[Interview] Was passiert in Belarus?
Die Proteste der Massen in Belarus gegen die Diktatur von Lukaschenko sind neu aufgeflammt. Wir haben mit dem studentischen Aktivisten Ivan über die politischen Proteste und die Repression vor Ort ein Interview geführt.
Letzten Sommer waren die Medien weltweit geprägt von Berichten über die Proteste und Streiks in Belarus. In dem osteuropäischen Land gingen die Massen gegen Lukaschenko, den diktatorischen Präsidenten, auf die Straße. Die Protestierenden waren trotz extremer Repressionen hartnäckig und demonstrierten durchgehend, um Lukaschenkos Regime ein Ende zu setzen.
Nun gibt es ein erneutes Aufflammen von Wut in der belarussischen Bevölkerung. Letzte Woche holte Lukaschenko mit Hilfe eines Kampfjets eine Ryanair Maschine aus der Luft, um den an Bord sitzenden oppositionellen Journalisten Roman Protassewitsch zu verhaften.
Wir hatten die Möglichkeit, mit Ivan über die Situation zu reden. Ivan ist Student und kommt aus Minsk. Er war selbst Teilnehmer und Veranstalter diverser Aktionen und Demonstrationen. Aufgrund seines Aktivismus musste er aus Belarus fliehen und befindet sich mittlerweile im polnischen Exil.
Die Diktatur in Belarus existiert nun schon seit über 25 Jahren. Theoretisch ist seit Lukaschenkos erstem Wahlsieg 1994 bekannt, dass die dortigen Wahlen nicht rechtmäßig ablaufen. Was war bei den Wahlen letztes Jahr anders? Was brachte die Bevölkerung dazu, dieses Mal zu protestieren?
Dieses Mal kamen viele verschiedene Dinge zusammen, beispielsweise das Corona-Virus und Lukaschenkos Umgang damit. Außerdem halfen die sozialen Medien; vor allem Telegram. Bestimmte Telegram Channel, in denen über die Wahlen berichtet wurde, gewannen an Bekanntheit.
Außerdem gab es dieses Jahr das erste Mal Präsidentschaftskandidat:innen, die auf die breiten Massen, wie eine Alternative wirkten. Das ist tatsächlich ein sehr wichtiger Punkt, denn es gab schon immer Menschen, die aus Prinzip Opposition gewählt haben, um den Teufelskreis zu stoppen, aber das waren nie genug Menschen für eine Massenbewegung.
Wir sind eine sozialistische Zeitschrift. Deshalb interessiert es uns bei Protesten wie den belarussischen sehr, welches politische Ziel ihr verfolgt. Seid ihr hauptsächlich gegen Lukaschenko oder habt ihr weitere Visionen, die euch verbinden?
Das ist eine schwere Frage. Das Problem ist, dass die Belarussische Opposition schon immer unterdrückt war. Sie war niemals dazu in der Lage, präzise politische Pläne zu entwickeln, weil wir immer um das Recht gekämpft haben, unsere Meinungen überhaupt kund tun zu können. Aber ein paar der Werte, die uns definitiv vereinen, sind gewisse Grundrechte, wie Meinungs- und Presse- und Versammlungsfreiheit, die uns seit Jahren verwehrt bleiben. Bestimmt haben die Politiker:innen ihre Pläne, aber eine Diktatur lässt sich eben nicht über Nacht verändern.
Zusammengefasst sind wir vor allem eine pro-demokratische Bewegung. Verschiedenste Gesellschaftsgruppen sind Teil davon. Rentner:innen, Schüler:innen, Arbeiter:innen. Kurzum; alle Menschen, die man auch sonst auf den Straßen sieht. Es fühlte sich zeitweise an wie eine große Feier, weil vor allem zu Beginn tausende verschiedene Menschen gemeinsam auf die Straße gegangen sind. Ich kann nicht einschätzen, welche Altersgruppe am meisten vertreten war, aber ich würde schätzen am meisten waren da 20 bis 30 Jährige.
Die Telegram-Kanäle und Blogs werden von einem Großteil der Leute als die wichtigsten Informations- und Austauschquellen betrachtet. Sie haben einen hohen journalistischen Anspruch, objektiv über die Diktatur zu berichten. Hier wurden Daten, Uhrzeiten und Orte für Aktionen und Proteste veröffentlicht und versucht, die Opposition zu organisieren. Doch die oppositionellen Webseiten werden gesperrt und die meisten Redakteur:innen und Journalist:innen verhaftet.
Lass uns zu deiner persönlichen Beteiligung an der Bewegung kommen. Was hat dich dazu gebracht, gegen Lukaschenko vorzugehen?
Ich habe mich nie aktiv dazu entschieden, gegen Lukaschenko vorzugehen. Jedoch war ich schon immer gegen ihn; schon meine Eltern sagten mir, dass er ein Diktator ist und niemand ihn wirklich freiwillig wählt. Diese Einstellung hatten alle in meinem Umfeld, die irgendwie politisch waren. Natürlich gibt es gehirngewaschene Menschen hier, die das glauben, was die staatlichen Medien ihnen vorsetzen, aber ich kenne, obwohl nicht alle in meinem Umfeld besonders progressiv denken, tatsächlich nur eine Person, die Lukaschenko aus Überzeugung wählen würde. Alle anderen sind entweder offen gegen ihn, oder “neutral”, wobei neutral bedeutet, dass sie das Risiko gegen ihn zu sein, nicht eingehen wollen.
Wie genau warst du die in die Bewegung involviert?
Anfangs ging ich aus Neugierde zu den Protesten. Um ehrlich zu sein, wäre ich vor letztem Sommer nie auf die Idee gekommen, dass sich Menschen einfach so auf unseren Straßen versammeln könnten, geschweige denn, dass sie das Potential haben könnten, die Regierung zu stürzen. Ich hab das nicht kommen sehen.
Ich bin außerdem ein Amateurfotograf und es hat mich fasziniert, diese Proteste zu fotografieren. Doch dann hat sich die Bewegung weiterentwickelt und die Hoffnung auf Veränderung wurde immer größer und greifbarer. Ich fing an zu jeder Aktion zu gehen. Im Sommer besuchte ich ungefähr 15 Proteste.
Im September fing ich an, mich in einer Studierendengruppe an meiner Uni zu organisieren. Wir vernetzen die Studierenden miteinander um gemeinsam zu den Protesten zu gehen, sowie zu planen, was wir an den jeweiligen Aktionen machen. Ab September hatten wir unseren eigenen Bereich bei den Protesten und waren fast jeden Tag auf der Straße. Wir protestierten auf unterschiedliche Weise. Häufig versammelten wir uns vor der Universität und sangen zusammen Lieder.
Außerdem gründeten wir unserer eigenes unabhängiges Medium. Wir erstellten einen Telegram-Kanal, über den wir unsere Artikel, Videos und natürlich Nachrichten über die nächsten Aktionen an der Uni verbreiteten. Wir stellten auch kleinere Ermittlungen darüber an, was die Verwaltung unserer Universität Unrechtmäßiges tat, und veröffentlichten die Erkenntnisse. All dies führte letztendlich dazu, dass ich der Uni verwiesen wurde und das Land verlassen musste. Mein Freund Hleb Fitsner wird aufgrund unseres Aktivismus wahrscheinlich zu drei Jahren Haft verurteilt. Sein Prozess endet Mitte Juni. So wie ihm geht es zehn weiteren Studierenden, die Aktionen mitgeplant haben. Nichtsdestotrotz bin ich im Exil immer noch aktiv. Auch von hier kann ich Dinge tun… Ich versuche so viel beizutragen, wie ich kann. Momentan besteht das vor allem daraus, Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken und denen zu helfen, die unter dem Regime leiden. Ich verbreite auch Artikel und Videos für ähnlich denkende Studierende.
Welche anderen Formen von Repression hast du mitbekommen?
Ich habe natürlich eine Menge Polizeigewalt gesehen, weil ich an sehr vielen Protesten teilgenommen habe. Viele Menschen wurden festgenommen und mussten ins Gefängnis.
Man hört viel über die Situation in unseren Gefängnissen in den Nachrichten. Es wird von schrecklichen Dingen berichtet. Von Menschen, die geschlagen wurden, sehr krank wurden, auf dem Boden schlafen mussten. Die Gefängniswärter sollen die Fenster offen gelassen und die Gefangenen ohne Decken gelassen haben. Solche Geschichten hört man jeden Tag.
Außerdem habe ich mich vom 04. bis 09. August (Tage der Wahl) als unabhängiger Wahlbeobachter gemeldet. Ich habe eine Vielzahl von Vorfällen beobachtet, in denen klar Wahlbetrug begangen wurde. Beispielsweise zählten wir an der Tür, dass 70 Leute zur Wahl kamen, doch die Wahlhelfer:innen, welche alle Menschen aus der Regierung sind, gaben weiter, dass an diesem Tag 200 Menschen gewählt hatten. Das kann gar nicht sein; wir waren die ganze Zeit da und haben jeden Einzelnen gezählt. Sie haben immer gelogen und die Zahl der Wähler:innen mindestens verdoppelt oder verdreifacht.
Sie hätten uns die Ergebnisse auch mitteilen müssen, damit wir diese auf ihre Richtigkeit kontrollieren können. Doch das haben sie nie getan. Sie haben uns auch nicht in den Raum, in dem die Stimmen ausgezählt wurden, gelassen. Dort waren dann stattdessen vier “Freiwillige”, welche letztendlich Regierungsleute waren. Uns wurde gesagt, dass wir aufgrund von Coronamaßnahmen nicht mehr in den Raum dürften. So erging es fast allen unabhängigen Wahlbeobachter:innen.
Wann genau hast du beschlossen zu fliehen?
Das war an dem Tag, an dem ich aus der Uni geschmissen wurde. Das war direkt nach dem nationalen Streik, der am 26. November ausgerufen worden war. An dem Tag fand ein großer Protest in der Universität statt. Es wurde ziemlich ernst und uns allen war klar, dass es Konsequenzen geben würde. Am Ende der Woche bekam ich von einem Freund über Telegram eine Liste zugesendet, auf der die Namen der Studierenden standen, die aus der Universität geschmissen werden würden. Zu diesem Zeitpunkt war die Liste noch nicht öffentlich. Als ich die Liste sah wusste ich, dass ich gehen muss. Denn wenn die Regierung sicher wusste, dass ich aktiv in der Bewegung involviert bin, würden sie mich definitiv verhaften.
Ein weiterer Grund war der Wehrdienst. In Belarus muss jeder Mann, der nicht gesundheitlich verhindert ist, ein Jahr lang in die Armee. Ich wollte unter keinen Umständen Teil einer Armee sein, die von Lukaschenko geführt wird.
Abschließend möchte ich sagen, dass ich überrascht bin zu sehen, wie viel über Belarus berichtet wird. Die Nachrichten sind voll davon, aber es fehlt oft an Tiefe, um den Konflikt richtig verstehen zu können. Die Berichterstattung ist sehr oberflächlich und es ist sehr schwer zu verstehen, wie tief die Probleme mit der belarussischen Regierung tatsächlich gehen. Die Problematik wird in viele kleine Teile zerbrochen, sodass Menschen von außen nur schwer das große Ganze sehen können.
Am wichtigsten ist, dass wir darüber sprechen, was passiert. Sprecht mit Organisationen und Studierendenvereinigungen. Vielleicht könnt ihr eine Solidaritätsbekundung oder Kundgebungen in euren Ländern organisieren.
Hier könnt ihr die festgenommenen und zu Unrecht verurteilten Studierenden unterstützen (Englisch, Russisch, Belarussisch)
Hier könnt ihr euch über die neusten Ereignisse des “student case” informieren.