„Ich bin selbst schuld, dass ich krank bin.“
Im Kapitalismus werden wir ständig dazu gedrängt, uns anzupassen und nicht von der Norm abzuweichen. Abweichungen werden als Schwäche oder Versagen angesehen. Der Wert des Einzelnen wird über die jeweilige Leistung definiert. Wer nicht schon mit psychischen Erkrankungen in dieses kapitalistische System startet, läuft erst recht Gefahr im Laufe der Zeit an einer solchen zu erkranken.
Leid bedeutet einen riesengroßen Schmerz, eine Last, die man zu tragen hat. Wird einem vermittelt, das Leid als persönliches Versagen anzusehen, verschärft das den Schmerz zusätzlich. Es fördert Rückzug, Gefühle von Einsamkeit und Abgrenzung. Was erst einmal theoretisch klingt, ist für viele inklusive mir tägliche Realität.
Die DNA des Kapitalismus ist, dass nur die etwas wert sind, die auch etwas leisten. Druck, Selbstzweifel, Versagensängste, Konkurrenzdenken und Streit sind die direkten Folgen und resultieren nicht selten in einer Depression oder anderen psychischen Erkrankungen. Das Leid wird auf eine individualisierte Ebene verschoben, während die strukturellen Probleme des Systems ausgeblendet werden.
Nicht anders ist es in den Grundbausteinen einer Therapie. Ich möchte hier meine persönlichen Erfahrungen teilen, die ich machen musste und die mich auch heute noch zwingen, jeden Tag ums Überleben zu kämpfen.
Meine erste Therapie habe ich mit 13 Jahren begonnen und seit dem bin ich mit kurzen Unterbrechungen dauerhaft in Behandlung. Ich wollte mein Abitur nachholen, nach 4 Wochen Schule musste ich in einer Klinik aufgenommen werden, weil ich mit den Belastungen und den Anforderungen, die durch die Schule und die zusätzliche Aufgabe finanziell meinen Lebensunterhalt bestreiten zu müssen, nicht klargekommen bin.
Letzte Kräfte zu mobilisieren und nach Hilfe zu fragen und die anschließende Enttäuschung sollte noch ein sich wiederholender Kreislauf in meinem Leben werden. Ich musste mir immer wieder eingestehen, dass ich zu schwach bin und den Anforderungen aus Lohnarbeit und Überleben nicht gewachsen bin. Wenn ich versuche aufzuzählen, was ich allein in den letzten 4 Jahren für meine Gesundheit getan habe, werde ich traurig. Was ich alles gemacht habe, um gesund zu werden, um ein lebenswertes Dasein zu erreichen.Tiefenpsychologische Psychotherapie für Monate. Stationäre Klinikaufenthalte in mehreren Städten. Immer wieder für Wochen in ein Krankenhaus gehen. Besuche von Selbsthilfegruppen. 10 Wochen Recovery-Kurs, um widerstandsfähiger, resistenter zu werden. Kreativworkshops für einen anderen Blickwinkel auf die Erkrankungen. Jahrelang zum Psychiater gehen, Medikamente ausprobieren, Nebenwirkungen akzeptieren für die Hoffnung. Die Termine in einer Kontakt- und Beratungsstelle, weil es das einzige Angebot war, welches wirklich niedrigschwellig und kurzfristig zu erreichen war. Bücher, die ich gelesen habe. Erfahrungsberichte von Betroffenen, mit denen ich mich auseinandergesetzt habe. Gespräche mit Freunden bis in die Nacht hinein. Das meiste davon war mit wochen-, monate- und zum Teil jahrelangen Wartezeiten verbunden. Hoffnung, die aufkommt, wenn man eine neue Sache gefunden hat, die helfen könnte. Enttäuschung, wenn einem der Platz abgesagt wurde. Noch größer, wenn die Maßnahme nach erfolgreicher Teilnahme nur marginale Veränderungen bringt. Viele Stunden, in denen ich gearbeitet, gekämpft und doch nicht gewonnen habe.
Die individuellen Anstrengungen, die wir unternehmen, um gesund zu werden, sind oft mit langen Wartezeiten und Enttäuschungen verbunden. Überhaupt die Kraft aufzubringen, die Hilfe einzufordern, herauszufinden, an welche Stelle man sich wenden kann, ist für viele zu groß. Das System konzentriert sich darauf, uns leistungsfähig zu machen, anstatt unsere tatsächliche Gesundheit zu fördern. Es fehlt an ausreichenden Ressourcen und Unterstützung, um den Menschen in ihrem individuellen Leid gerecht zu werden. Es ist frustrierend, immer wieder die Botschaft zu hören, dass Krankheit das Ergebnis persönlichen Versagens sei. Die Realität ist jedoch, dass strukturelle Faktoren eine entscheidende Rolle spielen.
Aber warum kann es keine wirkliche Genesung im Kapitalismus geben? Die künstliche Verknappung von Therapieplätzen durch die gesetzlichen Krankenversicherungen ist das erste Problem. „Die Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkassen kommen ihrem gesetzlichen Auftrag nicht ausreichend nach, eine rechtzeitige Behandlung in der Regelversorgung sicherzustellen.“, bemängelte schon 2013 Prof. Dr. Rainer Richter, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer. Die Corona-Pandemie war ein Brennglas dafür und zeigt, dass 10 Jahre später keine nennenswerten Fortschritte erzielt wurden, der Bedarf steigt stetig. Wer reich ist, kann sich als Selbstzahler den Experten suchen und auch zeitnah eine Behandlung bekommen. Auf einen staatlich finanzierten Therapieplatz wartet man im Durchschnitt 5 Monate. Generelle Geldeinsparungen im Gesundheitssystem, Streichung der Gelder für private Träger verschärfen die Problematik weiter.
Das Ziel einer Therapie im Kapitalismus ist zumeist nicht die Gesundung, sondern die schnellstmögliche Wiedereingliederung in das System: Arbeiten gehen, Hausarbeit machen und Leistung bringen. Medikamente werden schnell verschrieben, Nebenwirkungen werden in Kauf genommen. Für persönliche und langfristige Therapie fehlen Mitarbeiter*innen in einem kaputtgesparten System. All das dient der Bekämpfung von Symptomen, nicht den Ursachen die krank machen oder hinderlich für eine Genesung sind.
Auch ich habe immer wieder in teils sehr verzweifelten Gespräche mit der Krankenkasse, dem Arbeitsamt oder der Rentenversicherung feststellen müssen, dass meine persönlichen Belange oder Vorstellungen nicht zählen. Ich hänge fest in einem Teufelskreis aus Versagen, Leid und Kämpfen. Sich Hilfe suchen, ewige Wartezeiten und eine Verschlechterung meines Zustandes in dieser Zeit akzeptieren, die schlussendlich in mangelnden „Erfolgen“ in meinen Therapien resultieren.
Mittlerweile beziehe ich Bürgergeld, meinen Job als Eventmanagerin konnte ich nicht mehr ausführen, die Pandemie und meine letzte Arbeitsstelle haben mir final das Genick gebrochen. Nun sitze ich hier, kann fast nicht mehr am sozialen Leben teilhaben, weil auch die finanziellen Mittel fehlen. Vereinsame mehr und fühle mich isoliert. Und doch will und kann ich die Hoffnung nicht aufgeben. Will und kann es nicht als mein persönliches Versagen anerkennen, das ich nicht funktioniere. Es ist nicht mein Versagen, wenn Therapie nur fern von Lebensrealitäten angeboten wird. Wenn die Ursachen, die Ungleichheit, die Armut und all das Leid der Menschen außer acht gelassen wird.
Therapeutische Angebote sind notwendig! Gleichzeitig müssen wir erkennen, dass unsere Probleme nicht aus unserem individuellen Versagen herrühren, sondern gesellschaftliche Ursachen haben. Psychologie und die Arbeit an uns selbst sind nicht der Schlüssel zum Glück. Indem wir laut werden, unsere Stimme erheben und diese Schuldzuweisung nicht akzeptieren, ermächtigen wir uns. Ich kämpfe für eine Welt, in der wir uns nicht künstlich anpassen müssen, um auch nur ein Stück dazugehören. Für eine Welt, in der jeder ein wertvolles Mitglied ist und seinen individuellen Beitrag einbringen kann.