Interview: Repression gegen linkes Flugblatt an Bayerischer Schule

24.03.2022, Lesezeit 6 Min.
Gastbeitrag

Schüler:innen, so heißt es, litten zutiefst während der Pandemie. Was passiert jedoch, wenn sie dies kritisieren und in einen komplexen Zusammenhang bringen? Dieses Interview mit einem Schüler aus Bayern zeigt die Repression, der Schüler:innen ausgesetzt sind, wenn sie ihren Unmut ausdrücken.

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Foto: lonndubh

Hallo Guy Namenlos (Name geändert), du hast ein politisches Flugblatt an deiner Schule verbreitet und darfst deswegen gerade nicht am Unterricht teilnehmen. Was ist passiert?

Ein Freund und ich haben eine politische Flugschrift geschrieben und verteilt. Als Strafe hat mich die Schulleitung unter anderem für drei Tage suspendiert.

Diese Flugschrift stehe, so meinen die Lehrkräfte, „in drastischem Gegensatz zu den obersten Bildungszielen des Gymnasiums in Bayern“ und gefährde die „schulische Organisation“ und den „Schulfrieden“.

Die Flugschrift: „Über das Elend im Schülermilieu„:

 

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Was soll die Schule dagegen haben, dass Schüler:innen eine politische Position bestimmen und mit einem Flugblatt eine Diskussion öffnen möchten?

Ich denke, es liegt am Kernargument unseres Texts: Die Funktion der Schule wird dort auf die Reproduktion der Produktivverhältnisse bezogen. Wir argumentieren, dass die Schule für die Leistungsgesellschaft diszipliniert und argumentieren indirekt für die Überwindung des Kapitalismus.

Die Schulleitung nutzte den politischen Aspekt aus. Denn so können sie mit Art. 84, Abs. 2 des BayEUG, der politische Werbung auf dem Schulgelände verbietet, unsere Aktion angreifen. Dass es sich bei unserem Flugblatt nicht um politische Werbung (im Sinne von Parteiwerbung handelt), war ihnen egal.

Über die „Weihnachtspost“ wollten wir je ein Exemplar der Flugschrift an Mittelstufenklassen und die Kurse der Oberstufe schicken lassen. Bevor es dazu kommen konnte, wurden die Flugblätter jedoch von der SMV (Schüler mit Verantwortung) aussortiert und an die Schulleitung weitergegeben. Anfangs wollten die anscheinend tatsächlich die Cops rufen, haben sich aber später für eine Vorladung, einem sogenannten Disziplinarausschuss entschieden.

Dass die Flugschrift von einem Freund und von mir stammt, war anfangs aufgrund der anonymen Veröffentlichung nicht klar. Hinweise dürften der Schreibstil und die Gesellschaftskritik sein. Um gegen mich auszusagen, wurde auch eine Mitschülerin von mir stark unter Druck gesetzt. Am Schluss haben wir zugegeben, für die Flugschrift verantwortlich zu sein.

Die Schulleitung will dich einerseits wegen der Verbreitung über die „Weihnachtspost“ bestraften, weil du sozusagen einen offiziellen Kanal der Schüler:innenvertretung benutzt hast. Aber andererseits auch für den Inhalt, da dein Flugblatt die Schule und aber auch die kapitalistische Gesellschaft insgesamt kritisierst. Wie siehst du diese beiden Vorwürfe?

Der erste Vorwurf ist nachzuvollziehen. Es wird zwar nirgends manifestiert, welche Inhalte über die Weihnachtspost kommuniziert werden dürfen, aber natürlich haben wir einen SMV-Kanal für unsere eigenen Zwecke genutzt. Jedoch liegt das auch daran, dass wir sonst kein anderes Medium gehabt hätten, um solche Inhalte zu publizieren. Niemand kann behaupten, die Schülerzeitung hätte so etwas veröffentlicht!

Der zweite Vorwurf ist absurd! Die Inhalte seien massiv gegen die Bildungsziele gerichtet, wird behauptet, und dass mit der „Veröffentlichung der komplexen Inhalte mit einer nihilistischen Grundtendenz“ in Kauf nehmen, labile Schüler:innen durch dieses Gedankengut in ihrer Persönlichkeitsentwicklung nachhaltig zu beeinträchtigen und ihr Verhältnis zur Schule empfindlich gestört werden könnte. Denn selbst wenn der Text eine „nihilistische Grundtendenz“ aufwiese (was er nicht tut), musste der Text dann nicht den Nagel auf den Kopf treffen: Müsste er nicht mit der Beschreibung der Situation in den Schulen eine Wahrheit so drastisch offenlegen, um solche Reaktionen hervorzurufen

Ganz unabhängig davon denke ich nicht, dass irgendein Text – unabhängig vom Inhalt – in der Schule zensiert werden sollte.

Der Brief des Disziplinarausschusses spricht von einer Anhörung vom 09.03.2022. Wie ist die verlaufen und hattest du dabei eine Form der Unterstützung?

Die Anhörung fand in der Cafeteria unserer Schule statt. Dort saß ich circa 10 Lehrkräften, die über die ganze Cafeteria verteilt waren, gegenüber und bekam die Vorwürfe, die gegen mich erhoben wurden, vorgetragen; anschließend durfte ich darauf eingehen. Ich versuchte diese Anhörung, die circa 40 Minuten lang ging, als eine Art Forum zu nutzen, auf dem ich meine eigenen Anliegen (z. B. dem Umgang der Schule mit psychisch Kranken oder auch das repressive Verhalten) möglichst akkurat formulieren wollte. Ich denke, das ist mir recht gut gelungen, obwohl ich keine Unterstützung hatte. Ich hätte die Möglichkeit gehabt, bspw. eine erziehungsberechtige Person als Unterstützung dabei zu haben. Ich wollte das aber nicht, um damit auch noch mal die Machtasymmetrie, die zwischen mir und dem Disziplinarausschuss herrscht, drastischer offenzulegen.

Neben der Suspendierung sollst du dich öffentlich entschuldigen und eine Art Wiedergutmachungsarbeit leisten. Wie bewertest Du die Bestrafung? Und wie sehen deine Mitschüler:innen die Sache?

Ich bin ziemlich glimpflich davongekommen. Ich hätte ehrlich gesagt nichts dagegen gehabt, noch länger suspendiert zu werden. Bei den Mitschüler:innen haben der Disziplinarausschuss und die Suspension natürlich eine gewisse Aufmerksamkeit erregt und das Interesse an der Flugschrift ist dadurch deutlich gestiegen.

Sprechen wir noch einmal über den Inhalt des Flugblatts, das jetzt auch auf KlasseGegenKlasse gelesen werden kann. Du sprichst in Anlehnung an einen Text der Straßburger Situationist:innen von 1966 vom „Elend im Schüler[:innen]milieu“. Der Text „De la misère en milieu étudiant“ war damals während meines Studiums in Frankreich übrigens einer der Texte, der mich radikalisiert hat. Was bedeutet der Text für dich?

Die Broschüre der Situationisten stellt in erster Linie eine thematische Orientierung dar. Die Kritik an den Verhältnissen, in denen Student:innen leben/lebten und der Haltung, die sie dazu einnehmen, haben wir auf die Schüler:innen übertragen. Jedoch sind es sonst eher andere Theorieansätze, an denen wir uns orientierten: Man findet einige Bezüge auf Foucault, Deleuze, Marx und Adorno. Dennoch hatten die Situationisten einen großen Einfluss auf mich: einerseits durch ihre Verbindung von (Aktions-)Kunst und politischem Aktivismus und durch ihre Verbindung von Theorie und Ästhetik, andererseits weil sie durch ihren sehr künstlerisch geprägten, libertären Marxismus neue Perspektiven eröffneten.

Am Ende deines Flugblatts unterschreibst du mit „2. Situationistische Internationale“. Wie möchtest du an der Schule oder gegen die Schule weiter vorgehen? Wie können sich vielleicht auch andere linke Schüler:innen mit dir vernetzen?

Aus taktischen Gründen (ich muss noch anderthalb Jahre die Schule besuchen) setze ich eher auf Deeskalation und plane vorerst keine Aktionen an der Schule, jedoch versuche ich in meiner Stadt eine Veranstaltung zum Thema Schulkritik zu organisieren.

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