In welcher Etappe der Eurokrise befinden wir uns?

06.05.2012, Lesezeit 15 Min.
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// Eine ökonomische und geopolitische Analyse der Eurozone //

Die Krise der Eurozone und der EU ist ein Teil der wichtigsten weltweiten kapitalistischen Krise seit den 1930ern. Dennoch entwickelt sich die aktuelle Krise – im Gegensatz zu der, welche zwischen 1929 und 1933 katastrophale Auswirkungen auf wirtschaftlicher und finanzieller Ebene hatte und eine schnelle Entwicklung umbruchartiger politischer Ereignisse provozierte – in einer anderen, langsameren Form. Der große Unterschied ist das Niveau staatlicher Intervention, welches die Umwandlung des brutalen wirtschaftlichen Abstiegs und der Finanzkrise von 2008/9 in eine große, verallgemeinerte Depression verhinderte. Gleichzeitig ist der sprunghafte Anstieg der öffentlichen Schulden und die Staatsschuldenkrise, die alle großen imperialistischen Länder mehr oder wenig stark betrifft, eine spezifische Charakteristik der 2007 begonnenen Krise, dessen Konsequenzen sich erst noch zeigen müssen. Diese zwei Elemente geben der aktuellen Krise eine geringere Schärfe im allgemeinen Vergleich mit der Krise der 1930er, aber sie verlängern sie zeitlich und verschieben so effektiv den Ausweg.

Strukturelle Fundamente der Krise

Das grundlegende Fundament der Eurokrise ist die Tendenz zur relativen Deindustrialisierung der südeuropäischen Länder, inklusive Frankreich, zum Vorteil des deutschen Imperialismus.

Deutschland war das Land, welches seine Produktionskosten am Besten nach Osteuropa externalisieren konnte und dabei von der billigen, qualifizierten Arbeitskraft dieser Länder profitieren konnte. Wenn wir diese Realität einberechnen, sind die wirklichen Lohnstückkosten in Deutschland 20% geringer als die der anderen großen Länder der Eurozone (Frankreich, Italien, Spanien). Noch viel wichtiger ist aber die Tatsache, dass Deutschland einen großen Teil seiner hoch entwickelten Industrieproduktion in die Länder Mitteleuropas ausgelagert hat und einen großen Teil weniger komplexer Produktion in seinem eigenen Territorium behalten hat. Ein Beispiel davon ist die Automobilproduktion: Der Gigant Volkswagen produziert in Tschechien oder der Slowakei Modelle höherer Sparten und nicht die niedrigerer Sparten. Das erlaubte es Deutschland, sich die Produktionsressourcen anzueignen, die fehlten (qualifizierte IndustriearbeiterInnen mit einem Bildungsniveau, welches demjenigen der ArbeiterInnen Westeuropas in Nichts nachsteht), während gleichzeitig mehr Industriearbeitsplätze geschaffen wurden. Zweitens konzentriert Deutschland seine komparativen Vorteile bei Produkten hoher oder mittel-hoher Technologie, während im Rest der Länder der Eurozone die Produkte mittlerer und niedriger Technologie mehr proportionales Gewicht in der Produktion haben[2]. Diese Produkte sind weniger Preisschwankungen unterworfen, während gleichzeitig der Fortschritt in der Wettbewerbsfähigkeit der sogenannten aufstrebenden Schwellenländer großen Einfluss auf die Marktanteile der Länder hat, die im mittleren Bereich der Technologieproduktion angesiedelt sind.

Die Einführung des Euro verstärkte diese Vorteile des deutschen Kapitals. Es erhielt unbeschränkten Zugang zu den Binnenmärkten schwächerer Imperialismen, die nicht mehr mit Währungsabwertung antworten konnten.

Als Konsequenz aus diesen Veränderungen verloren die Länder der Peripherie der Eurozone in den 2000er Jahren an Wettbewerbsfähigkeit, entwickelten so ein Leistungsbilanzdefizit mit dem Kern (Deutschland und die Länder Nordeuropas) und akkumulierten große Schulden mit den Finanzinstitutionen dieser Länder. Diese Ungleichgewichte in Europa waren vor der Entwicklung der Schuldenkrise verdeckt von den geringen Zinssätzen, von denen Deutschland profitierte. Mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise zeigte sich die Beständigkeit ihrer „Wirtschaftswunder“ ohne Fundament, während sie gleichzeitig mit einer schweren öffentlichen und privaten Schuldenlast zu kämpfen hatten. Der Euro vertiefte die Teilung zwischen europäischem Zentrum und Peripherie und konsolidierte den Fortschritt des deutschen Imperialismus auf Kosten letzterer.

Angesichts des Ausbruchs der Staatsschuldenkrise ist das Ziel der wichtigsten Staaten der Eurozone, die Interessen der Banken und der GläubigerInnen zu beschützen, indem sie eine Insolvenz vermeiden. Das ist das Ziel der Austeritätspolitiken, die versuchen, die Kosten der Krise zu sozialisieren und ein neues Kräfteverhältnis gegen die ArbeiterInnenklasse zu etablieren, welches es erlaubt, die Ausbeutungsrate zu erhöhen.

Diese Politik führt jedoch in die Rezession und erschwert so die Schuldenlast, wie die Verhandlungen um einen Schuldenschnitt in Griechenland zeigen. Diese Gespräche beweisen die Angst der wichtigsten europäischen AnführerInnen um eine „Ansteckungsgefahr“ der griechischen Schuldensituation für den ebenfalls verschuldeten und als instabil bewerteten Rest Europas.

Aber diese „Rettung“ Griechenlands hätte es nicht vermocht, die Ansteckungsgefahr – welche sich in einer brutalen „Liquiditätskrise“ der wichtigsten Finanzinstitutionen der Eurozone im letzten Herbst ausdrückte – zu verhindern, ohne dass die EZB massiv interveniert. Die Emission von einer Billion Euro im Wechsel für unverkäufliche Papiere der Privatbanken, und das bei einer Zinsrate von weniger als 1% jährlich, war eine beispiellose Maßnahme dieser Bank. Diese nie dagewesenen Maßnahmen haben für den Moment das europäische Finanzsystem gerettet und die Ängste vor einem bevorstehenden Kollaps des Euro, die Ende 2011 die Runde machten, beschwichtigt. Dennoch ist die Krise, obwohl damit Zeit gewonnen wurde, noch längst nicht beendet.

Diese radikale Aktion der EZB hat die strukturellen Probleme der Eurozone nicht verändert. Die Zinsraten der italienischen und spanischen Schulden sanken anfänglich, zeigten inzwischen jedoch Tendenzen eines erneuten Anwachsens. Diese Situation wird durch drakonische Sparmaßnahmen, ein Aufleben der Klassenkämpfe und eine Abwärtsspirale der Wirtschaft zur „Schuldenfalle“.

Der Spanische Staat droht, sich in das nächste schwache Kettenglied der Eurozone zu verwandeln. Denn im Rahmen der niedrigen Wettbewerbsfähigkeit seiner Wirtschaft erleidet Spanien eine tiefschürfende Deflation. Diese ist das Resultat des Zahlungsfähigkeitsproblems des hoch verschuldeten privaten Sektors, welcher sich um die Immobilienbranche entwickelt hat, deren Preise stark gesunken sind und die noch weiter fallen werden, und der Existenz eines Finanzsektors, der fröhlich diese Schulden zugelassen hat, und sich in einem insolventen Stadium befindet. Noch schwerwiegender könnte die Gesundung seines insolventen Finanzsystems, welche momentan im großen Maße nach hinten verschoben wird, einen sprunghaften Anstieg der öffentlichen Schulden wie in Irland produzieren, welcher ihn im Rahmen des geringen Handlungsrahmens seiner Staatsfinanzen dazu zwingen könnte, ein „Rettungspaket“ von der EU zu erbeten.

Vor diesem ökonomischen Hintergrund, der sich schnell verschlechtert, ist die Regierung von Rajoy gefangen zwischen einer Europäischen Union, die die Erhöhung des Sparrhythmus‘ und die Verhinderung eines neuen Ausbruchs der Instabilität in der gesamten Eurozone fordert, und den wirtschaftlichen Konsequenzen, die dies mit sich bringt und die schon ihre eigene soziale Basis bedroht. Die Notwendigkeit des Sparens sorgt für Spannungen in den Beziehungen zwischen der Zentralregierung und den Regionen, und entblößt so immer mehr ein existenzielles Problem des postfranquistischen Spaniens, in dem das Gleichgewicht zwischen der Zentralregierung und den Regionen delikat ist. Denn wenn Madrid darauf hoffen will, die Ziele des Haushaltsgleichgewichts zu erreichen, muss es die Politik der Haushaltsautonomie der Autonomen Gemeinschaften verändern, eines Eckpfeilers des paktierten Übergangs zur Demokratie in den 1980ern. Schließlich ist Spanien die europäische Wirtschaft, deren Risikosituation derjenigen Griechenlands im Bezug auf die soziale Situation am meisten ähnelt. Wir könnten sagen, dass Spanien in einer ähnlichen Situation ist wie zum Zeitpunkt der Entstehung sozialer Unruhen in Griechenland vor nur ein paar Jahren – außer dass die Arbeitslosigkeit schon größer ist, als zu dem Zeitpunkt, als die griechische Krise begann[3]. Die wachsende Aktivität der SchülerInnen und Studierenden vor dem 29. März und im Generalstreik selbst und vor allem die Aktivität der ArbeiterInnen könnte einen Wendepunkt und den Beginn einer Eskalation des sozialen Konfliktes markieren.

Portugal droht eine beschleunigte Version des Schicksals Griechenlands, da letzteres den Weg zur Zahlungsunfähigkeit geebnet hat. Die Möglichkeit so plötzlicher Schulden-Umstrukturierungen überfordert die Märkte mit ihren diesmal unvorbereiteten GläubigerInnen. Die portugiesischen Banken erleben eine enorme Einlagenflucht mit den deutschen Banken als dem Haupttransferziel. Diese Einlagenflucht ist eine Konsequenz daraus, dass die Einlagen europäischer Banken von nationalen Zentralbanken und Regierungen, anstatt von der EZB, garantiert werden. Als Reaktion haben die Euro-FinanzministerInnen Ende März eine nominale Erhöhung des „Europäischen Stabilitätsmechanismus“ (ESM) beschlossen. Dieser Europäische Fonds sollte ursprünglich um Juli mit 500 Milliarden Euro aktiviert werden. Die Erhöhung ist mehr Finanz-Engineering als neues Geld. Die 800 Milliarden Euro sind in Wirklichkeit nur 700, von denen ein Teil schon ausgegeben ist[4]. Diese gemeinschaftlichen Rettungsmechanismen zur Rekapitalisierung der Banken finden ihre Grenzen in den engen Verbindungen jener Banken zu den Nationalstaaten. Deren imperialistischer Charakter ist das ursächliche Hindernis für eine effektive Lösung der Staatsschuldenkrise.

Die aktuelle Krise hat diese elementare Wahrheit aufgedeckt, die nur von den MarxistInnen bemerkt wurde. Die Mängel des europäischen Aufbaus sind ein Resultat des freien Willens jeder Bourgeoisie, den größten Handlungsspielraum in ihren Händen zu behalten und die Europäische Union vor allem als gemeinsames Instrument der Liberalisierung und der Deregulierung der Märkte im Dienste des Großkapitals zu benutzen. Dieser begrenzte Charakter der Krisenführung sorgt immer wieder für die Bedrohung des Zerfalls der Eurozone, welche immer nur im letzten Moment durch eine ad hoc-Übereinkunft angesichts der Angst vor dieser Perspektive verhindert wird. Daher müssen wir die Perspektiven der Eurozone nicht nur auf wirtschaftlicher Ebene sehen, sondern fundamental im Bereich der Beziehungen zwischen den Staaten, die sie ausmachen, insbesondere Deutschland.

Der deutsche Versuch,
Europa zu hegemonisieren

Die aktuelle Krise präsentiert eine in einer Generation einmalige Möglichkeit für die deutsche Bourgeoisie, in ihrer strategischen Ambition einer integrierteren Politik der EU unter ihrer Führung voranzuschreiten. Merkel versucht zu erreichen, dass die hoch verschuldeten Regierungen Südeuropas ihre Vorhaben akzeptieren, indem sie den BürokratInnen in Brüssel eine größere Kontrolle über die nationalen Haushalte gewähren. Ihr Ziel ist es, neben der Schaffung von Bedingungen für die Zahlung der Schulden eine breite Umstrukturierung dieser Wirtschaften im Dienste des deutschen Kapitals und der stärksten transnationalen europäischen Kapitale oder durch Investitionen in diese durchzusetzen. Mit der Kontrolle der Staatsausgaben versucht sie, den Anteil dieser, der auf den Konsum und die Aufrechterhaltung sozialer Errungenschaften, die noch vom sogenannten Wohlfahrtsstaat übrig sind, und anderer unproduktiver Bereiche gerichtet ist, zu verringern, um die Investitionsbedingungen zu verbessern. Auch wenn es die deutsche Bourgeoisie ist, die am meisten auf einen Ausweg in diese Richtung drängt – als Ausdruck ihres wirtschaftlichen und in immer größerem Maße politischen Gewichts –, wird diese qualitative Umwandlung der Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital in Europa von allen Sektoren der europäischen Großbourgeoisie und des transnationalen Kapitals mit Investitionen in Europa unterstützt. Durch offenen politischen Druck und Einmischung, und mittels der Peitsche der Finanzkrise, versucht die deutsche Regierung, den Regierungen dieser Länder harte Verpflichtungen aufzuerlegen.

Die Offensive der deutschen Vorherrschaft destabilisiert die komplexe europäische Struktur und eröffnet einen vielleicht unüberbrückbaren Riss zwischen den Ländern Nord- und Südeuropas mit unvorhersehbaren Konsequenzen.

Aber die deutsche Politik destabilisiert gleichzeitig den deutsch-französischen Motor. Seit ihren Ursprüngen war die französische Politik innerhalb der Eurozone und der EU von einem Hauptziel geleitet: Deutschland einzudämmen. Seit dem Beginn der Krise hat Frankreich sich selbst, gemeinsam mit Deutschland, als Co-Führer Europas gesehen, und in gewisser Weise hat die Staatsschuldenkrise dabei geholfen, dass Paris dieses Bild ausstrahlt. Durch den gemeinsamen Ruf nach Sparmaßnahmen mit Deutschland, hat Paris gezeigt, dass seine Interessen sich mit denen Berlins deckten, wenn es um das Management der Finanzkrise in der Peripherie ging. Genauso wichtig war, dass Frankreich es geschafft hat, eine Art der Kontrolle der Krisenführung von den Händen Deutschlands zu erlangen. Dennoch sind die Interessen der angeblichen Co-Führung Europas nicht so deckungsgleich, wie sie einmal waren, wie die deutsche Ablehnung des Ziels von Hollande, den Fiskalpakt neu zu verhandeln, zeigt. Dieser wurde im Dezember 2011 von 25 Mitgliedsstaaten der EU adoptiert, um den Euro zu retten. Auch wenn ein plötzlicher Wechsel in der deutsch-französischen Beziehung unwahrscheinlich ist, werden sich die Unterschiede zwischen beiden immer offener zeigen.

Der letzte Grund, der eine schnelle und untraumatische Lösung der europäischen Krise verhindert, ist, dass diese die Vorherrschaft des Nationalstaates wieder hervorgebracht hat. Die Existenz dieses großen Hindernisses, welches mit der Entwicklung der Produktivkräfte kollidierte, die schon vor langer Zeit seinen Rahmen und seine Grenzen durchbrachen und im 20. Jahrhundert zu nicht weniger als zwei Weltkriegen führte, war und ist die Grundlage, warum die MarxistInnen immer gesagt haben, dass die europäische Vereinigung durch die imperialistische Bourgeoisie utopisch ist. Heute hat sich diese Idee leider in eine harte Realität verwandelt.

Die Schaffung der EU versuchte auf ihre Art und Weise, diesen Widerspruch zwischen dieser Reliquie der Vergangenheit, dem Nationalstaat, und den Produktivkräften zu überwinden. Während die Fragen der Sicherheit weiterhin der NATO und den USA vorbehalten blieben, war das Ziel, vom wirtschaftlichen Reichtum zu profitieren und den Markt zu regulieren, indem eine zentrale Bürokratie etabliert wurde, die den Nationalismus überwinden konnte, ohne die nationale Identität zu unterdrücken. Dieses Projekt, welches immer voranstolperte und welches nach der imperialistischen Einigung Deutschlands mit der Schaffung der EZB und dem Euro neu ausgerichtet wurde, kollidiert heute mit der Notwendigkeit, in anderen Bereichen voranzuschreiten (Fiskal- und Haushaltspolitik, Wettbewerbsfähigkeit etc.), in denen niemand freiwillig Souveränität aufgeben will, da diese Bereiche nicht nur für die Massen jeden Landes, sondern auch die nationalen Bourgeoisien dieser Länder Leben oder Tod bedeuten. Daher können wir sagen, dass mit dem Ende der Prosperität ein wichtiger Teil der Rechtfertigung der EU verdampfte, und dass daher die Konflikte wiedererstehen werden.

Ein Ausdruck des Gesagten ist, dass die politischen und geopolitischen Fundamente, die die Einführung des Euro und die Entwicklung der EU stützten, sich verändern. Die imperialistische Wiedervereinigung Deutschlands 1990 verursachte eine dynamische Periode geopolitischer Veränderungen in Europa, vergleichbar vielleicht mit dem, was seinerseits die deutsche Einigung unter Bismarck 1871 bedeutete. Nicht nur, weil Deutschland sich in die größte demographische und wirtschaftliche Macht der Region verwandelte, sondern auch, weil es eine autonomere Außenpolitik begann. Zusammen damit ergeben sich andere Phänomene, wie eine Serie von Entwicklungen in Europa, wie die Schwächung der NATO nach dem Verschwinden der UdSSR, die ihren Zusammenhalt stützte. Die Schwächung der politischen und geopolitischen Bindungen, die zur Schaffung der EU führten, können zu ihrer Auflösung führen. Heute könnte der Fakt, dass es für Deutschland vielleicht wichtiger ist, seine Verbindungen mit dem Zentrum der EU und Zentraleuropas zu halten als die mit den peripheren Ländern wie Spanien[5], Deutschland dazu veranlassen, einen regionalen Ausweg zu suchen. All diese Widersprüche von großer Tragweite zeigen sich in der aktuellen Krise, besonders in der Unentschiedenheit Deutschlands, in der Auflösung der Ungleichgewichte zwischen Nord- und Südeuropa voranzuschreiten.

Für Deutschland ist die EU sowohl politisch wie wirtschaftlich überlebenswichtig. Auf politischer Ebene bestimmt die EU und die Kontinuität der Politik der Nachkriegszeit seine Beziehung mit Frankreich, während sie auch als ein Mittel wirkt, sicherzustellen, dass das nationale Interesse ähnliche Konflikte wie in der Vergangenheit generiert. Auf wirtschaftlicher Ebene exportiert Deutschland als zweitgrößter Exporteur der Welt zwar in viele Länder, aber Europa ist sein kritisch wichtiger Klient. Wie wir schon gezeigt haben, half die Einführung des Euro den deutschen Exporten und Investitionen, außerdem gaben die Regulationen Brüssels dem deutschen Kapital Vorteile, die seinerseits durch seine Fortschritte in Osteuropa verstärkt wurden.

Die Europäische Union, so wie sie zwischen 1991 und 2008 existierte, war fundamental für Deutschland. Aber diese Funktionsweise der EU wird durch die Krise in Frage gestellt. Der Versuch, eine verstärkte Hegemonie in der EU durchzusetzen, ist längst keine sichere Wette. In diesem Rahmen kann strategisch nicht ausgeschlossen werden, dass Deutschland nach möglichen schweren wirtschaftlichen und politischen Erschütterungen eine andere Variante wählt. Wir haben gesehen, wie die Semikolonisierung Osteuropas zu seinen Gunsten und dessen Integration in den deutschen Produktionszyklus ein großer Vorteil für den deutschen Imperialismus war. In diesem Sinn könnte der Sprung von Quantität zu Qualität in den momentanen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland dem deutschen Imperialismus ein weites Feld eröffnen: Die Beziehung zwischen Deutschland und Russland existiert bereits und vertieft sich. Wenn die EU unhaltbar wird, könnte Deutschland eine Semikolonialisierung Russlands anstreben. Diese beiden Nationalstaaten und -Bourgeoisien könnten sich in ihren demographischen, technologischen, rohstofflichen und wirtschaftlichen Eigenschaften ergänzen. Die bereits existierenden Versuche zur Schaffung jeweils eigener „Einflusszonen“ in Europa und und Zentralasien könnten gemeinsam einen Block stellen, der zunehmende Autonomie gegenüber dem US-Imperialismus erlangen könnte.Wenn sich die EU stark schwächt, könnte Russland sich in den offensiven Fokus des deutschen Kapitals und des deutschen Imperialismus verwandeln.

Fußnoten

[1]. Wir veröffentlichen hier Auszüge aus einem sehr viel längeren Dokument von Juan Chingo. Die vollständige Fassung gibt es bald auf: klassegegenklasse.org.
[2]. Die OECD klassifiziert die industrielle Produktion in vier Kategorien: „Hochtechnologie“ (Informatik, Informationstechnologien, Pharmazie, optische und Präzisionsinstrumente etc.), „mittel-hohe Technologie“ (Chemie ohne Pharmazie, Produktionsgüter, Automobilproduktion, Transportmaterial etc.), „mittel-niedrige Technologie“ (Kautschuk und Plastik, Metalurgie, Schiffbau und -reparierung, etc.) und „niedrige Technologie“ (Textil, Leder und Schuhe, Zellulose und Papier, Nahrungsmittel- und Landwirtschaft, Getränke, Tabak).
[3]. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 23%, d.h. momentan sogar höher als in Griechenland. Aber mehr als die Hälfte der Jugendlichen (mehr als 51%) haben keine Arbeit, wodurch eine verlorene Generation entsteht, die von den wirtschaftlichen Problemen Spaniens am meisten getroffen wurde. Die Gesamtzahl der Arbeitslosen hat fünf Millionen überschritten, und bei den Unter-25-Jährigen hat sich die Arbeitslosenquote fast verdreifacht, verglichen mit 18% vor vier Jahren.
[4]. Zu den 500 Milliarden Euro, die der Fonds schon hatte, kommt bereits versprochenes und noch nicht übergebenes Geld für Griechenland, Portugal und Irland – 200 Milliarden Euro – sowie 100 Milliarden Euro, die in Griechenland schon ausgegeben wurden. Daher kommt die Zahl von 800 Milliarden Euro, obwohl es frisches Geld für eine mögliche Rettung der ialienischen oder der immer sorgenerregenderen spanischen Wirtschaft nur im Umfang von 500 Milliarden Euro gibt, in jedem Fall nicht ausreichend, da Spanien und Italien zwischen 2012 und 2013 bis zu 1,2 Billionen Euro öffentlicher Schulden refinanzieren müssen.
[5]. Zum Beispiel ist allein der deutsche Handel mit Polen und Tschechien größer als der Handel mit Spanien, Griechenland, Irland und Portugal zusammen, zum Großteil aufgrund der Integration dieser beiden Länder als Relokalisierungsbasis der deutschen Firmen.

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