Interview mit der deutschen Delegation des Farkha Festivals: Teil 2
Im August 2022 reisten mehrere Aktivist:innen verschiedener Gruppen aus Deutschland zum Farkha Festival in Palästina. In dieser Interviewreihe berichten Aktivist:innen von Migrantifa Berlin, Kreuzberg United, Jüdische Stimme und Palästina Antikolonial über ihre Eindrücke und Erlebnisse.
Wir erleben aktuell einen erstarkten Rechtsruck im israelischen Staat und eine erneute Eskalation der kolonialen Gewalt in Palästina. Israelische Truppen haben mehrere Ortschaften der besetzten Westbank von der Außenwelt abgeschnitten, Widerstandskämpfer:innen und Zivilist:innen werden ermordet. In der vergangenen Woche zeigten die israelischen Wahlen zudem ein trübes Bild: der rechte Oppositionsführer Netanjahu und seine Verbündeten errangen die absolute Mehrheit im Knesset, gestützt durch die ultrarechte kahanistische Partei von Itama Ben-Gvir.
Der Rechtsruck innerhalb der israelischen Politik und die zunehmende Gewalt gegen Palästinenser:innen gehen Hand in Hand. Linke und Internationalist:innen müssen sich gerade jetzt solidarisch zeigen mit den Kämpfen gegen die israelische Besatzung. In diesem Sinne veröffentlichen wir den zweiten Teil des Interviews mit der deutschen Delegation des Farkha Festivals, die im August in die besetzte Westbank reisten. Wir sprachen mit ihnen über die Zustände vor Ort und Möglichkeiten der Solidarisierung.
Klasse gegen Klasse:
Ihr seid Teil von Gruppen, wart aber, wie ihr es bereits zu Anfang erwähnt habt, auch als Einzelpersonen vor Ort. Was ist euch persönlich am meisten im Gedächtnis geblieben? Was habt ihr beispielsweise in euren Gruppen im Nachhinein thematisiert, sowohl positiv als auch negativ?
Migrantifa Berlin:
Ich habe das Positive ja schon angeschnitten, gerade was die Erfahrung einer anderen Arbeitsweise miteinander angeht. Was in unserer Nachbesprechung heißer diskutiert wurde, ist zum einen im Positiven, wie das Festival selbst versucht, Unterdrückungsweisen, wie Sexismus, entgegenzuwirken. Zum Beispiel, indem Frauen und Männer zusammen arbeiten.
Das ist vor Ort wirklich eine krasse Sache und vielen Anwohner:innen ist das auch nach wie vor ein Dorn im Auge. Aber es ermöglicht den Geschlechtern, noch mal anders in Kontakt zu kommen. Es ermöglicht eine andere Wertschätzung füreinander zu erfahren und auch eine Genoss:innenschaft aufzubauen.
Ganz zu Anfang gab es auch eine Rede, in der es um dieses Thema ging. Wenn eine Frau verletzt wird, würde die Bewegung als solche verletzt. Zugleich wurden Frauen beispielsweise ermutigt, aufzustehen, wenn sie etwas sagen oder lauter zu sprechen. Das war auch total spannend für uns, wie dieses Problem in der Runde adressiert wurde. Gleichzeitig ist es aber auch so, dass man an der eigenen politischen Realität vor Ort ansetzen muss und die Leute da abholen muss. Das heißt, dennoch mussten beispielsweise die Frauen um zwölf vom Gelände gehen. Wir haben intern viele Diskussionen geführt, was eine gute strategische Politik sein kann, wie man Menschen dort abholt, wo sie stehen und dennoch inhaltlich klar bei der eigenen Linie und Position bleibt. Es ist schwieriger für sich selbst auszudifferenzieren, als man glaubt.
Dieser Sexismus zeigt sich inhaltlich, aber auch in anderen Bereichen, insofern, als dass die Partei sich in den Neunzigern mit dem Zusammenfall der Sowjetunion auch umbenannt hat, von Kommunistischer Partei zur “Palestinian People’s Party”. Aus dem Gedanken heraus, mehr Menschen abzuholen, wo sie gerade stehen und mehr den Volksgedanken zu festigen, was wiederum neue Widersprüche mit sich bringt.
Wir haben ebenfalls Diskussionen darüber geführt, was wir für strategisch richtig halten, wo wir aber inzwischen vielleicht Verweichlichungen oder ein Aufgehen der Partei sehen, weil inhaltliche Linien unklarer werden.
Jüdische Stimme:
Ich würde auch diese kleinen alltäglichen Interaktionen betonen. Die Leute, die selber palästinensisch waren, kamen aus verschiedenen Gegenden: aus Jerusalem oder Safed oder Nablus oder anderen Orten. Sie hatten dementsprechend auch verschiedene Geschichten zu erzählen. Ich denke, alle von uns haben auch ein gewisses Gefühl der Kameraderie mit unseren Mitarbeitenden gehabt.
Ich war mit ziemlich dreckiger und harter Arbeit beschäftigt . Wenn man dann gerade jemandem einen Steinbrocken reicht oder einen Eimer Zement zum Beispiel, kommt man meistens ins Gespräch. Einer erzählt vielleicht sowas wie: “Meine Eltern wurden während der Nakba vertrieben, und meine Familie musste nach Jordanien und von da aus bin ich dann illegal in die Westbank rein und habe dann zehn Jahre ohne Papiere gelebt. Irgendwann habe ich dann einen Ausweis bekommen, sodass ich das Land verlassen konnte.” Also einfach diese individuellen Schicksale, von denen es ja auch tausende Variationen gibt. Alle möglichen Situationen, die uns völlig fremd sind, andere Verhältnisse als in Europa, Erlebnisse der Gefangenschaft und Einschränkung. Vor allem aber wie sie mit all dem irgendwie zurechtkommen müssen. Oft war da auch ein sehr dunkler Humor dabei, denn manchmal müssen wir einfach drüber lachen, um da durchzukommen. Das ist ja eine ganz normale menschliche Reaktion oder Strategie.
Insofern hat alles, was wir da gemacht haben oder woran wir teilgenommen haben, uns solche Möglichkeiten geboten. Ob eine Unterhaltung nach einem Vortrag oder vielleicht Verständnisfragen, die man gestellt hat, weil etwas nur auf Arabisch gesagt wurde und es keine Übersetzung gab. Gerade bei diesen Begegnungen auf der Baustelle, wo dann alle mit unterschiedlichem Englisch Niveau irgendwie kommuniziert haben und man dann ein bisschen diese Einzelschicksale kennenlernen konnte.
Migrantifa Berlin:
Vielleicht auch nochmal als Ergänzung: Wir waren zu Anfang bei der Kommunistischen Partei Israel, der Maki, haben ihr Jugendbüro besucht und danach auch bei Parteigenoss:innen geschlafen. Da gab es natürlich auch viele Möglichkeiten für politischen Austausch, aber auch, sich deren Wohnen konkret anzuschauen.
Was für uns da auf jeden Fall auch nochmal in Erinnerung blieb, ist, dass Leute auch teilweise wirklich ihre Schlüssel aus den Häusern, aus denen sie vertrieben wurden, immer noch haben. Sie haben uns diese gezeigt und man hat dadurch noch mal gemerkt, wie nahe das dran ist. Man sagt immer 1948, aber ich habe noch mal gemerkt, wie wenig ich realisiere, wie nahe das an der jetzigen Zeit ist und dass einfach eine ganz große alte Generation auch immer noch im Palästina vor der Nakba aufgewachsen ist, weil’s eben gerade mal 70 Jahre her ist.
Wie präsent aber dadurch auch noch die Hoffnung ist, weil es so vieles gibt, was älter ist als das und was die Menschen einem mit der Hand zeigen können. Das war auch noch mal eine Erfahrung der Nähe des Kampfes, die uns gerade zu Anfang noch einen anderen Einstieg ermöglicht hat.
Palästina Antikolonial:
Jede jugendliche Person, mit der man sich unterhielt, hatte eine Geschichte zu erzählen. Sie alle wurden bereits von der IDF schikaniert (Israelische Armee, Anm. d. Red.) und sind auch dadurch allesamt politisiert. Wenn man dort als junger Mensch aufwächst, kommt man da gar nicht drum rum.
Sie leben einfach unter der Besatzung und bekommen das zu spüren. Dementsprechend bekamen wir von außen häufig das Gefühl, für viele Teilnehmende ist das Farkha Festival wie ein Feriencamp – und trotzdem haben alle politische Positionen.
Kreuzberg United:
Für uns war der Kern des Festivals die persönlichen Begegnungen und auch die Vernetzung als kämpfende Jugendliche. Denn die lokale Jugend gibt sich mit der korrupten Autonomie sowie auch den reaktionären reformistischen Positionen der populären Parteien nicht zufrieden. Hier zeigt sich ganz klar, inwiefern die Jugend eine besonders revolutionäre Kraft darstellt, da sie nicht im gleichen Maße ins System integriert ist und auch die bürgerliche Ideologie sich noch nicht so festsetzen konnte.
Den Drang nach Freiheit und solidarischem, selbstbestimmtem Leben sahen wir ganz klar in großem Ausmaß. Ebenso den Willen, diesen Kampf siegreich zu führen. Das war für uns das Zentrale.
Migrantifa Berlin:
In der Zeit, in der wir da waren, gab es zum Beispiel in Ramallah von Jugendorganisationen auch große Proteste und Demonstrationen gegen die Palästinensische Autonomiebehörde. Und zugleich ist es aber auch die Jugend, die sich ebenfalls gegen so eine bürokratische Führung innerhalb der eigenen Partei stellt. Der Kampf findet also auf verschiedenen Ebenen statt.
Klasse gegen Klasse:
Danke für eure Einblicke. Es ist sehr bewegend, euch zuzuhören. Wir haben euch natürlich auch auf Social Media verfolgt, während ihr dort wart und haben bei manchen Leuten gesehen, dass sie auch an einer Demonstration teilgenommen haben. Das waren ziemlich krasse Bilder, die wir hier aus Deutschland von euch sehen konnten. Wollt ihr nochmal darüber berichten, wie das auf der Demo war und worum es ging?
Palästina Antikolonial:
Ich würde erstmal rahmen, worum es ging. Es geht um Beit Dajan, das ist ein Dorf zwischen Nablus und Ramallah und war lange Zeit ein Durchfahrtsort. Dadurch, dass jetzt vier illegale israelische Siedlungen um das Dorf herum gebaut wurden, ist die Zufahrt nicht mehr so einfach möglich. Das Stadtzentrum ist auch jetzt wie ausgestorben und es soll noch eine weitere Siedlung entstehen, wo bereits ein Siedler lebt.
Gegen die Entstehung der neuen Siedlung geht das ganze Dorf einmal wöchentlich demonstrieren. Das Dorf fordert die Einhaltung des internationalen Rechts und es geht natürlich auch ums Überleben. Denn wenn das Dorf noch weiter abgeschnitten wird, dann wird das für die Bewohner:innen immer schwerer.
Migrantifa Berlin:
Beit Dajan selbst war sehr interessant, weil es ein Dorf ist, in dem der Bürgermeister von der PPP gestellt wird, wo die Partei also regiert. Sie haben zum Beispiel auch ein Frauenzentrum da aufgebaut, wie eine Art Community Space, wohin wir eingeladen wurden. Es war spannend zu sehen, was an Infrastruktur gestellt wird, um eben auch dieser Architektur der Besatzung in Teilen entgegenzuwirken.
Die Demo selbst haben wir ganz unterschiedlich diskutiert und wahrgenommen. Als wir gesehen haben, dass tatsächlich Kinder demonstrieren gegen ein voll bewaffnetes Militär, kam bei uns die Frage auf, inwiefern diese Demonstration tatsächlich eine Transformation der Gegebenheiten vor Ort bringen kann. Trotzdem hat es Hoffnung gegeben, diesen Zusammenhalt zu spüren und zu sehen, dass man selbst und das politische Projekt einfach größer ist – und dass man zusammen dafür einsteht.
Jüdische Stimme:
Man muss im Kopf behalten, im Grunde geht die Aktivität, gegen die aktuell protestiert wird, auf den Wunsch eines einzigen Siedlers zurück, und zwar, das besiedelte Territorium zu erweitern. Ich glaube, die meisten Menschen in Deutschland können sich gar nicht vorstellen, was für eine Macht die Siedler:innen haben, auch über das Militär. Sie werden für nichts bestraft. Sie können sogar Soldat:innen mit Steinen bewerfen, wenn sie ihnen nicht militant genug sind. Ihnen passiert nichts, israelische Soldat:innen haben auch schon ausführlich berichtet, dass die oberste Anweisung von ihren Befehlshaber:innen der Schutz der Siedler:innen ist. Egal was sie machen, sie sind gegen jede mögliche Bedrohung geschützt.
Das heißt, es muss nur ein:e ranghöherer:e Siedler:in zur Armee sagen: “Ich fordere jetzt euren Schutz für die Erweiterung dieser Siedlung und ihr werdet mir dabei helfen, das durchzusetzen.“ Das reicht schon, damit eine Gruppe Soldat:innen den Bewohner:innen dieses Dorfes sagt: “Hier ist Schluss, ihr dürft nicht protestieren.”
Und natürlich dürften sie protestieren, aber ihnen wurde gesagt, es wäre verboten. Es ist im Grunde so ein Ritual, erst wird für eine Weile skandiert, dann schauen sich beide Seiten ein bisschen an. Dann kommen vielleicht erst Steine, vielleicht auch später, dann kommt das Tränengas und dann die Geschosse. Man spricht dabei von Gummigeschossen, aber diese sind nicht aus Gummi. Das sind Kugeln aus Metall, die mit einer Plastikschicht überzogen sind. Sie sind in der Regel nicht tödlich, aber können schon ordentlich verletzen.
Migrantifa Berlin:
Es gibt den englischen Begriff von rubber-coated Bullets, vielleicht ist das zugänglicher als von Gummigeschossen zu sprechen.
Jüdische Stimme:
Sie hatten auch noch etwas “harmloseres” dabei, sogenannte Schwammgeschosse. Diese haben die Form von Bullets und durch diese wurden auch einige Leute getroffen. Das hat sich dann angefühlt wie ein kleiner Stich und diese wurden für die Internationalen Gäste der Demo “aufgehoben”.
Uns wollen sie nicht mit den Gummigeschossen anschießen. Wenn jemand von uns schwer verletzt worden wäre, hätte das internationale Aufmerksamkeit geben können.
Tränengas haben alle abbekommen. Hinterher haben uns Leute von dort gesagt, dass es an dem Tag verhältnismäßig soft zuging. Sie waren überzeugt, dass das mit unserer Anwesenheit zu tun hatte. Ich glaube, es wurden zwei Personen von Gummigeschossen getroffen, normalerweise sind es zwischen 15 und 20 – und da gibt es meistens richtige Verletzungen. Ich denke für manche von uns, je nach Demoerfahrung, waren selbst die “soften” Geschosse schon nicht ohne. Es muss einem einfach klar sein, dass diese Leute jede Woche dahin gehen und all das in Kauf nehmen. Eben auch, dass sie schwer verletzt werden.
Während wir diese Erlebnisse machten, wurde in Deutschland diskutiert: “Sind es nicht Jugendliche, die dort Steine werfen?” “Extreme Steinwerfer” war der Ausdruck, den die BILD Zeitung verwendet hat, glaube ich. Für mich war sehr klar, wenn ich dort Teenager wäre, dass ich dort hingehen würde. Die Armee hat es durchaus verdient, mit Steinen beschmissen zu werden, von denen viele sowieso nicht ankommen.
Es ist einfach eine bewaffnete Armee. Die Deutschen können sich das überhaupt nicht vorstellen. Dort steht ein 12-jähriger Junge mit einer Steinschleuder auf der einen Seite und ein Haufen Soldaten mit Helmen und Tränengas und Gewehren auf der anderen. In so einer Situation noch davon zu sprechen, dass man dem jüdischen Staat die Legitimität abspricht, ist ein schlechter Witz.
Migrantifa Berlin:
Vor allem, weil man sowieso nicht nah an die Soldat:innen rankommt. Das soll kein Argument für oder gegen die Legitimität sein, aber es ist wichtig, um die Szene bildlich vor Augen zu haben: Dort sind zehn 12-jährige in weiter Entfernung, das ist ein symbolischer Akt an der Stelle.
Eben wurde auch schon angesprochen, wie das Militär die Siedler:innen schützt. Das ist auch etwas, was sich während der Reise durchgezogen hat. Wir wurden in Khalil, bzw. Hebron, auch extra darauf angesprochen, dass dort auch besonders aggressive Siedler:innen leben und wir aufpassen müssten, wenn wir auf der Straße stehen als große Gruppe. Wir sollten zusammen bleiben, weil es passieren könnte, dass wir angefahren werden. Einfach, weil die Siedler:innen es können. Das sind solche vermeintlichen Kleinigkeiten, die das eigene Verhalten, das Leben unter der Besatzung in Permanenz prägen.
Klasse gegen Klasse:
Vor Ort gab es ja auch eine krasse Verschärfung des militärischen Angriffs auf Gaza, wie war das für euch?
Palästina Antikolonial:
Mein Eindruck war, als wir dort waren, dass ich es trotzdem aus den Nachrichten erfahren habe, es war also für mich persönlich sehr ähnlich, wie wenn ich in Deutschland wäre und das aus den Nachrichten erfahre. Trotzdem war zu sehen, dadurch, dass wir gerade auf diesem Festival waren, auch wenn es 100 Kilometer weit weg lag, wie sich die Palästinenser:innen dort sich als Volk sehen und dabei auch die Menschen in Gaza auch mit einschließen. Währenddessen war auch die Abschlussfeier des Festivals und es wurde auch extra so eine Leuchtschrift für Gaza aufgehangen über der Bühne, um den Zusammenhalt zu zeigen.
Kreuzberg United:
Für uns war eine der ersten und eindrücklichsten Realisierungen, wie nah eigentlich alles beieinander ist. Theoretisch wäre man in einer bis anderthalb Stunden fast überall, wenn das ganze Land nicht voll unzähliger Checkpoints wäre. Doch die Realitäten in den verschiedenen Gebieten unterscheiden sich fundamental, auch wenn sie nur wenige Kilometer voneinander entfernt sind. Während der ersten Tage der Angriffe stand ein großer Teil der Bevölkerung Gazas in den Trümmern ihrer Wohnhäuser, in Tel Aviv begaben sich Menschen teilweise in Schutzbunker, doch davon war davon bei uns im Westjordanland noch überraschend wenig zu spüren. Wenige Tage später war in Tel Aviv wieder die Normalität eingekehrt und die Strände waren voll. Zeitgleich begannen Proteste und Streiks in Städten wie Nablus und Hebron. Wenn wir also von Spaltung sprechen, dann ist das einerseits eine Kritik an der Befreiungsbewegung und dem Kompromiss der Scheinautonomie. Aber es gibt auch eine reale örtliche Spaltung.
Migrantifa Berlin:
Diesen Punkt, den die:der Genoss:in gerade aufmacht, finde ich mega wichtig. Man propagiert zum einen natürlich eine Einheit des palästinensischen Volkes und möchte deswegen auch innerhalb der politischen Arbeit die Spaltung überwinden, die durch die Besatzungspolitik entsteht. Architektonisch sieht man das darin, dass es alleine in der Westbank 600 israelische Checkpoints gibt. Die Westbank ist total zersiedelt.
Deswegen ist es fern jeder Realität, sie überhaupt als autonomes palästinensisches Gebiet zu verstehen. Für einen Weg von 20 Minuten brauchst du teilweise dreieinhalb Stunden, deine Bewegungsfreiheit ist so eingeschränkt. Zudem hat diese Spaltung natürlich auch eine Auswirkung auf die politische Realität vor Ort. Wenn ich als Palästinenser:in, die:der woanders angesiedelt ist, nach Gaza gar nicht rein komme und erst über die umliegenden Länder rein müsste, dann ist es natürlich schwierig, gemeinsam in einen politischen Kampf zu treten.
Die Spaltung verändert auch die Realität vor Ort. Es macht natürlich einen Unterschied, ob ich gerade gebombt werde oder durch den Checkpoint laufe – und trotzdem geht die Gewalt von der gleichen Besatzungsmacht aus. Es ist eine Gratwanderung, sowohl die Einheit zu propagieren und dennoch auch diese Spaltungen zu sehen. Diese haben Auswirkungen und müssen deswegen auch durch das eigene politische Programm aufgegriffen werden. Trotzdem haben wir die Stimmung als super solidarisch wahrgenommen. Es wurde gerade zum Beispiel die Leuchtschrift genannt, die auf der Abschlussfeier aufgehangen wurde. Es war sehr bewegend, zu sehen, wie dies auch in Permanenz in die eigene politische Arbeit integriert wird.
Unser politisches Programm wurde immer wieder für Schweigeminuten unterbrochen, das haben wir so vorher natürlich auch noch nicht erlebt. Auch wie unterschiedlich der Umgang damit ist, es wurde danach zum Beispiel zusammen getanzt und gegessen. Wenn man das hier hört erscheint es irgendwie absurd, und dennoch ist das ein ganz natürlicher Umgang der Menschen vor Ort, um irgendwie zusammen weiterzumachen, um aus dieser Situation, in der die Menschen die ganze Zeit leben, Kraft zu schöpfen, um zu sagen, wir tanzen jetzt, um weiter zusammen kämpfen zu können.
Das wurde aber auch unter den palästinensischen Genoss:innen ganz unterschiedlich reflektiert. Manche haben gesagt, sie müssen sich jetzt erst mal rausziehen, sie empfinden Tanzen als unangebracht. Andere haben gesagt, sie brauchen es gerade jetzt, zu tanzen. Diese Aushandlung mit der Situation, die bestand nicht nur auf internationalistischer Seite, sondern sie besteht dort genau so.
Jüdische Stimme:
Was man sich dann auch immer fragt, ist, wie viel es bringt, den Widerstand auf diese Art zu zeigen. Beim Vortrag nach der zuvor genannten Demonstration hat der Redner gesagt: “Palästina wurde heute nicht befreit, aber wir waren nicht alleine, ihr wart dabei, ihr habt zusammen mit uns dagestanden und ihr habt uns Kraft gegeben.”
Ich denke, manche von uns hatten innerlich zumindest ethische Bedenken, dass wir jetzt quasi touristisch an der Demo teilnehmen als Teil unserer Reise, aber verglichen mit den palästinensischen Demonstrant:innen relativ sicher sind.
Dann noch einmal bestätigt zu bekommen, dass ihnen das wirklich was bedeutet, dass ihnen so etwas Kraft gibt, dass die internationale Solidarität aus der Ferne ihnen weiterhilft, ihren eigenen Kampf zu führen, das war für mich eine wichtige Aussage. Zu hören, dass wir ihnen Kraft geben, gibt uns wiederum Kraft, den Kampf aus der Ferne zu führen.
Was uns auch sehr im Gedächtnis geblieben ist, ist, als am Abend des letzten Tages ein paar von uns, die noch nicht abgereist waren, mit einem Sohn eines Genossen der PPP nach Nablus gefahren sind. Er hat erzählt, wie sein Vater, als er Student war, eine Zeit lang in Nablus gearbeitet hat. Normalerweise dauert die Fahrt zwischen Farkha und Nablus eine Dreiviertelstunde, aber sein Vater musste jeden Morgen um drei aufstehen, weil er sehr oft wegen eines besonders blockierten Checkpoints sieben Stunden für diese Fahrt gebraucht hat. Das heißt, damit er um zehn auf Arbeit sein konnte, musste er um drei Uhr morgens los.
In Nablus hat sich dann eine spontane Führung ergeben. Der Genosse hat ein paar Leute angerufen und gefragt, ob sie uns vielleicht dort herumführen könnten. Wir wurden dann in das Haus einer Familie geführt, in dem zwei Wochen vorher zwei Widerstandskämpfer von der Armee erschossen wurden. Ihre Bilder waren in der ganzen Altstadt aufgehängt.
Die Armee hatte das ganze Haus umzingelt und komplett beschossen. Da war eine große Familie drinnen. Sie haben in Kauf genommen, dass sie alle sterben. Zum Glück konnte die Familie sich retten, indem sie das Haus hinten verließen und über die Dächer der Altstadt entkamen. Uns hat ein Familienmitglied durchs Haus geführt und uns die ganzen Einschusslöcher der Kugeln sowie das zerstörte Wohnzimmer gezeigt, in das eine Rakete geschossen wurde. Zwei Tage später, als wir wieder in Deutschland waren, haben wir gehört, dass es erneut einen Massenangriff der Armee gegeben hat. Dabei wurde ein junger, ziemlich bekannter Widerstandskämpfer, der Löwe von Nablus, getötet
Palästina Antikolonial:
Um dem noch etwas hinzuzufügen, währenddessen waren in Tel Aviv die Strände wieder voll und es war irgendwie wieder Normalität eingekehrt. Ich bin mit einigen Genoss:innen abends am letzten Tag nach Tel Aviv um am nächsten Tag den Flieger zu nehmen. Wir waren dann in einem Hostel untergebracht und das war das absolute Kontrastprogramm. Wir haben es erlebt wie in einer europäischen Stadt. Abends beim Abendessen war dann auf einmal ein Raketenalarm und alle sind ins Treppenhaus gegangen, weil da der sicherste Ort ist. Man hat so ein bisschen die Feuerwehr gehört und danach, es waren vielleicht zwei Minuten, war wieder Normalität und es hat niemanden gejuckt. Man hat einfach gemerkt, die Menschen dort sind einfach total uninformiert, was in Gaza eigentlich abgeht. Die sehen nur die Bedrohung, die eigentlich auch keine ist, durch den Iron Dome wird alles abgefangen. Die Lebensqualität der Menschen in Gaza wird nicht beachtet.
Migrantifa Berlin:
Noch einmal als Ergänzung zu diesem Vorwurf des Elendstourismus, der auch online in Teilen an uns gerichtet wurde. Das war eine Kritik, die auch vor allem stärker aus postmodernen Kreisen kommt, also aus Privilegiendiskursen im Sinne von “Wie kann man da hingehen und sich dann das Elend anschauen?” Es gab aber auch tatsächlich Vorwürfe aus der palästinensischen Community selbst. Bei denen ging es darum, wie man überhaupt einreisen könne, weil man zwangsweise diese Architektur der Besatzung mit nutzen müsste und ihr damit auch Legitimität zuschreiben würde. Das haben wir auch bei uns diskutiert und ich finde es aber noch einmal wichtig zu betonen, was wir dann auch selbst als Erfahrung gemacht haben.
Dass es den Menschen so unglaublich wichtig ist und ihnen so viel Kraft gibt, wenn Menschen von anderswo dorthin kommen und mit ihnen zusammen an ihrer Seite kämpfen. Im Moment ist es ja dann auch eine gemeinsame Kampfbeziehung und keine Behandlung, die von oben herab kommt. Es geht nicht darum, Mitleid zu haben, sondern darum, aus einer politischen Analyse heraus die Notwendigkeit eines Kampfes zu sehen, sich diesem anzuschließen und das dann auch im imperialistischen Zentrum selbst weiter zu tragen. Das ist wichtig zu betonen.
Klasse gegen Klasse:
Vielen Dank für diese Erzählungen. Nach den Angriffen auf Gaza oder auch währenddessen gab es viel politischen Widerstand gegen diese. Es wurde auch ein Generalstreik verkündet und wir haben gerade sehr viel über den Widerstand von jungen Menschen gehört. Was habt ihr persönlich davon mitbekommen?
Kreuzberg United:
Tatsächlich konnte ich so ein paar Tage nach dem Festival spontane Demonstrationen aus einem Imbiss heraus beobachten. Als ich angefangen hatte zu essen, habe ich gesehen, wie sich an einem Kreisverkehr ein paar aufgebrachte Jugendliche versammelt haben, eine isolierte Gruppe von vielleicht sieben Leuten. Sie hatten sich dann formiert, angefangen Slogans zu rufen und sie liefen durch die Straße. Nach einer Runde um den Block kamen sie dann wieder, ich war da ungefähr am Ende meines Essens. Auf einmal waren sie über 100 Leute stark, genug um tatsächlich in die Läden zu gehen und zu sagen, wir machen jetzt einen Generalstreik, wir stehen hier jetzt zusammen. Irgendwann musste ich mein Geld wechseln. Als ich wiederkam, war es wirklich eine ganze Demonstration mit mehreren 100 Leuten.
Migrantifa Berlin:
Ich glaube, das ist ein gutes Beispiel, um einfach auch die Spontanität dessen zu begreifen, wie Jugendliche vor Ort zusammen agieren, wie schnell große Wut, großer Unmut auf die Straße gebracht werden. Dabei dennoch zu sehen, dass es dann aber zugleich einer übergeordneten Organisierungsinstanz fehlt, weil die PA eben selbst eine Art Marionettenregierung der israelischen Besatzung ist. Deswegen ist es natürlich ein großes politisches Anliegen, diese Kämpfe irgendwie organisierter zusammenzutragen.
Dennoch war es auch das, was wir mitgenommen haben, dass es vor allem die Jugend ist, die mit einer progressiven Kritik und unglaublich dynamisch einfach stetig auf die Straße geht und sagt – “wir machen das nicht mehr mit”.
Klasse gegen Klasse:
Zum Abschluss würden wir euch gerne fragen, warum würdet ihr sagen, jetzt noch einmal retrospektiv, dass die Teilnahme an diesem Festival wichtig für euch und für eure Gruppen war?
Kreuzberg United:
Bei uns gab es nicht so einen starken Unterschied zwischen dem, weswegen wir gekommen sind und dem, was am Ende war. Warum hat es sich trotzdem gelohnt? Genau wegen dieser Erfahrungen. Wir sind nicht mit einem falschen Bewusstsein gekommen, wir würden jetzt etwas anderes bekommen und dann enttäuscht werden von der Realität. Sondern das Ziel war, dass wir Brücken schaffen wollten, uns gemeinsam vernetzen wollten und die Solidarität stärken. Die Basis dafür war eben die Anerkennung dieser Realität der Genoss:innen vor Ort, ihren alltäglichen Kämpfen. Diese Realität zu sehen war deshalb das Lebenselixier unserer Reise, unserer Vernetzung.
Palästina Antikolonial:
Für mich war es auch sehr wichtig, überhaupt dort gewesen zu sein. Man kann so viele Berichte oder Bücher lesen über die Lage dort. Aber vor Ort zu sein, die Spuren der Besatzung zu sehen, mit den Menschen zu reden, über die alltäglichen Kämpfe die sie zu führen haben, das ist sehr wichtig, genauso wie das Miteinander und die Freiwilligenarbeit. Man könnte rein theoretisch die Region bereisen und nichts von alledem sehen, nur weil man gekonnt der Besatzung räumlich entkommen könnte. Mit den Palästinenser:innen vor Ort reden und in Kontakt treten sowie politische Arbeit zusammenführen war wichtig für uns. Man hat gesehen, wie nah alles beieinander ist – rein geopolitisch aber auch emotional.
Die Kontraste sind dort einfach unglaublich, man fährt eine Autobahn entlang und auf der einen Seite sieht man ein palästinensisches Dorf, auf der anderen Seite eine israelische Siedlung. Alles lag auch so nah emotional beieinander. Nach dieser Demonstration sind wir zurück nach Farkha gekommen und da fand dann ein Kinderfest statt, das geplant war und es wurde auch gefeiert. Die Menschen vor Ort lassen sich so etwas auch nicht nehmen. Die Normalität muss auch stattfinden und die Hoffnung darf nicht aufgegeben werden. Die Wertschätzung der Menschen vor Ort gegenüber uns als internationale Delegation war wertvoll zu spüren. Palästina wird von der Welt vergessen, der Befreiungskampf wird total ignoriert , vor allem hier in Europa. Deswegen ist es umso wichtiger, dass jede Person, die dort hinkommt, den Befreiungskampf dort sieht, in Kontakt mit den Menschen dort tritt und dies auch wieder in das Land, in dem man lebt, mitbringt. Egal ob nach Deutschland oder in die anderen Länder.
Migrantifa Berlin:
Ich glaube, der Befreiungskampf wird nicht nur vergessen oder ignoriert, vielmehr gibt es extrem starke Propaganda, gerade in den imperialistischen Zentren, die alles daran legt, die Besatzung nach einem religiösen Konflikt aussehen zu lassen. Dagegen merkt man vor Ort ganz stark, dass es natürlich ein Konflikt zwischen einer Kolonialmacht und den Unterdrückten vor Ort ist. Das war für uns auf jeden Fall wichtig mitzunehmen.
Ich würde mich komplett dem anschließen, was Kreuzberg United gesagt hat. Wir sind auch wegen dieser Erfahrung hin. Gleichzeitig geht es aber auch nicht darum, sich zu imaginieren, dass man hier jetzt den gleichen Kampf führen würde, wir sehen uns hier auf Demonstrationen nicht mit der IDF konfrontiert. Für uns in der Nachbereitung liegt vor allem ein wichtiger Fokus darauf, was die Erfahrungen und die Kämpfe, die wir vor Ort gesehen haben, für uns und unsere Rolle im imperialistischen Zentrum in Deutschland bedeuten.
Das ist eine Sache, die wir auch in der Begleitung von anderen Kämpfen immer wieder versuchen. Diese Übertragung zu leisten, um auch tatsächlich Solidarität von hier aus praktisch werden zu lassen.
Jüdische Stimme:
Um es mal kurz aufzugreifen, was mein:e Vorredner:in gerade sagt, dass wir hier auf der Straße nicht mit der IDF konfrontiert sind: Ich musste da an den vergangenen Mai denken, als sich ein paar Leute in Berlin bei einem Flashmob Kuffiyehs umgehängt haben, um ein Foto zu machen. Da kam tatsächlich die Berliner Polizei, um die Menschen zu verhaften, und ging dabei sehr grob mit ihnen um. Das wurde im Mainstream einfach hingenommen, nicht verurteilt oder gar gerechtfertigt, weil jede:r Pro palästinensische Aktivist:in eine Bedrohung darstelle. Ich denke, dass wir es eigentlich fast schon mit einer Art “Israelisierung” der Verhältnisse in Deutschland zu tun haben, wenn so etwas normalisiert wird. Wenn man dafür verhaftet wird, dass man eine Kuffiyeh trägt, ist das nicht einmal mehr ein Demonstrationsverbot. Das ist schon ein Identitätsverbot.
Um auf eure Frage zurückzukommen: Unsere verschiedenen Gruppen haben ja unterschiedliche Schwerpunkte, wir haben mit verschiedenen Themen zu tun. Unsere Gruppe befasst sich jetzt ausschließlich mit Israel/Palästina und da ist es wirklich wichtig, so viele Beziehungen wie möglich in diesem Kontext herzustellen. Es geht auch darum, die jüdisch-palästinensische Verbundenheit zu stärken.
Die meiste Zeit war ich einfach nur als Teilnehmer da. Ich habe das nicht wirklich thematisiert, außer in einem Referat, das ich gehalten habe.. In den Medien wird das beobachtet und daher ist es auch ein wichtiges Zeichen. Die Gelegenheiten dafür zu nutzen finde ich für unsere Organisation sehr wichtig.
Migrantifa Berlin:
Das ist genau das, was ich mit Verbindungslinien meinte. Wir als Migrantifa Berlin haben auch vor Ort einen Vortrag gehalten von den palästinensischen Genoss:innen zur Repression gegen Palästina-Solidarität in Deutschland. Da ging es genau um diese Verbindungen, wie sich diese Repression auch immer mehr ausweitet.
Es wurden schon erste Abschiebungen von Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus durchgeführt, die auf einer Demo “From the River to the Sea – Palestine will be free” skandiert haben. Diese Parole wird inzwischen von den deutschen Behörden als PFLP-Spruch kategorisiert und damit würde man dann seine Zugehörigkeit zu einer “terroristischen Organisation” preisgeben. Das war dann der Grund einer Abschiebung. Genau das sind die Fälle, die wir skandalisieren, die Fälle, zu denen wir arbeiten wollen.
Die Repression spitzt sich in Deutschland stark zu. Wir hatten in diesem Jahr mit mehreren Demonstrationsverboten zu tun, mit einer krassen Politik gegen die revolutionäre 1. Mai Demonstration, die aufgrund unserer Palästina-Solidarität schon im Vorfeld kriminalisiert werden sollte.
Bei all dem ist nicht zu vergessen, dass ein Staat auch ins Straucheln kommt, wenn er mit immer mehr Repressionen arbeiten muss. Man spürt eine große Welle der Solidarisierung und das ist ein Zeichen unserer Kraft. Das macht solche Reisen und das Sprechen über diese Themen umso wichtiger. Würde der Staat das nicht sehen, wäre er nicht in der Position, immer repressiver arbeiten zu müssen. Das ist etwas, woran ich mich in dunklen Zeiten festhalte.