Interview: Proteste gegen Menschenhandel in Argentinien
Ein Gericht in Argentinien hat 13 Angeklagte freigesprochen, die ein Mädchen zur Prostitution gezwungen haben sollen. Gespräch mit María Chaves, Dozentin für Soziologie an der Universität von Buenos Aires und führendes Mitglied der sozialistischen Frauengruppierung „Pan y Rosas“ (Brot und Rosen) und der trotzkistischen Organisation „Partido de los Trabajadores Socialistas“ (PTS, Partei Sozialistischer ArbeiterInnnen).
Vor gut einer Woche hat ein argentinisches Gericht 13 Angeklagte freigesprochen, die ein Mädchen zur Prostitution gezwungen haben sollen. Ein Fall von Menschenhandel? Und wie reagiert die Öffentlichkeit darauf?
Der Prozess dauerte zehn Monate, das Urteil wurde am 11. Dezember gesprochen. Es ging um die Entführung von Marita Verón aus der Provinz Tucumán im Norden des Landes. Seit ihrem Verschwinden am 3. April 2002 hatte ihre Mutter, Susana Trimarco, zusammen mit Dutzenden Organisationen das Thema der Menschenhandelsringe thematisiert und dieses millionenschwere Geschäft angeprangert.
Obwohl die Familie Maritas und Staatsanwaltschaft Haftstrafen von bis zu 25 Jahren gefordert hatten, konnten die Angeklagten den Gerichtssaal als freie Menschen verlassen. Die Empörung über dieses Skandalurteil war landesweit – Tausende Frauen und auch Männer haben am nächsten Tag auf den Straßen dagegen protestiert.
Wie funktionieren diese Menschenhandelsringe in Argentinien?
Dieses illegale Geschäft läuft natürlich nur mit Hilfe von KomplizInnen – und die finden die Menschenhändler in der Justiz, in der Politik und bei der Polizei. Weltweit setzen diese Ringe schätzungsweise 32 Milliarden Dollar pro Jahr um – sie machen Geld mit den Leben von vier Millionen Frauen und zwei Millionen Kinder.
In der Regel läuft das bei uns im Lande so ab: Die jungen Frauen werden entführt und sofort weggebracht, in eine andere Provinz oder gar ins Ausland – problemlos, die Zuhälter bekommen nämlich Hilfe von der Gendarmerie (Grenzschutz). Vielfach werden junge Frauen auch mit dem Versprechen auf einen Arbeitsplatz hereingelegt, das gilt vor allem für Immigrantinnen.
Die Bordelle, in denen diese Frauen dann sexuell ausgebeutet werden, werden mit Hilfe von Richtern und staatlichen Beamten genehmigt. Türsteher sind in der Regel Polizisten, die für „private Sicherheitsdienste“ arbeiten. Die Opfer werden mit Hilfe von Rauschgift oder durch Vergewaltigungen gefügig gemacht, sie werden buchstäblich gefangen gehalten.
Wie kann es angehen, dass ein solcher Ring von Menschenhändlern straflos davonkommt?
Bei uns herrscht eine Art Mafia-Regime, das die Justiz, die Polizei, etliche GouverneurInnen und viele UnternehmerInnen einschließt. Es ist eine organisierte Struktur von KomplizInnenschaften, die dieses hochprofitable Geschäft am Laufen hält. Die Straflosigkeit ist ein Produkt dieser Kette von KomplizInnenschaften, die zum kapitalistischen System gehören. Kaum etwas bringt mehr Geld als der Handel mit Menschen und Rauschgift oder der Schmuggel von Waffen.
Die Regierung von Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner hat Susana Trimarco bei diesem Prozess unterstützt – in welcher Form?
In der Tat, noch am Tag vor dem Urteilsspruch hatte sie Susana Trimarco demonstrativ einen Preis verliehen, am Montag darauf traf sie sich gar mit ihr. Auch José Jorge Alperovich, Gouverneur der Provinz Tucumán und Parteifreund Kirchners, hatte eine Auszeichnung verliehen.
Doch für uns von der Gruppierung „Pan y Rosas“ sehen solche Gesten zwar nett aus, dienen aber letztlich nur dazu, die Fäulnis eines politischen Regimes zu verbergen, das mit den Ringen der MenschenhändlerInnen verquickt ist.
Susana Trimarco hatte es vor Gericht so formuliert: „Hier mischt die Mafia der Ale-Familie mit, die von der Regierung geschützt wird. Beide sind für die Entführung Maritas verantwortlich.“ Der Gouverneur wolle nur davon ablenken, sagte sie, daß er sich in seinen Amtsräumen mit Rubén „La Chancha“ Ale, einem der Hauptangeklagten, offiziell getroffen hat.
Der Handel mit Frauen ist in Argentinien in den vergangenen zehn Jahren rasant gewachsen. Unter den Kirchner-Regierungen sind mehr als 600 Frauen und Mädchen verschwunden – in den meisten Fällen von MenschenhändlerInnen entführt.
Was kommt jetzt?
Wegen der enormen Wut der Massen, die zum Rücktritt des Sicherheitsministers von Tucumán führte, sah sich die Regierung gezwungen, Sondersitzungen des Kongresses einzuberufen, um ein neues Gesetz gegen Menschenhandel zu diskutieren. Die aktuelle Gesetzgebung setzt den Zuhälter mit einem Unternehmer gleich, und verlangt von den Opfern, dass sie selbst beweisen, dass sie entführt wurden. Eine Schande!
Um mit den Menschenhandelsringen aufzuräumen, brauchen wir mehr als schöne Reden und Auszeichungen – wir brauchen Hunderttausende organisierte Frauen in den Arbeitsplätzen und an den Unis und Schulen, die sich auf der Straße mobilisieren. Bei den Protesten am gestrigen 19. Dezember haben viele ArbeiterInnen ihre Forderungen vorgetragen – wir arbeitende Frauen haben die Forderung nach Gerechtigkeit für Marita Verón eingebracht.
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