Interview: Generalstreik in Chile
Eine halbe Million SchülerInnen, Studierende und ArbeiterInnen in Chile beteiligen sich an einem Generalstreik. Ein Interview mit Barbara Brito, Studentin an der Fakultät für Philosophie und Geisteswissenschaften an der Universität von Chile in Santiago, ehemalige Delegierte ihrer Fakultät in der Studierendenförderation CONFECh und Mitglied der Partei revolutionärer ArbeiterInnen (Partido de Trabajadores Revolucionarios, PTR), Schwesterorganisation von RIO in der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale (FT-CI)
Am vergangenen Mittwoch und Donnerstag fand ein zweitägiger Generalstreik in Chile statt, der erste seit 2003. Wie kam es dazu?
Über eine halbe Million Menschen beteiligten sich am Streik unter dem Motto: „Chile sollte anders sein“. Der Gewerkschaftsdachverband CUT stellte einen ganzen Katalog von sozialen Forderungen auf. Aber der eigentliche Auslöser waren die Studierendenproteste für kostenlose Bildung, die seit Mai anhalten. In allen Teilen Santiagos sind Schulen besetzt, und Hunderttausende haben sich an Demonstrationen beteiligt.
Laut Umfragen unterstützt 80% der Bevölkerung die Forderung nach kostenloser Bildung. Woher kommt die Sympathie für die Forderungen der SchülerInnen und Studierende?
Die Situation ist schlicht unerträglich. Auf der Demonstration sah ich ein Schild von einem jungen Mann, auf dem Stand, dass er 28 Millionen Pesos [rund 40.000 Euro] Schulden fürs Studium aufnehmen musste.
Wir haben mehr oder weniger das gleiche System, das Pinochet hinterlassen hat: die staatlichen Schulen sind sehr schlecht (denn sie hängen von den Steuern ab, die an die Kommune gezahlt werden) und die Unis kosten Geld, egal ob sie staatlich oder privat sind. Es kann nicht sein, dass junge Menschen bis 40 oder 50 arbeiten, bevor sie ihr Studium abbezahlt haben. Mit dieser Forderung gab es Besetzungen und Streiks an über 100 Schulen und zwei Dutzend Unis, und das zog viele Leute mit. Diese Sympathie setzte die CUT unter Druck, um einen für Oktober geplanten Streik vorzuziehen.
Nichtsdestotrotz war der erste Streiktag schlecht besucht: Die Regierung sprach von einer Streikbeteiligung unter 1%. Wieso?
Einerseits haben wir immer noch die Arbeitsgesetze der Diktatur. Viele ArbeiterInnen haben Angst, dass sie entlassen werden, wenn sie auch nur einen Tag streiken. Vor allem aus dem öffentlichen Dienst und dem Bildungsbereich kamen die Streikenden. Andererseits hat die CUT nicht viel gemacht, außer Plakate aufzuhängen. So gab es im Vorfeld keine Versammlung und am ersten Streiktag war nicht mal eine Demonstration angesetzt – es gab nur einen Aufruf zur CUT zu Straßenblockaden, was dann hauptsächlich von Studierenden umgesetzt wurde.
Wie sah das an eurer Fakultät aus, die als besonders radikal gilt?
Auch vor unserer Fakultät haben wir mehrere Barrikaden errichtet, um den Verkehr zu blockieren. Am Vortag haben 80 Menschen auf einer Versammlung die Aktion geplant, und um sechs Uhr morgens trafen sich rund 200 Jugendliche von verschiedenen Unis und Schulen im Viertel. Mehr als zwei Stunden lang konnten wir die Polizei zurückhalten.
Wir platzten die Reifen von einem Bus mit „Miguelitos“ [Krähenfüße – besonders gebeugte Nagel, benannt nach Miguel Enríquez, dem hingerichteten Generalsekretär der Bewegung der Revolutionären Linken MIR], um den Verkehr zu blockieren. Der Fahrer war ganz froh darüber, weil er den Streik unterstützen wollte, aber nicht durfte. So konnten wir auch einen Wasserwerfer zum Stillstand bringen. Dann mit Steinen, Molotowcocktails und besonderer Ausrüstung zum Zurückwerfen von Trängengaskanistern konnten wir diese Barrikade verteidigen.
Die Regierung spricht von wenigen Hunderten Vermummten, die sich unter den friedlichen DemonstrantInnen mischen.
Allein an unserer Fakultät waren es schon mehrere Hundert, die die Straßenblockade gegen die Polizei verteidigten. Auf der Großdemo am zweiten Streiktag sah ich viele Tausende Jugendliche – längst nicht alle vermummt – die sich den Wasserwerfern entgegenstellten. In Wirklichkeit handelt es sich um eine ganze Generation, die die Polizei, die wir von der Pinochet-Dikatur geerbt haben, zutiefst hasst und für die eigenen Interessen zu kämpfen bereit ist.
Piñera ruft zum Dialog auf, aber er bietet so gut wie keine Zugeständnisse an. Was sind die Perspektiven dieser Bewegung?
Die Regierung kann keine kostenlose Bildung anbieten, weil viele Regierungsmitglieder selbst Geld mit Bildungsunternehmen verdienen. Um ihr neoliberales Modell zu verteidigen, bleiben sie sehr hart – der Präsident sagt selbst, dass Bildung ein „Konsumgut“ sei. Sie bieten nur die kleinsten, kosmetischen Reformen an, weshalb bisher alle Gewerkschaften und Studierendenverbände ein solches „Dialog“ ablehnen.
Leider propagieren die Parteien des Oppositionsbündnis „Concertación“ – und auch die Kommunistische Partei – sowie die Führung der CUT die Perspektive, dass die Forderungen durch Verhandlungen durchgesetzt werden können. Doch schon bei der „Pinguinen-Revolution“ [SchülerInnenproteste im Jahr 2006] haben wir gesehen, dass Verhandlungen in die Sackgasse führen, und dass wir uns nur auf die Kraft der eigenen Mobilisierung verlassen können.
Welche Rolle spielen diese Oppositionsparteien?
Zwischen 1990 und 2010 waren sie in der Regierung und führten das Bildungssystem von Pinochet fort. Die Concertación trieb zudem während dieser Zeit selbst die Kriminalisierung jeglicher sozialer Proteste voran. Auch wenn jetzt 80% der Bevölkerung kostenlose Bildung fordert, fordern sie nur einige Schritte in diese Richtung, z.B. Gebührenfreiheit für Arme. Wir dagegen fordern ein Bildungssystem, das aus Steuern für die Superreichen in diesem Land – z.B. für Piñera selbst, der ein Vermögen von mehreren Milliarden Dollar besitzt – finanziert wird.
Und selbst die Kommunistische Partei unterstützt die Spaltungsversuche der Regierung, denn sie distanziert sich von den angeblichen „GewalttäterInnen“ und wirft den Jugendlichen, die sich gegen die Polizei zur Wehr setzen, vor, dass sie das Spiel der Rechten spielen. Damit stellt sie sich letztlich auch auf die Seite der herrschenden Ordnung und versucht, die Proteste in für sie kontrollierbare Bahnen zu lenken.
Welches Programm erhebt die PTR für diese Studierendenproteste und die Intervention der CUT?
In der aktuellen Situation glauben wir, dass es notwendig ist, Forderungen wie kostenlose Bildung, ungehinderten Zugang zu Bildungseinrichtungen, demokratische Verwaltung der Universitäten und einen Organismus des Kampfes mit mandatierten und rückrufbaren Delegierten, um den Kampf zu verstärken und in dem wir als Studierende nicht nur teilnehmen, sondern auch Aktionen diskutieren und ausführen können. Andererseits ist es notwendig, dieses antidemokratische politische Regime, das im Erbe der Diktatur Pinochets steht, zu hinterfragen und den Kampf dagegen zu vertiefen.
In diesem Sinne glauben wir, dass es notwendig ist, für eine verfassungsgebende Versammlung basierend auf der Mobilisierung der ArbeiterInnen und der Massen zu kämpfen und dort für eine ArbeiterInnenregierung einzutreten. Das ist ein zentraler Punkt. Denn bisher wird von den Führungen der Bewegung nur ein Plebiszit gefordert, aber dass ist kein Ausweg, sondern will die Mobilisierungen nur an den Verhandlungstisch umleiten. Es ist wichtig, dass wir den Kampf der Studierenden und SchülerInnen mit den ArbeiterInnen vereinen, die sich, wie wir gerade erleben, in den Prozess integrieren wollen. In diesem Sinne ist eine unserer wichtigsten Forderungen, das geschwächte politische Regime der Rechten und der Concertación, welches Erbe Pinochets ist, weiterhin zu hinterfragen.