Ich bin depressiv – und trotzdem ein anständiger Revolutionär
Auf Tage voller politischer Aktivitäten folgen Tage der Depression, in denen es schwer ist, dass Bett zu verlassen. Unser Autor berichtet über das Leben als depressiver Revolutionär.
Anfang August war das Sommercamp von Klasse Gegen Klasse – und es war toll! Mit knapp 50 Genoss*innen konnte ich fünf Tage lang an vielen spannenden Diskussionen teilnehmen – über sexistische Gewalt, über autonome Ästhetik, über die „Gewaltfrage“…
Es war wirklich eine schöne Erfahrung. Aber in den Tagen danach war ich so erschöpft, dass ich sterben wollte. Ich meine das auch nicht metaphorisch: Ich war morgens bis abends mit so erdrückenden Schuldgefühlen beschäftigt, dass ich überzeugt war, dass nur der Selbstmord mich davon befreien könnte.
Vier Tage nach diesem Sommercamp war ich erstmals wieder auf einem politischen Treffen. Alle anderen Genoss*innen waren sichtbar motiviert, als sie über einen Arbeitskampf diskutierten. Doch ich habe komische Gespräche mit mir selbst geführt, und als ich etwas sagen wollte, habe ich einen Genossen angeschrien. (Er hat mir später verziehen: „Du sahst ganz schön fertig aus.“)
So bin ich nun mal
So bin ich nun mal, seit fast acht Jahren: Ich bin schnell erschöpft und kann nicht gut mit Stress umgehen. Ich leide unter Depression. Vor etwa zwei Jahren bin ich zum ersten Mal damit an die Öffentlichkeit gegangen. Und das tat gut. Für eine chronische Krankheit muss ich mich nicht schämen. Auch der Genosse David Doell hat mit einem langen Aufsatz über seine Erfahrungen als depressiver Antikapitalist reflektiert.
„Migräne“ habe ich manchmal wirklich. Aber etwa zwanzig mal öfter benutze ich das als Euphemismus, um nicht von Depressionen sprechen zu müssen. Aber warum sollte Migräne weniger peinlich sein als Depressionen? In beiden Fällen geht es um Fehlfunktionen im Gehirn, die sich nur unpräzise mit Medikamenten behandeln lassen. Einmal habe ich erzählt, dass ich wegen „Durchfall“ zu spät zu einem Termin komme. Ist Durchfall wirklich weniger peinlich?
Inzwischen kann ich ganz selbstbewusst sagen, dass ich depressiv bin – sogar bei der Arbeit. Meistens stoße ich auf Verständnis – und wenn nicht, dann fordere ich Verständnis ein.
Aus allen linken Gruppen
Als Reaktion auf meinen ersten Artikel habe ich viel positives Feedback bekommen – und zwar von Menschen aus praktisch allen linken Gruppen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben.
Ein typisches Gespräch mit jemandem aus einer anderen Gruppe lief so:
Andere Person: „Manchmal kann ich tagelang nicht aus dem Bett aufstehen.“
Ich: „Bei dem Bild, das du in der Öffentlichkeit abgibst, hätte ich mir das nie gedacht.“
Andere Person: „Bei dir doch auch nicht.“
Das erinnert mich an einen Spruch: Niemals sollte man das eigene Innere mit einem fremden Äußeren vergleichen. Als revolutionäre Aktivist*innen bemühen wir uns, immer stark zu wirken. Wir wollen Arbeiter*innen und Jugendliche ermuntern, für ihre eigenen Interessen zu kämpfen: „Wenn wir zusammen halten, dann können wir die Unterdrückung besiegen!“
Aber wir können nicht immer stark sein. Wir müssen nur unser Bestes geben, damit wir stark sind, wenn es darauf ankommt: Wir wollen einigermaßen funktionieren, wenn unsere Genoss*innen angegriffen werden. Dafür werden wir an anderen Tagen gar nicht klar kommen und sollten das akzeptieren. Und dazu ist es sogar nützlich, wenn wir über unsere Schwächen reflektieren und uns um uns selbst kümmern.
Als Revolutionär*innen denken wir oft an unsere Vorbilder. Aber waren sie wirklich an jedem Tag ihres Lebens stark? Rosa Luxemburg soll beim großen Verrat der SPD am 4. August 1914 zu heulen begonnen haben. Leo Trotzki zog sich beim Aufkommen der stalinistischen Bürokratie ab 1923 für einige Jahre in die Welt der Literatur und der Verwaltung zurück. Eugen Leviné, der Anführer der zweiten bayerischen Räterepublik, soll an manchen Tagen vor der Revolution Schwierigkeiten gehabt haben, sich nach dem Aufstehen anzuziehen. Auch das gehört zum Leben von großartigen Revolutionär*innen.
Trotzdem geschafft
Ich weiß, dass ich meinen Depressionen zum Trotz auch ziemlich coole Sachen geschafft habe. Einige Genoss*innen haben von mir gelernt, bessere Journalist*innen zu sein. Und einigen Arbeiter*innen konnte ich in ihren Kämpfen gegen Ausbeutung unterstützen. Ja, es ist echt ärgerlich, dass ich nach einer Anstrengung wie beim KGK-Camp dann gelähmt bin. Aber dabei darf man nicht vergessen, dass das Sommercamp richtig cool war.