Wirtschafts-Lockdown jetzt! Sonst droht Horror-Inzidenz wie in London
Das mutierte Coronavirus verursacht in London eine Inzidenz von 1.000. Die deutlich ansteckendere Virus-Variante wird sich auch in Deutschland durchsetzen. Alle nicht-lebensnotwendigen Wirtschaftszweige müssen endlich heruntergefahren werden, um einer katastrophalen Ausbreitung vorzubeugen. Dafür müssen die Arbeiter:innen mit Arbeitsniederlegungen den Lockdown erzwingen.
Mit dem mutierten Coronavirus B.1.1.7 begann eine neue Phase der Pandemie. Ersten Schätzungen zufolge verbreitet sich die neue Variante um 50 bis 70 Prozent schneller als die bisher bekannten. Zwar gefährdet sie den Einzelnen nicht mit einem schwereren Krankheitsverlauf. Sie begünstigt jedoch ein exponentielles Wachstum der Infektions- und damit auch Todesfälle. Im Süden Großbritanniens wütet der veränderte Erreger bereits heftig. London hat trotz vorheriger Kontaktbeschränkungen eine 7-Tages Inzidenz von 1.000 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner:innen erreicht. Der Bürgermeister Sadiq Khan hat den Katastrophenfall ausgerufen. Er schätzt, dass eine:r von 30 Einwohner:innen Londons derzeit infiziert ist. Zwischen dem 30. Dezember und dem 6. Januar stieg die Zahl der Patient:innen an Beatmungsgeräten um 42 Prozent. In den kommenden Wochen ist zu erwarten, dass die ohnehin schon hohen Zahlen in Großbritannien von über 1.000 Verstorbenen täglich weiter steigen.
B.1.1.7 Virus bereits in Deutschland
Die neue Variante des Virus wurde bereits in Deutschland bei Reisenden aus Großbritannien nachgewiesen. Zwar sind bisher nur Einzelfälle bekannt, doch kann nur bei einem Bruchteil aller positiv Getesteten untersucht werden, ob sie eventuell die mutierte Variante haben – so dürfte bereits eine gewisse Dunkelziffer existieren. In Dänemark wurde bereits zum Ende des letzten Jahres bei 2,3 Prozent der Infizierten die neue Mutation nachgewiesen. Darauf beruft sich Richard Neher, genetischer Epidemiologe vom Biozentrum Basel, mit seiner Prognose: die neue „Variante in Deutschland wird gegen Ende Januar, Anfang Februar so häufig sein, dass sie einen merklichen Einfluss auf die Fallzahlen hat“.
Der im November verhängte Lockdown, der im Dezember um die Schließung des Einzelhandels ergänzt wurde, hat in Deutschland lediglich das exponentielle Wachstum eingedämmt. Doch die Zahl der täglichen Neuinfektionen pendelt weiterhin zwischen 20.000 und 30.000. Die Zahl der an Covid-19 Verstorbenen reißt fast jeden Tag die 1.000er Marke. Dabei liegt die durchschnittliche Inzidenz in Deutschland bei 136. Der am stärksten betroffene Landkreis Meißen verzeichnet eine Inzidenz von 541 (Stand: 8. Januar). Mit den aktuellen Vorschriften, die zwar das Privatleben einschränken, die Menschen aber weiterhin zur Arbeit fahren lassen, sind auch in Deutschland Horror-Inzidenzen von über 1000 nicht auszuschließen.
Schon jetzt stehen nicht genug Personal und Beatmungsgeräte zur Verfügung, um alle Patient:innen zu behandeln. Die Berliner Charité etwa verkündete am 17. Dezember in den Notbetrieb umzustellen. So würden bei einer weiteren Verschlechterung der Lage die Todeszahlen unvermeidbar rapide steigen. Das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben käme vollends zum Stillstand.
Es ist also höchste Zeit, alle nicht-lebensnotwendigen Bereiche der Wirtschaft herunterzufahren. Die Kontakte in den Betrieben müssen drastisch gesenkt werden, um die Ausbreitung neuer und bereits bekannter Virus-Varianten zu bremsen. Marketingkampagnen oder Callcenter sind kein triftiger Grund, um Menschen weiterhin in Büros zusammen zu trommeln. Ebenso muss jegliche Produktion heruntergefahren werden, die nicht der täglichen Versorgung dient. Nichts rechtfertigt es, Tag für Tag weiterhin zehntausende Arbeiter:innen in eine Autofabrik zu beordern. Jeder Kontakt, der nicht unbedingt lebensnotwendig ist, stellt ein unnötiges Risiko da. Allein auf dem Weg zur Arbeit im ÖPNV oder bei Schichtwechsel besteht die Gefahr einer Ansteckung. Zudem ermöglichen nicht alle Betriebe eine Umsetzung der Hygienevorschriften.
Branchenverband Automotive: „Einen Opel kann man nicht im Homeoffice bauen“
Anfang Dezember kritisierten wir, den „oft widersprüchlichen und falschen Fokus“ der Corona-Maßnahmen. Die Regierung vertraut auf individuelle Einschränkungen, während die Produktion weiterläuft – so werden die Profite der Industrie nicht gefährdet. Diese Linie hält mittlerweile auch Bodo Ramelow von der Linkspartei nicht mehr für tragbar, nachdem er lange gegen wirtschaftliche Beschränkungen war. Der Ministerpräsident Thüringens, dessen Land besonders stark von Corona betroffen ist, räumte seinen Irrtum bei der Bewertung der Lage im November ein: „Alles, was nicht lebensnotwendig ist oder systemisch nicht abgestellt werden kann, hätte vier Wochen lang angehalten werden müssen.“ Weil dies nicht geschah, bräuchte es jetzt laut Ramelow eine komplette Pause. Zustimmung zu dieser Position kommt von Madeleine Henfling, parlamentarische Geschäftsführerin der Thüringer Grünen.
Seine Haltung wird von Vertreter:innen der Wirtschaft zerrissen. Rico Chemelik vom Branchenverband Automotive meint angesichts der wieder steigenden Autoexporte vor allem nach China: „In dieser Situation jetzt die Handbremse zu ziehen, wäre ein fatales Signal für die gesamte Branche. Einen Opel kann man nicht im Homeoffice bauen.“ Deutlicher lässt sich kaum ausdrücken, dass Profite über Menschenleben stehen. Der Chef der Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Dieter Kempf, warnte schon im November vor großflächigen Schließungen der deutschen Industrie. Diese würden „schwerste Gefahren für die ökonomische Gesundung im Jahr 2021“ darstellen.
Impfung versus Virus: ein Wettlauf um Leben und Tod
Auch die Bundesregierung will sich momentan nicht auf Betriebsschließungen einlassen. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte, man wolle zunächst die neu beschlossenen Kontaktbeschränkungen umsetzen, um die 7-Tages-Inzidenz deutlich zu senken. Warum die Infektionszahlen tatsächlich sinken sollten, obwohl die bisherigen Maßnahmen bestenfalls zu einer Stagnation führten, verriet er nicht – und nahm auch keinerlei Bezug zur Gefahr durch die neue Virus-Mutation.
Bisher setzte die Regierung darauf, die Fallzahlen zu begrenzen – jedoch nicht darauf, sie tatsächlich auf ein Minimum zu reduzieren. Die Hoffnung liegt auf dem Impfstoff, der das Problem mit der Zeit lösen soll. Eine zynische Rechnung, die für die Profite der Wirtschaft zehntausende Tote akzeptiert. Zwar wirken die Impfstoffe auch beim mutierten Virus aus Großbritannien. Doch gibt es eine weitere Mutation in Südafrika. Medizinprofessor Sir John Bell von der Universität Oxford hat diesbezüglich bereits Sorgen über die Zuverlässigkeit der Impfungen geäußert. Der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité meint: „Es ist praktisch garantiert, dass wir diese südafrikanische Variante genau wie die englische Variante in den nächsten Tagen bis Wochen auch in Deutschland sehen werden.“ Zudem könnte im schlimmsten Fall eine deutlich beschleunigte Ausweitung des Virus weitere Mutationen hervorrufen, die die verfügbaren Impfstoffe unbrauchbar machen könnten.
Sollte das mutierte Virus im Februar oder März in Deutschland tatsächlich voll durchschlagen, kämen die Impfungen ohnehin zu spät. Der wirtschaftliche Wettbewerb der Hersteller und die internationale Konkurrenz der Staaten hat die Produktion und Nutzung des Impfstoffes unnötig verzögert, sodass die Risikogruppen wohl erst im Sommer komplett durchgeimpft sein dürften. Statt schnell und effizient zur Produktion und Verteilung voranzuschreiten, herrschte in den letzten Wochen blankes Chaos und ein gegenseitiges Ausstechen der Staaten. Über den vollkommen planlosen Start der Impfkampagne schrieben wir:
„Eine echte Alternative zu den intransparenten Verhandlungen wäre die Vergesellschaftung der Impfstoff-Produktion: die Freigabe aller Patente und Lizenzen; Verstaatlichung von Produktionsstätten. Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf eine ehrliche Bilanz: Wie viele Impfdosen können tatsächlich hergestellt werden?“
Es haben sich bereits Allianzen etwa des Impfstoffherstellers Curevac mit dem Pharmariesen Bayer gebildet. Die Profitinteressen dieser Konzerne stehen einer planmäßigen und effizienten Verteilung im Weg. Doch das wäre die Voraussetzung, um nach ein bis zwei Monaten einen Ausweg aus einem harten Lockdown mit deutlich niedrigeren Fallzahlen und einer schrittweise geordneten Ablösung durch die Impfstrategie zu formulieren.
Ohne einem baldigen Wirtschafts-Lockdown besteht hingegen die Gefahr einer unkontrollierten Ausweitung der Pandemie, deren Eindämmung dadurch erschwert wird, dass die Verfügbarkeit der Impfstoffe von den Einzelinteressen der Konzerne abhängt. Sie verkaufen ihre lebensrettenden Mittel an den Höchstbietenden auf dem freien Markt. Doch da die Regierung von Merkel aktuell weder zu einem härteren Lockdown, noch zu Verstaatlichungen der Pharmaindustrie bereit ist, lässt sie dem Zufall freien Lauf. Statt vorausschauend zu handeln, fährt sie auf Sicht und muss in Schlangenlinien immer wieder ihren Kurs ändern.
Bei deutlich steigenden Zahlen könnte es also durchaus sein, dass Angela Merkel beim nächsten Treffen mit den Ministerpräsident:innen am 25. Januar gezwungen sein wird, einen echten harten Lockdown mit Betriebsschließungen zu verhängen. Es wären mindestens drei weitere Wochen verschwendete Zeit mit hunderttausenden Neuinfektionen und einem günstigen Nährboden zur Ausbreitung der B.1.1.7-Variante. Dann hätten wir einen Wirtschafts-Lockdown unter viel chaotischeren und schlechteren Ausgangsbedingungen. Darauf zu vertrauen, dass sich die Prognosen eines beschleunigten Wachstums der Infektionszahlen oder gar die Möglichkeit einer weiteren Mutation nicht bewahrheiten sollten, wäre ein hochriskantes Glücksspiel der Regierung, bei dem sie um weitere zehntausende Menschenleben zockt.
Die Gewerkschaften und Beschäftigten müssen handeln
Die halbherzigen Maßnahmen der Regierung machen es notwendig, dass die Arbeiter:innen selbst die Notbremse ziehen. Wie im Frühjahr in Italien, im Spanischen Staat oder den USA müssen die Gewerkschaften die Betriebe bestreiken, um ihre Schließung durchzusetzen. Auch wenn die Grünen und die Linkspartei in Thüringen sich für einen Wirtschafts-Lockdown aussprechen – ja nicht mal wenn Merkel selbst dies täte –, dürfen die Beschäftigten solange warten, bis sich die Ministerpräsident:innen in ihren zähen Verhandlungsrunden vielleicht irgendwann mal zu mehr oder weniger umfangreichen Schließungen bemüßigt fühlten.
Die Beschäftigten müssen also selbst handeln. Das kann damit anfangen, dass sie in Online-Versammlungen darüber diskutieren, wie ihr Betrieb zur Lösung der Krise beitragen kann: Ist die Produktion wirklich lebensnotwendig? Wenn nein, dann Arbeitsniederlegung und Schließung. In Berlin haben beispielsweise Lehrer:innen bereits angekündigt, gegen die Wiedereröffnung der Schulen zu streiken. Könnte möglicherweise die Logistik und Technik an Arbeitsplätzen in den Dienst der Pandemiebekämpfung gestellt werden? Lassen sich zum Beispiel mit Maschinen in Autofabriken Beatmungsgeräte herstellen, wie dies der VW-Mitarbeiter Lars Hirsekorn angedeutet hat? Könnten die Restaurants oder die Strukturen von Lieferando genutzt werden, um Risikogruppen mit Essen zu versorgen, damit diese nicht selbst außer Haus gehen müssen? In Frankreich besetzten zum Beispiel während der ersten Corona-Welle Beschäftigte von McDonald‘s ihr Restaurant, um Arme mit Essen zu versorgen. Macht es Sinn, Hotelzimmer für Patient:innen anzubieten, um die Belegung in den Krankenhäusern zu reduzieren? Oder in den Kühlketten der Fleischindustrie Impfstoffe zu lagern?
Viele dieser Maßnahmen sind aufwändig und bringen kein Geld, weswegen die Kapitalist:innen kein Interesse haben, ihre Kapazitäten der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. Deswegen sollten die Arbeiter:innen selbst darüber diskutieren, was sinnvoll und umsetzbar ist. Dafür brauchen sie die Unterstützung der Gewerkschaften und insbesondere die Expertise der Beschäftigten im Gesundheitswesen, die eine koordinierende Rolle einnehmen könnten, zum Beispiel indem sie Aufrufe starten: Wo besteht Mangel, welche Hilfe wird benötigt? Sie sind der Schlüssel für eine planmäßige Bekämpfung der Pandemie.
Mit Streiks den Lockdown und wirtschaftliche Notfallmaßnahmen erzwingen
Gewiss besteht die Gefahr, dass Betriebe pleite gehen, wenn sie ein oder zwei Monate ohne Einnahmen auskommen, die Löhne aber weiterzahlen müssen. Die Lösung der Regierung besteht darin, die großen Konzerne mit riesigen Geldgeschenken aus Steuermitteln zu subventionieren. Diese Summen sollen in den kommenden Jahren durch Kürzungen im Sozialsystem zurückgeholt werden. Allein die Lufthansa erhielt 9 Milliarden Euro. Zum Dank strich sie 40.000 Stellen, davon 10.000 in Deutschland. Auch in Handel, Gastronomie und Metallindustrie sind hunderttausende Jobs in Gefahr oder bereits verloren gegangen.
Dies zeigt, dass die Regierung auch auf der wirtschaftlichen Seite der Pandemiebekämpfung keinen konsistenten Plan verfolgt. Der konservative Flügel der CDU um Friedrich Merz will mit einer Teilprivatisierung der Renten, Anhebung des Renteneintrittsalters, mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen und mehr Druck auf Arbeitslose die Kosten der Krise auf die Arbeiter:innenklasse abwälzen. SPD und Linkspartei machen halbgare Vorschläge für eine Vermögensabgabe. Aus Angst vor Kapitalflucht und Arbeitsplatzabbau zögern sie, bedeutende Geldsumme von den Reichen zu holen. Letztlich führt auch ihre Politik nur dazu, die Arbeiter:innen mehr zu belasten.
Leider stellen sich auch die Spitzen der Gewerkschaften hinter die Große Koalition sowie die Grünen. Mit hohen Subventionen für Unternehmen wollen sie die Modernisierung der Industrie vorantreiben, ohne aber Rücksicht auf Arbeitsplatzverluste zu nehmen. Hier müssen die Beschäftigten selbst aktiv werden: Sie können in Online-Versammlungen nicht nur die Arbeitsniederlegungen organisieren und den Lockdown durchsetzen, sondern sogar die Streiks fortführen, um weitergehende wirtschaftliche Notfallmaßnahmen zu erzwingen. Entlassungen müssen verboten, große Vermögen beschlagnahmt und schließende Betriebe unter Kontrolle der Beschäftigten verstaatlicht werden.
Auf diese Weise können die Jobs und Lohnfortzahlungen staatlich gesichert werden. Unternehmen, die ihr Kapital ins Ausland abziehen wollen, müssen bestreikt werden. Um Schulden des Staates, von Privathaushalten und kleiner Unternehmen zu streichen, müssen die Banken enteignet werden. Dadurch ließen sich auch nach einem gesamtgesellschaftlichen Plan Investitionen für einen ökologisch sinnvollen Wiederaufbau in der Zeit nach Corona tätigen. Es gibt nur zwei Optionen: Entweder eine solche Form der Krisenbekämpfung, bei der die Arbeiter:innen selbst das Heft in die Hand nehmen und die Kapitalist:innen für die von ihnen verursachten Probleme zahlen lassen. Oder die Fortsetzung der Regierungspolitik, die zu zehntausenden weiteren Toten und zu Existenzängsten bei Millionen von Menschen führen wird.