„Ich bin nicht der Stellvertreter Lenins auf Erden“
Vor etwas mehr als 130 Jahren wurde der jüdische Revolutionär Karl Radek geboren. Würdigung eines Lebens voller Tiefen und noch mehr Höhen anhand des Romans „Radek“ von Stefan Heym.
Als Karl Bernhardowitsch Sobelson am 31. Oktober 1885 im heutigen Lwiw geboren wurde, konnte seine Mutter nicht wissen, dass er am Ende seines Lebens nicht weniger als vier Revolutionen erleben sollte. Und dies nicht bloß als Beobachter, sondern als Handelnder. Aus jüdischem Hause stammend, sollte er schon recht schnell den Weg eines Revolutionärs gehen – wie so viele seiner Angehörigen einer unterdrückten Minderheit. Dieser Weg sollte ihn an die Seite Lenins und Trotzkis bringen, ebenso Luxemburgs und Liebknechts; bevor er dann vor Josef Stalin kapitulierte und in den Moskauer Prozessen zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt wurde. 1939 sollte er in den Lagern unter mysteriösen Umständen umkommen.
Vor 20 Jahren zeichnete der Schriftsteller Stefan Heym dieses bewegende Leben in seinem Roman „Radek“ nach. Auf den 569 Seiten unternimmt der*die Leser*in eine atemberaubende Reise durch die Höhen und Tiefen von Revolution und Krieg, von Triumph und Zerstörung; um schließlich den Niedergang der Person Radeks als Hymnendichter Stalins entmutigend festzustellen. Der Roman, von Heym in acht Bücher unterteilt, skizziert dabei besonders die psychologischen Momente zwischen den Protagonist*innen um Karl Radek.
Vor dem Ersten Weltkrieg
Schon früh zeigt sich Radeks journalistische Brillanz. Da die deutsche Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg auf bis zu 61 Tageszeitungen kommt, schreibt er regelmäßige Beiträge. Besonders in seinen beißenden Polemiken gegen die Herrschenden um Kaiser Wilhelm II. zieht er den Hass des preußischen Militarismus auf sich. Aber nicht nur hier macht er sich Feinde. Auch der rechte Flügel der Sozialdemokratie um Friedrich Ebert gefällt der allzu offensive Ton Radeks nicht. Die Feindschaft derer, die im August 1914 die Arbeiter*innenklasse verraten und sodann die Saboteur*innen der Revolution sein sollten, hatte Radek schon früh. Es ist in diesem Sinne interessant, dass der Romancier Stefan Heym schon Jahre vor Ausbruch des Krieges folgende Worte in Radeks Mund legt, die in einem Gespräch mit Karl Liebknecht fallen:
„Es ist das System, wenn ich Sie erinnern darf, von dem die Genossen leben, und nicht schlecht. Und welcher deutsche Sozialdemokrat wird da, wenn sie ihn rufen werden mit Hurra und Trompetenklang, Genosse Liebknecht, und ihm das Gewehr in die Hand drücken fürs Vaterland, das teure, ein schlechterer Patriot sein wollen als sein Nachbar?“
Karl Radek jedoch schließt sich nicht dem Sozialchauvinismus der Sozialdemokratie an. Da er zu dem Zeitpunkt österreichisch-ungarischer Staatsbürger ist, müsste er eigentlich als Kanonenfutter für die Mittelmächte dienen. Stattdessen zieht er die Flucht in die Schweiz vor – und trifft Lenin.
An der Seite Lenins und Trotzkis
Zusammen mit anderen Kriegsgegner*innen beteiligt er sich an der Zimmerwalder Konferenz. Auf dieser Konferenz – als kleine Anekdote von freilich höchster Bedeutung sei vermerkt – stehen zwei Entwürfe zur Auswahl: jenen anti-imperialistischen befürwortet von Lenin, Trotzki und Radek und den anderen maßgebend von Georg Ledebour und Alphonse Merrheim. Letzterer schien die Mehrheit zu kriegen, selbst Trotzki schien nachzugeben, nicht aber so Lenin. Nahezu von der gesamten Konferenz angegriffen, verteidigt er sich – während Radek still im Hintergrund ist.
„Lieber lassen Sie alles auffliegen!“ [Robert] Grimm, ein zürnender Jupiter, erhob sich. „Lieber spalten als einmal, ein einziges Mal, Einsicht zeigen – nicht, Genosse Lenin?“
„Einsicht!“ Lenin schlug mit der Faust auf die Armlehne seines Stuhls. „Einsicht in was? Es geht hier nicht um irgendwelche taktischen Tricks! Es geht um die Revolution und den Sozialismus und“ – dieses leiser, ein Nachgedanke schon – „und um den Frieden.“
Und zu Radek, „So sagen Sie doch etwas, Mann! Es ist doch ihr Manifest, für das ich mich prügle!“
Nach drei Jahren Exil in der Schweiz sitzt Lenin im berühmten, „plombierten“ Zug, der ihn und andere Revolutionär*innen nach Petrograd bringen sollte. Aber nicht Radek. Dieser sollte in Stockholm bleiben, um von dort aus die Partei der Bolschewiki im Ausland zu vertreten … und in Artikeln en masse die Revolution zu predigen. Als Trotzki sodann im Oktober den Aufstand glänzend organisiert, verweilt Radek immer noch in der schwedischen Hauptstadt, bevor er sich zum Jahreswechsel 1917/18 der Delegation der Bolschewiki in den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk anschließen sollte. In Heyms Roman kommen die Debatten zwischen Radek und dem deutschen Generalstab vorzüglich zum Ausdruck. Der*die Leser*in findet darin ein großes Vergnügen, wie Radek vor den Augen der verstockten Generäle Flugblätter an die deutschen Soldaten verteilt.
Experte für deutsche Angelegenheiten
Eben jene deutschen Arbeiter*innen und Soldaten sollten dann im November 1918 die Macht übernehmen. Radek, der seit jeher eng mit den deutschen Spartakist*innen wie Liebknecht oder Rosa Luxemburg vertraut war, schließt sich der deutschen Revolution an. Allerdings erkennt er schnell, dass die Revolutionär*innen nicht sehr zahlreich und stark sind – weil es ihnen an einer revolutionären Partei mangelt. Als Liebknecht und Luxemburg grausam ermordet werden, kann Radek, der dem Tode in diesen Tagen mehrmals ins Auge sieht, noch einmal entkommen. Gleichwohl wird er von der Gendarmerie gefasst und kommt ins Gefängnis in Berlin-Moabit.
Da er gleichzeitig offizielle Ämter des neuen Sowjetstaates bekommt, wird er zum Zeitpunkt des sowjetisch-polnischen Krieges aus der Haft entlassen und kann nach Moskau zurückkehren. Die Revolution hat da den Bürger*innenkrieg gewonnen, und Radek verfasst eine höchst sympathische Eloge auf den „Organisator des Sieges“, wie er ihn nennt – Leo Trotzki. Auf diese Art von Laudatio werden wir noch zu sprechen kommen.
Doch während die russische Oktoberrevolution siegreich war, kam es nicht zum erhofften „Deutschen Oktober“ 1923. Da Radek anerkannter Spezialist für deutsche Fragen in der Komintern war, fuhr er unter falschem Namen wiederum nach Deutschland, um dieser Revolution zum Sieg zu verhelfen. Aber seine Rolle in dieser Hinsicht bleibt in diesem Roman eher dunkel. Das fünfte Buch im Roman ist eben den Ereignissen im Oktober ´23 gewidmet; der*die Leser*in erblickt allerdings die sensualistische Darstellung seiner Liebe Larrissa Reissner. Was wirklich zum Scheitern dieses geplanten Aufstandes geführt hat, erblickt der*die Leser*in hier nicht. Passend erfährt auch Radek im Roman aus der Zeitung vom gescheiterten Aufstand.
Linke Opposition und Kapitulation
„Radek ist einer meiner nächsten politischen Freunde. Das ist durch die Ereignisse der jüngsten Periode genügend besiegelt worden. In den letzten Monaten jedoch haben verschiedene Genossen mit Besorgnis Radeks Entwicklung verfolgt, die ihn vom äußersten linken Flügel der Opposition auf ihren rechtesten Flügel geschoben hat.“
Karl Bernhardowitsch Radek war nicht nur ein hervorstechender Journalist, sondern ebenso ein Revolutionär mit bemerkenswerter politischer Antizipation. Dass er in politischen Fragen oft genug mit Lenin oder Trotzki übereinstimmte und einer der fähigsten Bolschewiki der Partei war, braucht nicht näher untersucht zu werden. Nach einer weiteren Niederlage einer Revolution – der zweiten chinesischen von 1925-27 – überarbeitete Leo Trotzki seine Theorie der permanenten Revolution. Im Zuge dessen entstand in der Verbannung im kasachischen Alma-Ata seine Schrift „Die permanente Revolution“ von 1929. Diese Schrift dehnt nicht nur die Konzeption der permanenten Revolution auf die gesamte Welt aus (die ursprüngliche Fassung Trotzkis umfasste nur Russland), sondern ist wohl einer der schärfsten Polemiken überhaupt – gegen Karl Radek. Was war geschehen?
Viele gestandene Revolutionär*innen der Linken Opposition waren von Stalin nach dem XV. Parteitag aus der Partei ausgeschlossen und quer über die Sowjetunion verteilt in entlegene Orte verbannt worden. So auch Radek ins öde Tobolsk. Nach dem Schwenk der Stalinist*innen in der Politik, die ab 1929 eine hysterische Industrialisierung und Kollektivierung der Ländereien einleitete, kapitulierten nicht wenige Mitglieder der Linken Opposition vor der Stalinbürokratie, weil die Generallinie der Politik eine richtige war. Leider sollte auch Karl Bernhardowitsch unter diesen Menschen sein. Im Roman wird der Eindruck konstruiert, als sei sich Radek dieser „Taktik“ bewusst gewesen und habe nun versucht, von innen die Bürokratie zu bekämpfen.
Als Redakteur der Iswestija schreibt er fortan nicht nur boshafte Artikel gegen Trotzki ohne inhaltliche Grundlagen … sondern leitet vor allem mit seiner 1934 massenhaft abgedruckten Broschüre, Der Baumeister der sozialistischen Gesellschaft, die Vergöttlichung Stalins ein. Hieraus zu zitieren, wäre geradezu peinlich; mit so vielen Lügen und fantastischen Hymnen auf Stalin ist der Text verpackt. Zu erwähnen ist noch die These hauptsächlich des Autors Stefan Heym, der während einer langen Passage zur Entstehung der Broschüre die Gedanken Radeks stilisiert, dass Radek diesen Text gemeinhin als versteckte List entworfen habe, um Stalin unbemerkt zu persiflieren. Es ist allerdings zweifelhaft, ob er dies durch seine Broschüre machen konnte, die zur Hunderttausenden in den Betrieben verteilt werden sollte.
Moskauer Prozesse und Tod
Sieben Jahre sollte er Redakteur der Iswestija bleiben und 1936 mit Nikolai Bucharin auch die „demokratischste Verfassung der Welt“ entwerfen. Es war aber schon zu spät. In den zweiten Moskauer Prozessen sollte er angeklagt werden. Auch diese Episode zeichnet Heym ästhetisch-detailliert nach.
In Radek verlor der internationale Kommunismus einen wichtigen Mitkämpfer, der letztlich mit der Revolution brach und Opfer des Stalinismus wurde. In den heutigen Kämpfen würdigen wir ebenso die gefallenen Kämpfer*innen des Kommunismus. Karl Radek gehört zu ihnen. Und seinen Humor, der in der ganzen Komintern geachtet und gefürchtet wurde, verlor er nie, selbst im höchst amüsant von Heym gekennzeichneten Zeitpunkt der Kapitulation vor Stalin nicht:
„Sie werden wieder für die Iswestija schreiben. Aber eines verbitte erbitte ich mir: die Witzchen, mit denen Sie Moskau zu erheitern pflegen, unterdrücken Sie von nun an, wenigstens soweit sie sich auf meine Person beziehen. Verstanden?“
Radek beugte das Haupt.
„Immerhin“, dies als Fußnote hinzugefügt, „bin ich der Führer der Weltrevolution.“
Radek wußte, die Antwort, die er dem Manne jetzt geben würde, war ein nie wiedergutzumachender Fehler, aber sie kam ihm aus tiefster jüdischer Seele, der Flamme gleich aus Moses´ Dornbusch, und würde sich nicht unterdrücken lassen: „DerWitz jedenfalls, Josif Wissarionowitsch“, sagte er, „ist von Ihnen.“