[Interview] Maya John: „Den intersektionalen Feminismus hinterfragen“
Wir haben im Rahmen des Feminist Futures Festivals mit der indischen Feministin Maya John über die Frage gesprochen, welche Grenzen der intersektionale Feminismus hat und welchen Feminismus wir stattdessen brauchen.
Bild: Maya John auf dem Feminist Futures Festival.
Maya John ist Frauenrechtsaktivistin und Gewerkschafterin aus Delhi, Indien. Sie engagiert sich in der Organisierung der verletzlichsten Sektoren der Arbeiter*innenklasse im Rahmen des antikapitalistischen Kampfes.
Wir sind auf dem Feminist Futures Festival in Essen. Was hältst du davon, was ist dein Eindruck und was nimmst du davon mit? Wie hast du das ganze Festival wahrgenommen?
Maya John: Als ich hierhergekommen bin und mir die Mailingliste angesehen habe – wir haben knapp vier Tage im Voraus per E-Mail die Broschüre mit dem Programm bekommen – wurde mir klar, dass dies ein Treffen eines Kaleidoskops von Menschen ist, die sich Feminist*innen nennen. Also wusste ich, dass es ein sehr breites Spektrum von Menschen sein würde. Ich wusste auch, dass es eine Plattform sein würde, die mehr oder weniger unkritisch den Begriff des intersektionalen Feminismus annimmt. Vielleicht habe ich auch vermutet – und das habe ich in den Panels in der Art und Weise gespürt, wie einige Leute sprachen, wie die Fragen gestellt wurden – dass die Grundgedanke oftmals war: „Ich will deine Geschichte wissen.“ Es gab Berichte über einzelne Länder oder Kampagnen mit dem Sinn, dass ich, wenn ich deine Geschichte kennenlerne, über diesen Teil des Kampfes zumindest nicht komplett uninformiert bin. Und das ist es, was die meisten Menschen meiner Meinung nach allgemein unter dem intersektionalen Feminismus verstehen: „Oh, da ist ja auch noch das! Es gibt auch noch dieses Problem!“
Ich wollte als Teilnehmerin hierherkommen – und war froh, dass ich die Gelegenheit hatte, hierherzukommen –, weil ich den Leuten zuhören wollte, aber ich wollte auch etwas Raum finden, um den intersektionalen Feminismus zu hinterfragen. In jedem der Panels, an denen ich teilgenommen habe, insbesondere in dem, das ihr als Brot und Rosen organisiert habt, habe ich also versucht, die Grenzen des intersektionalen Feminismus aufzuzeigen. Offensichtlich gibt es diesen Ansatz, andere Formen der Diskriminierung kennenzulernen und meiner Politik hinzufügen. Es ist aber nicht ausreichend, der Unterdrückung von Frauen nur einen weiteren Aspekt hinzuzufügen. Ich denke, all die verschiedenen unterdrückten Identitäten, die Frauen auf einer solchen Plattform teilen, sind irgendwo mit der Frage der Klasse verbunden. Denn wenn man viele Menschen sagen hört, dass das Patriarchat auf rassistische Weise daherkommt oder auf diese Weise oder jene Weise existiert, wird klar, dass das Patriarchat schließlich nicht alles erklärt. Wenn Klassengesellschaften zusammenbrechen, dann wird es auch das Patriarchat tun.
Der intersektionale Feminismus – und viele Menschen haben nicht gelernt, zu analysieren und ihre Politik darauf aufzubauen – geht einfach davon aus, dass es einen Zusammenhang zwischen einer Form des Patriarchats, Rassismus oder unterdrückten Nationalitäten und Klasse gibt. Also ist es Klasse plus race plus Geschlecht plus unterdrückte Nationalität plus Minderheit. Das „Plus, plus, plus, plus, plus“ ist so flach. Die ontologische Tiefe, oder wie sie sich kombinieren, wie die Klasse diese Dinge tatsächlich beeinflusst und sie zum Vorschein bringt, die Unterdrückung eine bestimmte Form annehmen lässt, all das bleibt relativ unerforscht. Das ist etwas, das ich als vorherrschend empfunden habe, also haben die Leute einfach diesen „meine Geschichte“-Ansatz gewählt und gesagt: „Es ist schön, deine Geschichte zu hören“. Aber die Frage, was wir damit anfangen, wird offensichtlich nicht beantwortet, wenn man die Frage der Klassenungleichheit, und wie dieser Kampf geführt werden muss, nicht einbringt.
Das Zweite, was ich denke, ist, dass wir – natürlich in Verbindung mit dem, was ich gerade gesagt habe – nicht genug über Strategien gesprochen haben. Wenn wir also für März 2020 etwas planen, müssen wir wirklich an vielen dieser unbequemeren Fragen, die einige von uns stellen, ansetzen und uns koordinieren. Wenn es also eine große Plattform gibt, die sich in Form eines feministischen Streiks im März 2020 zusammenfindet, muss sich die kritische Frage der Klasse an diesem Tag zumindest stellen. Denn erinnern wir uns daran, dass, als der Internationale Frauentag Anfang des 20. Jahrhunderts begann, der Slogan 1910/11 eigentlich „Frauentag der Arbeiter*innenklasse“ war. So haben es Clara Zetkin und andere eigentlich vorgesehen. Wir müssen das wieder beanspruchen und erklären, dass die Klasse auf sehr komplexe Weise funktioniert. Wir können nicht zulassen, dass der intersektionale Feminismus die Klasse auf opportunistische Weise nutzt, nur um die Hyper-Unterdrückung einiger Frauen zu erklären, aber nicht die Komplizenschaft bürgerlicher Frauen, weißer Frauen oder Frauen der Mehrheit bei der Unterdrückung anderer Frauen beachtet.
Was ist Dein Verständnis von Klasse? Du sagtest, dass all diese verschiedenen Formen von Unterdrückungsmechanismen nicht flach sind. Was, würdest du sagen, ist die Rolle der Klasse?
M.J.: Erstens ist Klasse keine starre Sache. Das ist es, was wir gestern in unserem Workshop in Angriff nehmen mussten. Denn im Allgemeinen wurde Klasse als Kategorie an unseren Universitäten analysiert und gelehrt, als ob sie nur irgendein Etikett wäre. Als ob man sie einfach „einfrieren“ könne. Man kann Klasse nicht als soziale Position, als Erfahrung verstehen, es sei denn, man sieht sie in einer Beziehung. Sie ist eigentlich etwas Relationales, und deshalb ist sie etwas, das sich verändert. Ich denke, anstatt sie als feste ökonomistische flache Kategorie zu verwenden, müssen wir sie als etwas sehen, das dynamisch und relational ist. Man kann Klasse nicht verstehen, wenn man nicht eine Klasse einer anderen gegenüberstellt. Das ist es, was zu erkennen hilft, was Klasse tatsächlich ist. Und so denke ich, dass der Kapitalismus historisch gesehen zwei primäre Klassen geschaffen hat, und das gilt auch heute noch: eine große Arbeiter*innenklasse und eine Kapitalist*innenklasse. Und dazwischen liegt diese sehr heterogene Mittelklasse, wie wir sie nennen.
Natürlich gibt es Debatten darüber, wie man die Mittelklasse identifiziert, und wir alle müssen uns dieser Debatten bewusst sein. Aber die Mittelklasse tendiert einerseits dazu, sich von der Arbeiter*innenklasse zu unterscheiden, aber andererseits auch mit der Arbeiter*innenklasse zu verschmelzen. Wenn sie Politik macht, identifiziert sie sich gerne mit der Arbeiter*innenklasse in dem Sinne, dass sie auch leidet, sie auch unterdrückt wird und sie auch unter autoritären Regimen leidet. Was sehr gerne verschwiegen wird, ist, dass sie als Mittelklasse auch an der Extraktion von Mehrwert, den die Arbeiter*innenklasse schafft, beteiligt ist. Daher ist das Leben in der Mittelklasse etwas besser, ihr Konsum ist besser, ihr Lebensstil ist in vielerlei Hinsicht anders. So ist die Klasse kein flaches, workeristisches, ökonomistisches Label. Sie ist etwas, das man nur verstehen kann, wenn man es in Beziehung zu einer anderen Person betrachtet.
Die zweite Sache, die ich zu sagen versucht habe, ist, dass wir für die revolutionäre Politik, wenn wir mit der Klasse als etwas Dynamischem und Relationalem arbeiten, sehen können, wie die Klasse andere Erfahrungen oder andere Identitäten prägt. So gibt es eine Klassendynamik, die innerhalb der race funktioniert. Es gibt eine Klassendynamik innerhalb des Geschlechts. Es gibt eine Klassendynamik innerhalb der Nationalitäten. So findet man in all diesen verschiedenen Identitäten immer eine Arbeiter*innenklasse. Und ich denke, dass revolutionäre Politik versucht, die Stimme der Arbeiter*innenklasse oder die Slogans und Forderungen der Arbeiter*innenklasse zu mobilisieren, die über diese verschiedenen Identitäten verteilt sind. Unser Feminismus stellt also die Bedürfnisse der Arbeiterinnen in den Mittelpunkt der Frauenbewegung. Unsere Auseinandersetzung mit dem Rassismus besteht dementsprechend in der Konzentration auf die Probleme der Schwarzen der Arbeiter*innenklasse im Zentrum der antirassistischen Bewegung.
So werden wir es also machen, anstatt nur zu sagen, dass die gesamte race oder unterdrückte Nationalität oder das Geschlecht die Position der Arbeiter*innenklasse einnehmen. Wir sollten diesen Fehler nicht machen, denn alle diese Identitäten sind nach Klassenlinien getrennt. Man findet unter Frauen eine Mittelklasse, man findet unter Frauen die Arbeiter*innenklasse, man findet die Mittelklasse bei bestimmten Ethnien, man findet die Arbeiter*innenklasse bei bestimmten Ethnien. Das müssen wir umso mehr tun, als wir gegenüber der Rechten an Boden verlieren. Ich habe das auch gestern im Workshop erwähnt, weil wir zu leichtfertig die lautstarke und wortgewandte bürgerliche Vorstellung von Politik und das Vermischen von Themen den Diskurs dominieren lassen. Kleinbürgerliche Lösungen helfen nicht gegen die Unzufriedenheit der Arbeiter*innenklasse. Und die Unzufriedenheit der Arbeiter*innenklasse kann dann von der Rechten missbraucht werden. Vergessen wir nicht, wer sehr oft autoritäre Regime wählt. Beim Rückschritt in den USA vor einigen Jahren mit Trump waren es weiße Männer und Frauen der Arbeiter*innenklasse, die für ihn gestimmt haben. Wir müssen uns also daran erinnern, dass wir unsere Kritik an der bürgerlichen Politik und dem bürgerlichen Diskurs schärfen müssen, und zwar zum großen Teil im Zusammenhang mit der Kategorie Geschlecht. Wenn wir den intersektionalen Feminismus nicht kritisieren, werden wir weiter zulassen, dass sich viel Unzufriedenheit in der Arbeiter*innenklasse entwickelt und von der Rechten missbraucht wird. Deshalb denke ich, dass wir das, was passiert, ernster nehmen müssen.
Was ist deiner Meinung nach ein echter internationalistischer Feminismus?
M.J.: Ich nenne dir ein Beispiel. Auf diese Weise haben viele von uns versucht, ihn im indischen Kontext zu verstehen. Wir arbeiten daran Massen zu organisieren und in unseren Studienkreisen versuchen wir, unseren Kadern radikale Politik zu erklären. Ich sage immer: Wenn Du an eine internationale Revolution denkst, ist es dann angemessen zu sagen, dass internationale Revolution internationalen Feminismus bedeutet? Feminismus ist heute ein so belastetes Wort. Der Slogan „Frauen aller Länder, vereinigt euch“ – denn der internationale Feminismus würde das bedeuten – ist typischerweise ein intersektionaler feministischer Slogan. Wir wissen, dass man im indischen Kontext den Slogan „Frauen aller Länder, vereinigt euch“ im Haushalt nicht anwenden kann. Im Haushalt sind die Frauen entlang der Linien Schwiegermutter und Schwiegertochter, Hausherrin und Hausangestellte gespalten. Wie willst du dort Einheiten aufbauen?
So ist der Internationalismus, wie ihn Marx und die revolutionäre Bewegung uns gelehrt haben, nach der Parole „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“ immer noch eine wirkliche, konkrete, greifbare Möglichkeit. Egal ob es um eine deutsche, indische oder afrikanische Arbeiter*innenklasse geht, macht dieses Konzept des Internationalismus immer noch Sinn. Denn diese Arbeiter*innenklasse kann letzten Endes nicht von der Ausbeutung einer anderen Arbeiter*innenklasse profitieren. Ich würde also sagen, dass der internationale Feminismus ein hohler Slogan ist, der sich immer noch innerhalb des Paradigmas des intersektionalen Feminismus befindet. Daher denke ich, dass wir über die Mobilisierung von Frauen aus der Arbeiter*innenklasse auf internationaler Ebene sprechen sollten.
Welche Art von Feminismus brauchen wir anstelle des dominanten intersektionalen Feminismus?
M.J.: Wie wir gestern im Workshop besprochen haben, brauchen wir den proletarischen Feminismus. Proletarischer Feminismus bedeutet, dass er die Klasse nicht auf einen weiteren „-ismus“, eine andere flache Identität wie „Ich bin Teil der Arbeiter*innenklasse und ich bin eine Frau, also hör mir zu“, reduziert. Proletarischer Feminismus bedeutet, dass ich zur Arbeiter*innenklasse gehöre, und ich weiß, dass meine Probleme nicht durch irgendwelche temporären Lösungen beseitigt werden, die der Kapitalismus hervorgebracht hat. Also brauche ich eine Revolution. Und meine Revolution wird eine solche Revolution sein, dass auch die Männer der Arbeiter*innenklasse eine Veränderung in ihrem Leben erleben werden, ebenso wie andere Teile der Gesellschaft. Also ich denke, das ist der Feminismus, den wir wollen: den proletarischen Feminismus, der die Probleme und Lösungen der Frauen der Arbeiter*innenklasse zum Mittelpunkt macht, auf dem alles andere aufgebaut ist.
Das Interview führten Nadia Rohi und Charlotte Ruga im Rahmen des Feminist Futures Festivals, das am vergangenen Wochenende in Essen stattfand. Rohi und Ruga sind in München in der sozialistischen Frauenorganisation Brot und Rosen aktiv.