Im Klammergriff des IWF: Wie unabhängig ist die Ukraine?
Die westlichen Regierungen geben vor, die Unabhängigkeit der Ukraine zu verteidigen. Mithilfe des IWF halten sie sie aber in finanzieller Abhängigkeit und unterwerfen sie dem westlichen Imperialismus.
Seit den Maidanprotesten 2014 und dem damit einhergehenden Wechsel der geopolitischen Orientierung der Ukraine ist diese eine der führenden Kreditnehmer:innen des internationalen Währungsfonds (IWF) geworden. Während der Ukraine vor 2022 „nur“ der IWF im Nacken saß, sind jetzt noch EU-Institutionen und einzelne Länder wie die USA und Großbritannien hinzugekommen. Alleine 2022 hat die Ukraine 113 Milliarden Euro an Zahlungen zugesagt bekommen, hauptsächlich von NATO-Staaten bzw. Ländern, die dem geopolitischen Westen zugeordnet werden. Woran liegt es, dass die Ukraine vor allem aus einem geopolitischen Lager Gelder erhält, und was ist ihr Zweck? Wird die Ukraine ihre Schulden jemals begleichen können?
Was ist der Internationale Währungsfond?
Der Internationale Währungsfond ist eine Institution, die 1944 gegründet wurde, um den Wiederaufbau des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg zu koordinieren und insbesondere die Währungen zu stabilisieren. Hauptaufgabe des IWF ist es, Kredite an Staaten herauszugeben, deren Währung instabil ist. Die bekommen die jeweiligen Staaten jedoch nicht geschenkt oder alleine unter der Auflage, diese mit Zinsen zurückzuzahlen. Stattdessen sind sie in der Regel an sogenannte „Strukturanpassungsprogramme“ gekoppelt. Deren Inhalt ist in der Regel die Privatisierung von öffentlichen Institutionen, die Kürzung von Sozialleistungen, die Liberalisierung des Bankenwesens oder die Streichung von Subventionen. Schaut man sich die innere Demokratie des IWF an – Stimmanteile werden anhand von Kapitalanteilen vergeben, was beispielsweise den USA und der EU ermöglicht, jeweils alleine sämtliche Entscheidungen mit einem Veto zu belegen – und betrachtet man die Tatsache, dass seit den 70er Jahren vor allem Halbkolonien und so gut wie nie imperialistische Staaten IWF-Kredite erhalten haben, wird der Zweck der Institution klar: Staaten, die sich in einer Krise befinden, werden gezwungen, ihre Wirtschaft so einzurichten, dass diese besonders gute Ausbeutung durch die USA, Großbritannien und die EU ermöglicht und Arbeiter:innen möglichst wenig Rechte und Ressourcen haben, um sich dagegen zu wehren. Der IWF ist somit ein Instrument des westlichen Imperialismus.
Der IWF und die Ukraine
Die Ukraine wurde 1992 Mitglied des IWF, relativ bald nach der Unabhängigkeit. Nach der kapitalistischen Konterrevolution der Sowjetunion erfuhr die Ukraine die zweitschwerste Krise aller Sowjetrepubliken nach Georgien. Bis 1997 verringerte sich das Pro-Kopf-Einkommen um fast 60 Prozent. Gleichzeitig befindet sich circa ein Viertel des weltweiten, besonders landwirtschaftlich ertragreichen Chernozem-Bodens in der Ukraine. Diese Kombination macht die Ukraine zu einem natürlichen Ziel des IWF, da diese sowohl Finanzhilfen benötigt als auch für den Westen interessante Ressourcen beherbergt. Obwohl die Ukraine schon früh Kredite beim IWF aufgenommen hat, änderte sich die Qualität der Strukturanpassungsmaßnahmen mit der geopolitischen Neuorientierung nach den Maidanprotesten. Auch wenn man nicht den Fehler machen darf, russische Investments in die Ukraine zu beschönigen, da diese auch nur erfolgten, um politische Kontrolle über die Ukraine zu erhalten, sorgte deren Verfügbarkeit vor 2014 dafür, dass die Ukraine mehrfach Strukturanpassungsprogramme nicht umsetzen und somit Kreditprogramme stornieren konnte. Nachdem zuletzt die Auszahlung des 2010 vom IWF an die Ukraine gewährten Kredits abgebrochen wurde, weil diese die mit dem Strukturanpassungsprogramm geforderten Sozialkürzungen nicht durchführen wollte, erfolgte 2014 der erste große soziale Kahlschlag auf Druck des IWF. In der Zwischenzeit gewährte Russland der Ukraine einen Kredit von 10,5 Milliarden Euro, der jedoch auch eingestellt wurde, weil der prorussische Janukowitsch abgesetzt wurde, der Bürgerkrieg begann und die Ukraine sich aufgrund der russischen Unterstützung der Separatist:innen geopolitisch endgültig Richtung Westen orientierte. Die Folgeregierung unter Arzenjuk nahm daraufhin einen Kredit in Höhe von 13 Milliarden Euro auf, für den die Ukraine den damaligen Mindestlohn von 74 Euro im Monat (!) für ein Jahr eingefroren, die Subventionierung des Gaspreises bei Endverbraucher:innen gestoppt und den Preis sogar noch um über 50 Prozent erhöht hat, neben einer drastischen Erhöhung der Mehrwertsteuer.
Um auf die fruchtbaren Böden zuzugreifen, zwang der IWF 2020 die Ukraine mit einer Landreform, den Handel von Landstücken ab 2024 zuzulassen. Dies war vorher seit 2001 verboten, womit die Regierung auf die massive Konzentration von Ackerland auf einzelne Konzerne und die Verdrängung von Landwirt:innen durch das Agrobusiness reagiert hatte. Im Bericht der Weltbank über die „Herstellung von Märkten in der Ukraine“ wird dieses Phänomen explizit angestrebt. Man erhoffte sich die Erhöhung des Bruttoinlandsproduktes um ein bis zwei Prozent, indem „Produzent:innen geringeren Werts“ den Markt verlassen und „Produzent:innen höheren Werts“ dafür in den Markt einsteigen.
Ein weiterer Weg, mit dem der IWF die Ukraine westlichen Investitionen gegenüber öffnet, sind Anti-Korruptionsmaßnahmen. Auf den ersten Blick mag es sinnvoll klingen, dass man „unfaire Klüngeleien“ beenden will, jedoch ist die Konsequenz von Anti-Korruptionsmaßnahmen, staatliche Interventionen zu unterbinden und damit eine Schrittweise westliche Übernahme des ukrainischen Binnenmarktes voranzutreiben. Ein Beispiel dafür ist die Website Prozorro („Transparenz“). Auf dieser Website werden sämtliche staatliche Ausschreibungen der Ukraine geregelt, sogar militärische. Die sowieso schon gebeutelte ukrainische Wirtschaft kann in vielen Fällen nicht mit der internationalen Konkurrenz mithalten, was dazu führt, dass ein immenser Teil der Ausschreibungen an ausländische Konzerne geht. Zum Vergleich: In der Ukraine werden 40 Prozent der staatlichen Ausschreibungen von ausländischen Konzernen bedient, während es in den USA und der EU zwischen fünf und acht Prozent sind. Der IWF sorgt so nicht nur für eine beständige Verschuldung der Ukraine, sondern auch für ein geringes Wirtschaftswachstum und eine daher rührende fortgesetzte Abhängigkeit.
Stark gestiegene Verschuldung seit dem Krieg
Mit dem Einmarsch Russlands im Februar 2022 hat sich die finanzielle Situation der Ukraine noch weiter verschlechtert. Zur sowieso schon prekären Situation kommen massive Zerstörungen der Infrastruktur und die Umstellung auf Kriegswirtschaft hinzu. In diesem Zuge hat die Ukraine nicht nur weitere IWF-Kredite aufgenommen, sondern sich auch noch zusätzlich bei EU-Institutionen wie der europäischen Investmentbank und mit bilateralen Krediten mit Ländern wie den USA, Kanada, Japan und Deutschland verschuldet.
Die Konsequenz davon ist eine noch radikalere Politik gegen Arbeiter:innenrechte der ukrainischen Regierung. So erließ die Selenskiy-Regierung 2022 ein Gesetz, dass für Unternehmen von einer Größe von bis zu 250 Angestellten sämtliche Arbeiter:innenrechte beseitigt. Dies bedeutet beispielsweise, dass es für Unternehmen dieser Größte künftig keine Tarifverträge mehr gibt und jeder Vertrag individuell ausgehandelt wird, und dass auch jeglicher Kündigungsschutz verfällt und Angestellte grundlos entlassen werden können. Laut dem Arbeitsrechtsanwalt George Sandul wird es auch künftig möglich sein, beliebige Inhalte in Arbeitsverträge zu schreiben, wie etwa eine 100-Stunden-Woche. Diese Regelungen betreffen nun rund 70 Prozent der ukrainischen Arbeiter:innenklasse. Als wäre das nicht genug, geht der ukrainische Staat auch hart gegen die Gewerkschaften selbst vor und beschlagnahmte unter Vorwänden Gewerkschaftseigentum im Wert von 200 Millionen Euro.
Wie sich deutlich zeigt, ist die Ukraine von den westlichen Geldgeber:innen vollständig abhängig und muss bedingungslos deren radikale Neoliberalisierungsprogramme umsetzen. Dabei besteht für die Ukraine alleine aufgrund des angehäuften Schuldenberges schon eine bittere Prognose: Laut einem Working Paper der Rosa-Luxemburg-Stiftung wird die Ukraine selbst im Rahmen dieses radikalen antisozialen Kahlschlags nicht in der Lage sein, gegenüber ihren Gläubiger:innen zahlungsfähig zu sein, und die bestehenden UN-Regularien qualifizieren die Ukraine auch nicht für einen Schuldenschnitt.
Anstatt jedoch, wie es der Autor des Papers vorschlägt, komplizierte Anpassungen völkerrechtlicher Verträge zu fordern und letzten Endes die Ukraine der Gnade von USA und EU zu überlassen, von denen man bereits weiß, in welch hohem Bogen sie die Peitsche gegen die ukrainischen Arbeiter:innen schwingen, braucht es den internationalen Kampf der Arbeiter:innenklasse in Solidarität mit der Ukraine. Alle Antikriegsmobilisierung in den Ländern des IWF müssen den Schuldenschnitt für die Ukraine und die Umkehrung sämtlicher Strukturanpassungsmaßnahmen fordern. Es braucht jetzt gemeinsame Streiks in allen am Krieg beteiligten Ländern, damit aus der Ukraine sowohl die russischen Soldaten als auch die westlichen Finanzhaie abziehen, um der Ukraine Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zu ermöglichen.