Indien: Ärzt:innen streiken nach Vergewaltigung und Femizid ihrer Kollegin

20.08.2024, Lesezeit 5 Min.
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Foto: Doctors photography/ shutterstock.com

Nach dem Mord an der auszubildenden Ärztin Dr. Moumita Debnath streiken in Indien über eine Millionen Ärzt:innen. Was braucht es, um gegen patriarchale Gewalt zu kämpfen?

In ganz Indien sind nach dem Aufruf des indischen Ärzt:innenverbandes Indian Medical Association (IMA) über eine Million Ärzt:innen in einen 24-stündigen Streik getreten. Damit wurde die medizinische Versorgung im bevölkerungsreichsten Land der Welt größtenteils lahmgelegt. Etliche Patient:innen wurden abgelehnt und nur Notfälle behandelt. Um die medizinische Grundversorgung sicherzustellen, wurde Lehrpersonal der medizinischen Hochschulen für Notfälle hinzugezogen. 

Dem vorausgegangen ist die Vergewaltigung und der Femizid an Dr. Moumita Debnath, einer jungen Ärztin in Ausbildung in Kolkata. Sie wurde letzte Woche mehrere Stunden nach der Tat tot in einem Seminarraum des R. G. Kar Medical College and Hospital gefunden, in dem Debnath als Ärztin arbeitete. Nach einer 36-stündigen Schicht hatte sie dort geschlafen – Ruheräume standen ihr in dem Krankenhaus nicht zur Verfügung. Die Obduktion deutet auf eine Gruppenvergewaltigung hin.

Landesweit gehen aus diesem Grund Zehntausende auf die Straße. Anfang letzter Woche streikten Beschäftigte staatlicher Krankenhäuser in mehreren Regionen Indiens während einzelner Schichten, am Freitag folgte der Streikaufruf der Indian Medical Association. Einige Ärzt:innen sind inzwischen wieder im Dienst, viele, vor allem junge Ärzt:innen weigern sich jedoch, den Dienst wieder anzutreten. Der Nachtdienst sei für die Krankenhausbeschäftigten beängstigend, einige fordern mehr Sicherheitspersonal und weitreicherende Videoüberwachung. Ärzt:innen in Indien berichten immer wieder über Gewalt am Arbeitsplatz. Laut einer Studie der IMA von 2019 sind bis zu 75 Prozent der Mediziner:innen Drohungen und körperlichen Übergriffen ausgesetzt. 

Indiens Ärzt:innen sind unterbezahlt und überarbeitet, und werden obendrein noch misshandelt. Der IMA fordert dagegen Schutzräume in Krankenhäusern, die nur Frauen offenstehen, sicherere Arbeitsbedingungen und die Bestrafung der Täter. Doch dabei kann der Kampf nicht stehenbleiben. Sexualisierte Gewalt gegen Frauen ist ein massives Problem in Indien. Dies gilt besonders für Frauen, die Kasten angehören, die in Indiens Kastensystem niedriger gestellt sind, sowie Angehörige religiöser oder ethnischer Minderheiten. Offiziellen Daten zufolge wird in Indien jede Viertelstunde eine neue Vergewaltigung gemeldet, die Dunkelziffer liegt viel höher.

Ein weiterer Fall, der auch international aufgegriffen wurde, ist der der Studentin Jyoti Singh Pandey. Sie wurde 2012 in einem fahrenden Bus in Neu-Delhi vergewaltigt und starb kurz darauf an ihren Verletzungen. Auch damals gab es massenhaft Proteste, welche zu einer Verschärfung der Gesetze führten. Doch im Kampf gegen patriarchale Gewalt können wir uns nicht auf das Strafgesetzbuch verlassen. Staat und Justiz erweisen sich immer wieder als komplett unfähig, Femizide und Vergewaltigungen zu verhindern, oder wenigstens zu verringern. Die Täter von 2012 sind inzwischen hingerichtet, den Frauen und Mädchen Indiens hilft das wenig.

Doch auch über Indien hinaus müssen Femizide und patriarchale Gewalt Thema sein. Indien wird gerne als Negativbeispiel für sexualisierte Gewalt an Frauen und Mädchen angeführt. Doch auch in anderen Ländern wird sexualisierte Gewalt vertuscht und Arbeiter:innen leiden unter schrecklichen Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen.

Bilder einer Demonstration für Moumita Debnath zeigen hunderte Menschen, die um den Schriftzug „Jin Jiyan Azadi“ stehen – „Frau Leben Freiheit“, seit Jahrzehnten Schlachtruf der kurdischen Frauenbewegung. Seit der Ermordung Jina Aminis 2022 in Teheran steht der Ruf auch über die kurdische Bewegung hinaus für den Kampf gegen Gewalt an Frauen weltweit.

Was es braucht, sind Masseninvestitionen in Prävention – in Schulen, Sozialeinrichtungen, Frauenhäuser und günstigen Wohnraum. Aber auch der Kampf gegen die Politik der rechten Regierung Narendra Modis ist nötig. Seit dem Amtsantritt 2014 treibt die Regierung offen hindu-nationalistische Politik voran und greift damit massiv die Rechte von Frauen, ethnischen und religiösen Minderheiten, sowie Angehörigen der im Kastensystem niedrig gestellten Kasten an. Aber auch die Arbeitsbedingungen werden angegriffen. Schon 2020 streikten Gesundheitsarbeiter:innen in dem südindischen Bundesstaat Karnataka für die Auszahlung ihres Lohnes.

Was es braucht, ist die Ausweitung der Streiks auf weitere Sektoren, die sich gegen die immense sexistische Gewalt in Indien richten und das kapitalistische System, welches diese hervorbringt. Der Leiter der IMA, Madan Mohan Paliwal, schloss neue Proteste nicht aus: „Wenn die Regierung keine strengen Maßnahmen zum Schutz der Ärzte ergreift, werden wir über das weitere Vorgehen entscheiden. Und diesmal könnten wir auch die Notdienste einstellen“. Ein anderer Ärzteverband hatte zuvor mitgeteilt, er werde die Arbeitsniederlegung fortsetzen. Den Behörden werde eine Frist von 72 Stunden gesetzt, um eine gründliche Untersuchung durchzuführen und die Schuldigen zu verhaften. Allerdings sollte sich das Gesundheitspersonal nicht auf bürgerliche Regierungen verlassen, die nur Überwachung und Punitivismus anbieten, statt in Soziales, Bildung und Gesundheit zu investieren. Die vergangenen Erfahrungen der Ärzt:innen lehren, dass es ihnen nicht um sichere Arbeitsbedingungen für das Personal und auch nicht um eine adäquate Versorgung der Patient:innen geht, sondern in erster Linie möglichst günstig die Proteste abzuschwächen. 

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