Historischer Tag der Demonstrationen in Frankreich

14.10.2010, Lesezeit 10 Min.
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Nach den drei Protesttagen gegen die Rentenreform (7. und 23. September sowie am 2. Oktober), die nach dem Sommer stattfanden, spekulierte die Regierung auf einen Rückgang der Demonstrationen, besonders weil der Senat die Hauptartikel des neuen Gesetzes im Eilverfahren beschlossen hatte, so dass Sarkozy damit eine klare Botschaft an die Öffentlichkeit senden konnte: „Alles ist schon entschieden. Es gibt keine Notwendigkeit mehr zu demonstrieren, denn das Gesetz ist schon verabschiedet!“ Nichtsdestotrotz war der Tag der Streiks und Demonstrationen am 12. Oktober in Frankreich ein historischer. Ungeachtet der Differenzen bei den Zahlen, die vom Innenministerium und den Gewerkschaften vermeldet wurden, unterstreichen beide Quellen die Zunahme der TeilnehmerInnenzahlen im Vergleich zum 23. September: 1,23 Millionen DemonstrantInnen nach polizeilichen und 3,5 Millionen nach gewerkschaftlichen Angaben, was die größte Mobilisierung seit 20 Jahren darstellt. Wenn auch die Streikbeteiligung im öffentlichen Sektor weiterhin konstant bei 30% liegt, so gibt es doch ein neues Element: Der Ruf nach einem unbefristeten Streik in verschiedenen Sektoren und die aktive Teilnahme Jugendlicher.

Die SchülerInnen und Studierenden betreten die Bühne

SchülerInnen und Studierende waren bisher ein Schlüsselsektor in den großen sozialen Bewegungen Frankreichs – etwa als zentraler Protagonist in den Kämpfen gegen den „Ersteinstellungsvertrag“ (CPE) von Villepin. Außerdem verunsicherte ihr Einstieg in den aktuellen Kampf die Regierung. An einigen Universitäten (Rennes II und Marseille, Paris-Tolbiac, Paris-8, Strasbourg etc.) gab es riesige Versammlungen, die nach dem Beginn der Kurse diese Woche organisiert wurden, um zu entscheiden, welche Aktionen durchgeführt werden. An mehr als 300 Schulen gab es Blockaden oder Streikposten, welche es ermöglicht hatten, dass mehrere Kolonnen von SchülerInnen sich in die Demonstrationen in verschiedenen Städten einreihten. Das Auftreten dieses Sektors wurde von der Regierung harsch kritisiert.Sie warf der radikalen Linken und Teilen der Sozialistischen Partei (PS) Manipulationen vor. Die Wahrheit ist, wie es ein Funktionär für öffentliche Ordnung in einer großen Provinzstadt sagte: „Mit den Studierenden, die notwendigerweise weniger in den Gewerkschaftsstrukturen eingebunden sind als Erwachsene, wird alles unberechenbar“ [1]. Besondere Angst haben das Bildungsministerium und der Elysee-Palast vor den Blockaden und der Gewalt, die oftmals die Mobilisierung der Jugend begleiten [2]. Doch das Auftreten der SchülerInnen (und möglicherweise der Studierenden, wenn die Bewegung ein paar Wochen anhält) ist alles andere als ein Resultat von Manipulationen zu sein. Stattdessen liegen die Voraussetzungen für die enorme Mobilisierung tiefer. Zusätzlich zur Degradierung der öffentlichen Schulen beklagen Jugendliche die sich verschlechternden Bedingungen beim Übergang ins Berufsleben und zum Erwachsenenstatus. Die SchülerInnen und Studierenden wissen, dass 23% der Menschen unter 25 Jahren arbeitslos sind (10% über den europäischen Durchschnitt), in armen Vierteln ist sogar jede/r zweite Jugendliche arbeitslos. Sie wissen auch, dass diejenigen, die das Glück haben, einen Job zu finden, unter zunehmend prekären Bedingungen arbeiten müssen, während die Preisexplosion beim Immobilienmarkt in den letzten 30 Jahren den Erwerb einer eigenen Wohnung zu einer vollkommenen Illusion gemacht hat. Nicht zu vergessen die tägliche Gewalt, der sie entweder durch die Polizei oder die Schulen ausgesetzt sind, wo sie unter den schulischen Autoritäten leiden, die sie zwingen, Uniformen zu tragen, die internen Schulregeln verschärfen sowie ihre Rechte als SchülerInnen missachten. In diesem Zusammenhang sehen die Jugendlichen die Anhebung des Rentenalters nicht nur als zusätzliche Arbeitsbelastung für ihre Familienangehörigen, sondern als eine Maßnahme, die auch ihren eigenen Eintritt in den Arbeitsmarkt schwieriger macht.

Tendenzen zur Radikalisierung: unbefristeter Streik in Schlüsselsektoren

In einigen Sektoren der ArbeiterInnenklasse wurde der Ruf nach einem unbefristeten Streik gegen die Rentenreform laut. So zum Beispiel beim öffentlichen Nahverkehr, bei der Eisenbahn SNCF, beim Energiesektor und besonders im chemischen Sektor. Die übergroße Mehrheit der französischen Raffinerien wird von den ArbeiterInnen blockiert, was in einigen Landesteilen Benzinknappheit verursachen könnte. In ganzen Regionen hat die Streikbewegung gegen die Rentenreform, zusammen mit anderen spezifischen Forderungen, die die Arbeitsbedingungen sowie die Reform der Häfen betrafen, alles für mehrere Tage lahmgelegt. Im Fall von Bouche-du-Rhone in der Region Marseille (der zweitgrößten Stadt)gibt es seit mittlerweile mehr als zwei Wochen Streiks der Angestellten der Stadt und der Finanzbehörden. Ebenso streiken die ArbeiterInnen im Hafen von Fos und in den Raffinerien. Aufgrund der Arbeitskämpfe sitzen im Hafen dieser großen Stadt 85 Schiffe fest, darunter 56 Öltanker und 29 Frachtschiffe. Diese Situation ist für einige Sektoren der Bourgeoisie enorm beunruhigend, so dass sie die Lage im Moment genau beobachten. Die Entschlossenheit einiger Sektoren ist sehr stark. Michel Denis, CGT-Vertreter in der Total-Raffinerie in La Meda (Bouches-du-Rhone), 28, „weiß, dass er bis 2044 wird arbeiten müssen. ‚Bei dieser Arbeit wird es nach dem 55. Lebensjahr sehr schwer, besonders mit den Schichtwechseln‘“. Er ist „bereit, bis zum Ende zu gehen“. „Wenn wir den Streik für 24 Stunden verlängern“ sagt er, „dann nicht, um Spaß bei den Demos zu haben, sondern um unsere Entschlossenheit zu zeigen“ [3]. Man bemerkt dasselbe Klima im Gewerkschaftslokal an der Montparnasse-Station in Paris, wo – mit 110 Für-Stimmen, 4 Enthaltungen und keiner Gegenstimme – diesen Mittwoch beschlossen wurde, den Streik fortzusetzen. „Hundert Stimmen, mehr als am Tag zuvor, aber immer noch nichts zu verherrlichen, sagt der Reporter. Ein erfahrener Typ macht ein hässliches Gesicht: ‚Wir haben immer noch genug. Im Jahre 1995 waren in den Versammlungen hier 200 Leute.‘ Aber an diesem Morgen sah man ‚neue Gesichter‘. Einige, die nicht gewerkschaftlich organisiert sind. Für eine Eisenbahnerin haben ‚die Dinge begonnen, heftiger zu werden, es gibt weniger Resignation, denn die Leute verstehen langsam die Ungeheuerlichkeit der Reform, dann werden sie auch verstehen, dass wir jetzt zu Aktionen übergehen müssen.‘“ [4]

An einigen Orten hat die Avantgarde begonnen, sich zu organisieren und über die nächsten Aktionen abzustimmen, um den Streik fortzusetzen. In jenen Sektoren, wo die Gewerkschaftsführung zur Fortsetzung des Streiks im nationalen Rahmen aufgerufen hat, wird der Streik auch fortgesetzt. Dies ist zum Beispiel in den Bahnhöfen der Hauptstadt der Fall, wo die ArbeiterInnen in den morgendlichen Versammlungen einstimmig für einen unbefristeten Streik gestimmt haben. Dort, wo die Bürokratien nicht zur Fortsetzung des Streiks aufgerufen haben, haben sich die kämpferischsten Sektoren organisiert und für die Streikverlängerung gestimmt, zum Beispiel LehrerInnen der Sekundarschulen in der Region Paris.

Die Gewerkschaftsbürokratie als Haupthindernis, um die Reform zu stoppen und Sarkozy niederzuringen

Es ist klar, dass in den vergangenen Wochen die Schlacht ein politischer Kampf geworden ist. Die Wut geht über die Konterreform der Renten hinaus: Es gibt einen wachsenden Anti-Sarkozy-ismus; die Folgen der Krise sind immer mehr im privaten Sektor zu spüren; es gibt Spannungen, die auf eine Reihe von Reformen durch den Staat zurückzuführen sind, wie zum Beispiel in den Krankenhäusern; ganz zu schweigen von der Wut der SchülerInnen und Studierenden, die bereits beschrieben wurde.

Konfrontiert mit dieser Situation und dem Druck der Basis hat die Gewerkschaftsbürokratie das bisher Undenkbare getan, um ihre Kontrolle über die Bewegung aufrechtzuerhalten. Sie hat zu Aktionstagen in immer kürzerer Frist aufgerufen, wie am Samstag den 16. (d.h. zwei in einer Woche, und vielleicht werden sie sich für einen weiteren am Donnerstag den 14. November entscheiden, wenn sie sich wieder treffen, wonach es gerade aufgrund der vorhandenen Wut aussieht). Es handelt sich also um eine außergewöhnliche Bewegung, um irgendeine Lösung des Konflikts zu finden – was immer schwieriger und komplizierter wird – die es der Gewerkschaftsbürokratie erlaubt, nach so viel Kampf dennoch ihr Gesicht zu bewahren. Aber die Gewerkschaftsführungen – nicht nur die der CFDT sondern auch der CGT, die die Fortführung des Streiks auf sektoraler Ebene zulassen, um eine offene Kollision mit ihrer Basis zu vermeiden – sind Feindinnen der Radikalisierung des Konflikts und tun nichts, um ihn zu entwickeln und ihn auf einer nationalen Ebene aufrechtzuerhalten. Sie nutzen dabei die Angst vor den Lohneinbußen im privaten Sektor aus – sowohl in großen Industriegesellschaften als auch in SMEs (eine Angst, die diese Führung selbst schürt, um eine Radikalisierung zu verhindern). Die Gewerkschaftsführungen vermeiden es, in den entscheidenden Kampf einzutreten. Tatsächlich arbeiten sie objektiv (und subjektiv?) für einen Austausch des Präsidenten im Jahr 2012. „Wenn eine Regierung angesichts solcher Massenforderungen ihren Kurs nicht ändert, muss man eine politische Lösung finden… aber durch die Wahlurne!“ ist, was von den Gewerkschafts-Päpsten im Anschluss an die Durchsetzung der Reform gesagt wird, natürlich mit einer enormen Erosion der Unterstützung für Sarkozy.

Inzwischen stehen die Tendenzen zur Radikalisierung einer entschlossenen Regierung gegenüber, die so leicht nicht aufgeben wird, und zur Zeit gibt es nicht einmal ansatzweise eine alternativen Führung, die dazu fähig wäre, eine breite Konfrontation mit der Regierung durchzustehen. Bis jetzt ist das die große Schwäche der Bewegung, die nicht mal úber eine embryonale Führung verfügt, wie sie die anti-CPE Bewegung in Form der Nationalen Koordination hatte, die dann Delegierte von allen Versammlungen zusammenbrachte und den Kampf um die Rücknahme des Gesetzes aufrechterhielt.

Schließlich entwickelt sich die Situation jedoch schnell und die nächsten Tage werden entscheidend sein. Offensichtlich gibt es einen qualitativen Sprung in der sozialen Bewegung, deren Perspektive angesichts des Mangels an Führung noch unsicher ist. Jedoch sind die Risiken der Radikalisierung gegenwärtig – eine Frage, die die Sozialistische Partei beunruhigt, die durch Ségolène Royale die Regierung verzweifelt um eine Aufhebung der Reform bittet und dabei die Regierung dafür verantwortlich macht, was auf den Straßen in den kommenden Tagen geschieht. Die Situation bleibt offen.

Übersetzung: systemcrash, für RIO

Fußnoten

[1]. Liberation 12.10.2010. Dieses Papier zitiert den berühmten Spruch des ehemaligen Ministers Luc Ferry, zu seiner Zeit mit großen Demonstrationen von Jugendlichen konfrontiert: „Die Studenten sind wie Zahnpasta: einmal aus der Tube raus, weiß man nicht, wie man sie wieder rein kriegt.“

[2]. Die Zahlen des Ministeriums, nämlich dass 350 Schulen betroffen sind, sind vergleichbar mit denen der ersten Aktionen bei den letzten großen Demonstrationen der Jugendlichen, sowie denen gegen das Gesetz von Fillon über die Zukunft der Schulen im Jahr 2005, jenen gegen den „Ersteinstellungsvetrag“ (CPE) im Jahr 2006 oder gegen die Schulreform von Xavier Darcos im Jahr 2008. Sie sind allerdings noch weit entfernt von den Blockaden von zwischen 1.400 und 4.300 Lehranstalten in Frankreich, wozu es zum Beispiel bei bestimmten Aktionstagen gegen das CPE kam. Es ist aber nicht nur die Anzahl der betroffenen Institutionen, die der Regierung Angst macht: in der letzten Bewegung gegen das Projekt von Darcos waren es die Gewalt und vor allem die Blockaden, die die Regierung verunsicherten und sie dazu brachten, die Reform zurückzuziehen.

[3]. Liberation 13.10.2010.

[4]. Ebd.

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