Ich stelle mir meine Mutter mit einer Kalaschnikow im Arm vor

28.12.2022, Lesezeit 7 Min.
Gastbeitrag

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Milan Sommer / Shutterstock.com

Drei Geflüchtete Ukrainer:innen, die in den alten Zimmern von meiner Schwester und mir wohnen, eine ukrainische Flagge, die von innen gegen die Fensterscheibe geklebt wurde, meine Mutter, die mir eins ihrer Portraits zeigt, die sie malt: ein schönes junges Mädchen, ihre Hose in den Farben der ukrainischen Flagge, im Hintergrund die russische Flagge, deren rote Farbe sich als Blut auf den Boden ergießt. Dann: Meine Mutter zum ersten Mal auf einer Demo in Deutschland, eine Demo um den Ukraine-Krieg natürlich; Demos zu Kurdistan, Armut oder Polizeigewalt existieren für sie nicht.

Es ist der 24. Februar 2022, der das auslöste. Die westliche Medienlandschaft wütet um den Angriff auf die Ukraine als ein Angriff auf die westliche Wertegemeinschaft. Olaf Scholz sagt „Mit jedem Tag, mit jeder Bombe entfernt sich Russland mehr aus dem Kreis der Weltgemeinschaft, die wir miteinander bilden.“ Es bleibt die Frage, welcher Kreis gemeint ist, wer über die Aufnahme in diesen und seine Spielregeln bestimmt.

Die Bilder und Schlagzeilen hageln ein. Es wird das Bild gezeichnet, von Putin als dem wahnsinnig gewordenen Herrscher, der sich willkürlich und aus dem Bauch heraus eine kleinere, wehrlose Nation einverleiben möchte. Die friedlichen Nachbarn sind fassungslos über die Unmenschlichkeit, die sie angeblich selbst nicht kennen. Es folgen Sanktionen, harte Drohungen und eine geschlossene Solidarität gegenüber der Ukraine durch die imperialen Großmächte USA und Europa. Der Ruf nach Waffenlieferungen wird laut und durchzieht die Nation, ein Teil der radikalen Linken fordert nun sogar Burgfrieden: Geschlossenheit mit den bürgerlichen Parteien gegen den „bösen Russen“?

Ich rede mit meiner Mutter über Russland, den Westen und den Kapitalismus. Sie sagt, alles ist besser als Kommunismus. Sie habe ja angeblich im Kommunismus gelebt damals, sie wisse was das ist: Kommunismus heißt, allen geht es gleich schlecht. Sie redet nicht viel mit mir über die Sowjetunion, eins der wenigen Dinge, die ich weiß, ist, dass sie in der Schule gelernt hat, wie man eine Kalaschnikow zusammenbaut. Ich stelle mir meine Mutter mit einer Kalaschnikow im Arm vor, wie sie sich schützend vor die Fensterscheibe mit der Ukraine-Flagge und den drei Geflüchteten stellt, ich stelle mir vor, wie das Mädchen auf dem Bild, das sie malt, eine Kalaschnikow in der Hand hält. Ich denke an den Titel eines der Bücher von Jörg Kronauer: „Ukraine über alles!“

Es ist eine tiefe Rauheit in der Stimme meiner Mutter, wenn sie von ihrer Jugend erzählt. Da ist das kleine Zimmer, das sie sich in ihrer Studienzeit mit drei anderen teilen musste, da ist die litauische und russische Sprache, die sie mir nicht beibrachte, als ich klein war, weil sie dachte, ich könnte sonst vielleicht nicht richtig deutsch sprechen. Da ist der zerbrochene Traum einer klassenlosen Gesellschaft, der nicht wahr geworden ist.

Es ist auch das Studium aus ihrer Sowjetzeit, das in Deutschland zu Teilen nicht anerkannt wurde, als sie hierher kam, endlich ohne die Armut, dem Alkoholikervater und der Engstirnigkeit des Dorfes, in dem sie aufwuchs. Ich spüre Scham in ihrer Stimme.

Nun ist es ihr Misstrauen gegenüber allem, was den Hauch einer roten Idee und den Wunsch nach einer sozialistischen Gesellschaft umgibt. Nun ist es ihr Glaube an den Westen: An die NATO als ein Verteidigungsbündnis, das uns vor dem „bösen Russen“ bewahren wird. An das Versprechen, durch genug Arbeit und Aufstieg Glück zu erlangen, durch Geld, durch einen Platz, an dem man der Gesellschaft dienen kann. Ihr Glaube, dass es eine gute Gesellschaft im Jetzt gibt, in der mein Aufwachsen gelingt. Wäre es ein Verrat, ihr zu sagen, dass diese nicht mein Platz ist?

Denn auch wenn Russland die Ukraine angegriffen hat, wird der kapitalistische Westen nicht zum Freund der radikalen Linken. Die historische Quelle des Imperialismus ist der Westen. Er hat die Spielregeln etabliert, nach denen die Weltgemeinschaft funktioniert. Dies ist in keinster Weise und niemals eine Rechtfertigung für das, was in der Ukraine passiert. Aber es ist die Ermahnung dafür, dass nicht vergessen werden darf, dass der Feind im eigenen Land steht.

Die Illusionierung eines „guten Westens“ resultiert aus eben jener Naivität, die auch Grund für die Annahme ist, man könnte Krieg mit Imperialismus zurückdrängen. Selbst wenn die russische Armee vollständig aus der Ukraine zurückgedrängt würde, wäre keine Etablierung eines friedlichen Weltsystems in Sicht. Diese kann nur mit der Abkehr von Imperialismus und Kapitalismus stattfinden. Somit sollte die Debatte um den Krieg nicht in den Fokus stellen, auf der Seite welcher Nation man denn nun steht – sondern dass es notwendig ist, sich antiimperialistisch zu positionieren. Diese Haltung beinhaltet sowohl die Ablehnung der imperialistischen NATO als auch die des russischen Chauvinismus.

Es ist möglich, den Westen und die Etablierung seines ekelhaften ausbeuterischen Wirtschaftssystems in Frage zu stellen, ohne eine pro-russische Haltung einzunehmen. Ebenso ist es möglich, sich gegen Waffenlieferungen zu stellen und faschistische Strukturen in der Ukraine zu benennen, ohne „Putin-Versteher“ zu sein. Wo ist die sogenannte „Differenziertheit“ der Demokratie und die „lebendige Diskussionskultur“? Willkommen in Deutschland – dem Zentrum der Demokratie, wie wir alle wissen.

Dieses Zentrum der Demokratie preist nun auch grenzenlose Solidarität mit ukrainischen Geflüchteten an, während es alles dafür gibt, keine anderer Nationen aufzunehmen und Waffen an die Türkei schickt, während Kurdistan angegriffen wird. Wo ist hier der Aufschrei der westlichen Wertegemeinschaft, wo sind die zahlreichen Demos und Solidaritätsbekundungen? Die Frage der Solidarität speist sich ganz klar aus Fragen um Nationen und Macht. Russland ist nicht nur Feind, weil es die Ukraine angreift, sondern auch, weil es schon seit Jahrzehnten eine Bedrohung für den westlichen Machtblock und eine Blockade zur Ausdehnung seiner Einflusssphäre ist. Auch aus diesem Grund stehen die USA und Deutschland nun Seite an Seite.

Es ist die Sehnsucht nach Stabilität und Sicherheit, die in den Köpfen der Menschen keimt. Sie ist nur verständlich. Der Westen versucht alles, um den Menschen eben jenes Gefühl zu geben, sie glauben zu lassen, auf der „guten Seite“ zu stehen und ihnen ein heimeliges Zuhause anzubieten. Meine Mutter hat dieses Zuhause für sich gefunden. Egal wie sehr ich meine Mutter liebe, mein Zuhause kann es nicht sein.

Es ist Krieg in der Ukraine und meine Mutter bekommt eine Chance, sich als Europäerin zu beweisen. Ich bin mir sicher, sie wäre stolz auf mich, würde ich anfangen, Ukrainisch zu lernen. Eher, als zu sagen, dass ich Kommunistin bin.

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