräsident al-Abadi, Schiit mit Verbindungen zum Iran und noch besseren Verbindungen zu den USA als sein Vorgänger al Maliki, steht unter doppeltem Druck. Die Regierung der Vereinigten Staaten fordert ihn dazu auf, alle seine Ressourcen auf den Kampf gegen den IS zu verwenden. Die Massenbewegung hingegen, die weder schiitisch noch sunnitisch dominiert ist, fordert Arbeit und bessere Lebensbedingungen und ist die Vetternwirtschaft Leid. Sie hat die Wirtschaftskrise, die durch den Fall der Ölpreise und die Ausgaben im Rahmen des Kriegs gegen den IS bedingt ist, besonders hart getroffen.
In dieser Situation des internen und externen Drucks auf die Regierung konnte al-Sadr erstarken. Der schiitische Klerikale erlangte in den Vororten von Bagdad durch seinen Widerstand gegen die US-Besatzung 2003-2004 Bekanntheit. Wenige Jahre später war er Teil eines brutalen Bürger*innenkrieges gegen die sunnitische Minderheit und andere schiitische Fraktionen. Diese Auseinandersetzungen entfernten ihn von der politischen Macht und er exilierte freiwillig in den Iran.
Al-Sadr ging also als „sektiererischer“ Kämpfer, kam jedoch mit nationalistischen Ideen zurück. Er löste seine Milizen auf, die für die brutalen Vergehen an Sunnit*innen verantwortlich waren und ersetzte sie durch Brigaden, die gegen den IS kämpfen. Auf den von ihm organisierten Demonstrationen sieht man nur irakische Fahnen und keine Bilder von schiitischen Anführern, die unter der Diktatur von Saddam Hussein umgebracht wurden.
Auch wenn er die al-Adabi-Regierung nicht stürzen möchte, sondern auf Verhandlungen setzt, entwickelt die demokratische Forderung nach dem Ende des konfessionellen Systems eine enorme Sprengkraft, die über seine politischen Bestrebungen hinaus gehen. Das erklärt auch die Massivität der Bewegung. Diese bedroht das politische Establishment, das bis heute eine fiktive staatliche Einheit erhalten konnte und nach dem Rückzug der USA 2011 eine prekäre Stabilität aufrecht erhalten sollte.
Die Krise ging so weit, dass der US-Vizepräsident Joe Biden am 28. April in den Irak reiste, um sich der Zusammenarbeit von der Regierung und den kurdischen Anführer*innen in der Rückgewinnung von Mossul zu vergewissern. Der IS selbst befindet sich aktuell im Rückzug, führte jedoch in den letzten Wochen zahlreiche konterrevolutionäre Angriffe auf die schiitische Zivilbevölkerung durch.
Die Krise im Irak wird durch das Wiederaufflammen der Auseinandersetzungen in Syrien verstärkt. Das Assad-Regime mit Unterstützung von Russland machte sich erst vor kurzem für ein weiteres Massaker in Aleppo verantwortlich, das den diplomatischen Ausweg von Obama infrage stellt. Der Aufstieg von Massenprotesten im Irak ist ein positives Signal im Rahmen einer reaktionären Periode, die durch die Niederlage der Prozesse des arabischen Frühlings begann.