Herr Professor Nassehi, sind Sie „authentisch durchgeknallt“?

21.11.2023, Lesezeit 20 Min.
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Nassehi in seinem Element: der Soziologe bei der öffentlichen Rede. Bild: Romanist~dewiki / CC BY-SA 4.0 DEED

In einem Beitrag für Zeit Online wettert der bekannte Münchner Soziologe Armin Nassehi gegen Linke, die kritische Migrationsforschung und Judith Butler – und bedient dabei sehr alte rassistische Stereotype.

Der Umgangston auf X (vormals Twitter) ist bekanntlich ein rauer. Wenn aber ein liberaler Feuilletonist wie Patrick Bahners über einen prominenten Soziologieprofessor urteilt, dieser sei „jetzt authentisch durchgeknallt“, dann geschieht das nicht ohne Grund.

Bahners teilte eine Passage aus einem Beitrag, den Armin Nassehi am 25. Oktober hinter einer Paywall verborgen bei Zeit Online veröffentlicht hatte. Der Professor an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) schreibt darin, Juden und Jüdinnen würden das Nachsehen haben „gegenüber einer migrantischen Realität in Deutschland, die zumindest im Hinblick auf dieses Thema derzeit kaum zivilisierbar erscheint“. Offensichtlich schließt Nassehi hier an alte kolonialrassistische Stereotype an.

Zwei Tage dauerte es, ehe Nassehi auf derselben Plattform in einigermaßen unverständlichen Worten antwortete, als ob er alle Klischees über akademisches Schreiben bestätigen wollte: „Bahners, nach zurückrudernder Auskunft, pädagogische Absicht dieses ungeheuerlichen Tweets ist ein Ausdruck dessen, worum es mir geht. Affirmativer hätte man auf meinen Text nicht reagieren können, der das Gegenteil dessen sagt, was hier insinuiert wird. Ich empfehle Lektüre.“ Auf Deutsch: Beruhigt euch und lest den Text, ich habe das doch alles ganz anders gemeint. Nur: Besser wird der Text auch bei genauer Lektüre nicht.

Alter Wein in unhandlichen Schläuchen

Erst einmal gibt Nassehi wieder, was mehr oder weniger die Position des gesamten gesellschaftlichen Überbaus ist, von der Linkspartei bis zur AfD über die Gewerkschaftsspitzen bis hin zu den NGOs: Er malt den Angriff der Hamas vom 7. Oktober in den dunkelsten Farben. Dabei gehe es „in einem kaum beschreibbaren Sinne um die physische, die existenzielle Auslöschung der Juden.“ Die Drastik müsse so formuliert werden – „auch in ihrer historischen Anleihe an die Shoah.“ Es ist eine geschichtsvergessene Position, die Nassehi in die Nähe des israelischen UN-Botschafters rückt, der sich nicht entblödete, sich beim Auftritt vor dem Sicherheitsrat Davidsterne ans Revers zu heften. In seiner Rede sprach er – deutlicher als Nassehi – von der „Nazi-Hamas“.

Sagen wir es unumwunden: Das ist eine Relativierung des Holocaust. Das Menschheitsverbrechen wird politisch instrumentalisiert, dem Kampf gegen den Antisemitismus wird damit ein Bärendienst erwiesen. Und nebenbei wird der Staat Israel mit dem Judentum in eins gesetzt – auch das ist ein antisemitisches Muster. Nassehi selbst geht nicht so weit, weil er offenbar bewusst so vage Formulierungen benutzt, um sich möglichst wenig angreifbar zu machen – und bei Gegenwind wie kürzlich auf X zurückrudern zu können. Kreativ ist kaum etwas, das Nassehi schreibt – nur besonders umständlich formuliert.

Gegen den Missbrauch der Erinnerung an den Holocaust wendeten sich kürzlich eine Reihe sehr prominenter Historiker:innen, alle mit einer ausgewiesenen Expertise auf jenem Feld. In ihrem Offenen Brief im New York Review of Books nannten sie Vergleiche der Krise in Israel-Palästina mit dem Nazismus und dem Holocaust „intellektuelles und moralisches Versagen.“ Was Armin Nassehi von diesem Offenen Brief hält, ist nicht bekannt. Wie wir noch sehen werden, scheint er aber wenig übrig zu haben für Akademiker:innen, deren Meinung er nicht teilt – auch wenn sie mehr Ahnung haben als er.

Die Hamas ist nicht die NSDAP. Ihre Ideologie ist reaktionär und sie gibt dem Widerstand gegen die israelische Besatzung einen antijüdischen Charakter. Hier jedoch enden die oberflächlichen Ähnlichkeiten. Die Hamas regiert autoritär ein wirtschaftlich äußerst schwaches, militärisch absolut unterlegenes Freiluftgefängnis. Sie führt dabei mit einem religiösen Programm den militärischen Widerstand einer unterdrückten Nation an. Der deutsche Faschismus hingegen hat eine imperialistische Weltmacht regiert, ein industrielles Vernichtungssystem aufgebaut und in einem Weltkrieg einen großen Teil Europas brutalst unterworfen.

Nassehi sorgt sich, „wie lange die rituelle Unterstützung für Israel anhalten wird, wenn Israel im Gazastreifen Hamas-Terroristen bekämpft und durchaus in Teilen auch eine Vergeltungsabsicht hat“. Diese Formulierung von der „Vergeltungsabsicht“ – „in Teilen“ wohlgemerkt – ist das, was man in dem Text am ehesten als eine Art der Kritik an der israelischen Regierung lesen könnte. Aber: Die israelische Armee trachte ja „sehr direkt und aktiv zu viele zivile Opfer zu vermeiden“. Nur leider werde das durch die Hamas-Strategie konterkariert, zivile Opfer zu provozieren. Natürlich liefert er hierfür keinerlei Beleg – wie ihn auch die israelische oder die deutsche Regierung nicht vorlegen können, die dieses Narrativ seit Jahrzehnten bedienen, um Morde an palästinensischen Zivilist:innen zu legitimieren.

Nassehi will nicht leugnen, dass „Teile der militärischen Reaktion Israels völkerrechtlich zweifelhaft sein werden und es zu Überreaktionen kommen wird“. Einen Genozid will er darin aber nicht erkennen. Vielmehr scheint er selbst mit einer Petition gegen den Genozid von über 2.000 Soziolog:innen aus Israel und weiteren Ländern geradezu überfordert zu sein. In seiner Ratlosigkeit unterstellt er ihnen, „vor allem das Eigene [zu] hassen“. Für ihn ist die Definition des Genozids ein „taktischer Begriff“, der „nur bei arabischen Aktivisten oder bei linken Solidaritätsadressen“ falle. Für beide sei es „Teil des Geschäftsmodells.“

In welche der beiden Schubladen er wohl Raz Segal einordnet? Der israelische Historiker ist Associate Professor für Holocaust- und Genozidforschung an der Stockton University und veröffentlichte schon am 13. Oktober bei Jewish Currents einen Beitrag, in dem er „Israels genozidalen Angriff“ als „durchaus explizit, offen und schamlos“ bezeichnete. 800 Akademiker:innen aus den Feldern des internationalen Rechts, der Konfliktforschung und den Genozidstudien taten ihm es in einem offenen Brief gleich. Segal gehört auch zu den Unterzeichner:innen des Offenen Briefs im New York Review of Books.

Es ein „Geschäftsmodell“ zu nennen, eine einfache Wahrheit auszusprechen: Das ist angesichts tausender toter palästinensischer Zivilist:innen, angesichts von Millionen Menschen auf der Flucht, die von Elektrizität, sauberem Wasser oder medizinischer Versorgung abgeschnitten sind, angesichts von Luftschlägen auf Krankenhäuser und Flüchtlingslager nur zynisch. Was soll es anderes sein, als die unmissverständliche Ankündigung eines Genozids, wenn ein Verteidigungsminister sagt: „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und wir handeln entsprechend.“

Nassehi hat recht: Die Unterstützung schwindet bereits

„Die Bereitschaft zur Unterstützung Israels wird schwinden“, schreibt Nassehi. Er hat recht. In der breiten Öffentlichkeit ist dies längst der Fall. Denn anders als er verschließt die Mehrheit nicht die Augen vor den Gräueln in Gaza. Ein Beispiel für die Kräfteverhältnisse der Solidarität bieten die letzten größeren öffentlichen Versammlungen in München. Rund 7.000 Menschen demonstrierten am Samstag, den 28. Oktober, in Solidarität mit dem palästinensischen Volk. Die Demonstration war von der Initiative „Palästina Spricht“ unter dem Motto „Wir fordern Frieden für Gaza – Stoppt den Krieg!“ organisiert worden – ohne institutionelle Unterstützung. Eine pro-israelische Kundgebung brachte am folgenden Tag nur mehr ein paar hundert Menschen auf dem Odeonsplatz zusammen – und das, obwohl die Parteien CSU, FDP, die Grünen, SPD und Volt gemeinsam dazu aufgerufen hatten. Der sogenannte Antisemitismusbeauftragte der bayerischen Landesregierung Ludwig Spaenle wunderte sich auf jener Kundgebung: „Kurz vor der Landtagswahl standen hier gegen Rechtsaußen 35.000 Münchnerinnen und Münchner. Es sind viele Leute da. Wo sind die anderen?“ Soll er sich nur wundern. Es ist ein gutes Zeichen, dass keine Zehntausenden unter dem Vorwand des Kampfes gegen Antisemitismus einem laufenden Genozid applaudieren.

Nassehis Begründung für die schwindende Bereitschaft zur Unterstützung Israels ist das „Plausiblerwerden der Täter-Opfer-Umkehr.“ Auch hier beweist Nassehi nur erneut seine Geschichtsvergessenheit. Beginnt die Geschichte denn am 7. Oktober dieses Jahres? Fand denn 1948 keine Massenvertreibung von Palästinenser:innen statt? Sind sie nicht seit Jahrzehnten eine Nation ohne Staat?

Noch einmal: Nassehi und der Antisemitismus

Auch an einer weiteren Stelle hat Nassehi recht: Deutschland hat ein Problem mit dem heimischen – in Nassehis betont akademischem Duktus: „autochthonen“ – Antisemitismus. Antisemitische Stereotype wirken auch bei denjenigen nach, die von sich selbst glauben, dass sie sie überwunden hätten. Ohne sie zu nennen, verweist er hier auf die antisemitischen Aussagen im Podcast der beiden intellektuellen ‚Größen‘ dieses Landes, die Nassehi vielleicht noch am ehesten das Wasser reichen können, Markus Lanz und Richard David Precht. Darin hatten sie behauptet, ihre Religion verbiete orthodoxen Juden die Arbeit – „Diamantenhandel und ein paar Finanzgeschäfte ausgenommen“.

Von diesen Fragen lenke jedoch „der linke und der ‚importierte‘ Antisemitismus ab“, schreibt Nassehi, nur um dann selbst deutlich ausführlicher über diese Phänomene zu sinnieren. Er fantasiert sich „vor allem linke, aktivistische junge Leute“ herbei, die für die Hamas Partei nehmen würden. Wer diese Linken sein sollen, sagt er nicht. Es bleibt anzunehmen, dass er damit einfach jede:n meint, der:die den israelischen Siedlerkolonialismus ablehnt und das palästinensische Recht auf Selbstbestimmung verteidigt. Denn gleich darauf wirft er wirklich alles in einen Topf, wenn er von „propalästinensischen und antiisraelischen, antijüdischen Demonstrationen von offenkundig Arabischstämmigen“ schreibt. So einfach kann man es sich machen: Propalästinensisch gleich antiisraelisch gleich antijüdisch.

Dass Nassehi einmal eine solche Demonstration aus der Nähe gesehen hat, ist nach solchen Behauptungen zu bezweifeln. In München hätte er dazu genug Gelegenheit gehabt. Er hätte Redebeiträge hören können, die sich klar gegen Angriffe auf jüdische Einrichtungen in Deutschland gestellt haben. Er hätte auch den lautstarken Applaus dafür hören können. Lieber bedient er die medial erzeugten Bilder von „antijüdischen Arabischstämmigen“.

Nassehi deutet zwar zuvor an, dass man den Antisemitismus nicht säuberlich in „den (überwundenen) eigenen und den (aktiven) importierten“ trennen kann. Doch reproduziert er hier selbst das Narrativ des „importierten Antisemitimus“. Dieses ist jedoch unhaltbar, wenn man bedenkt, wer antisemitische Angriffe verübt: Straftaten gegen Jüd:innen werden zu 84 Prozent von Rechtsradikalen begangen – eine Tatsache, die der Professor nicht für nennenswert hält. Dass mit dem Chef der Freien Wähler eine Person das Amt des stellvertretenden bayerischen Ministerpräsidenten bekleidet, die das Auftauchen eine pro-faschistischen, antisemitischen Flugblatts einfach ihrem Bruder in die Schuhe schiebt und als Konsequenz lediglich einen Fragenkatalog vom Koalitionspartner CSU erhält – dafür fehlen Nassehi anscheinend die Worte.

Vor dem Hintergrund der enormen Einschränkungen demokratischer Rechte nach dem 7. Oktober mit etlichen Demonstrationsverboten unter fadenscheinigen Begründungen muss man Nassehi beinahe zu Gute halten, wenn er die Selbstverständlichkeit ausspricht, dass das Demonstrations- und Versammlungsrecht auch für solche Veranstaltungen gilt. Gleich im nächsten Halbsatz lässt er jedoch sein Verständnis dieses Rechts durchblicken: „Der Rechtsstaat ist nur einer, wenn er unabhängig davon Genehmigungen erteilt, ob einem die Inhalte schmecken.“ Dabei hat der „Rechtsstaat“ für Demonstrationen überhaupt keine Genehmigungen zu erteilen. Versammlungen müssen lediglich angezeigt werden. Ein Recht ist kein Recht, wenn es genehmigt werden muss.

Nassehi als „Migrationsexperte“

Seine öffentlichen Debattenbeiträge nutzt Nassehi als Anhänger der Systemtheorie nur zu gern für fachinterne Angriffe. Seine Zielscheibe ist die kritische Migrationsforschung, dabei bringt er seine Ablehnung weniger in einer Argumentation als in verächtlichen Begriffen zum Ausdruck. „Realitätsverweigerung“ wirft er „Teilen der sich kritisch nennenden Migrationsforschung der vergangenen Jahre“ vor, eine ganze Forschungstradition nennt er abschätzig eine „Szene“, die ihre Forschung mit „moralischer Intuition“ betreibe und „erstaunlich unsensibel“ dafür sei, dass Migration reale Konflikte erzeugt. Seine Vorwürfe sind so wenig unterfüttert, dass die Vermutung naheliegt, Nassehi habe vor allem etwas gegen Fachkolleg:innen, die den Rassismus in dieser Gesellschaft in ihrer Analyse berücksichtigen – eine Kategorie, die in Nassehis eigenen Ausführungen bei Zeit Online bemerkenswerterweise fehlt.

Von Berufs wegen beschäftigt sich auch Nassehi unter anderem mit Migration. Das betont er in dem besagten Zeit-Online-Artikel, in dem er auf ein Forschungsprojekt an seinem Lehrstuhl an der LMU verweist. Anscheinend fühlt er sich allein dadurch befähigt, ganz allgemeine Urteile, die ganz und gar nicht frei von Wertung sind, über Migration in Deutschland zu fällen. Man traue „es sich in der derzeitigen Situation kaum zu sagen, aber im Ganzen gesehen ist die Bundesrepublik ein erfolgreiches Einwanderungsland“ – so Nassehis Ergebnis. In einem Beitrag auf dem Montagsblock argumentiert er weiterhin, „wie selbstverständlich im Vergleich zu früheren Jahrzehnten für die deutsche Alltagsrealität eine Pluralität von Menschen geworden ist, denen man eigene oder familiale Herkünfte aus anderen Regionen der Welt ansehen kann, ohne dass das irgendeinen Informationswert hätte.“

Auch die von Nassehi hochgeschätzte werturteilsfreie Empirie will nicht so ganz dazu passen: Einer aktuellen EU-Studie zufolge hat der Rassismus gegenüber Schwarzen in Deutschland in den vergangenen fünf Jahren erheblich zugenommen; 38 Prozent der Befragten gaben an, sich explizit wegen ihrer Hautfarbe diskriminiert zu fühlen – im Vergleich mit den anderen EU-Ländern, in denen Befragungen durchgeführt wurden, landet Deutschland auf dem letzten Platz. Oder andersherum: In Deutschland ist das Problem am größten.

Das Problem Rassismus befeuert auch die Bundesregierung mit ihrer Migrationspolitik, die der Kanzler in einem schon jetzt berüchtigten Interview mit dem Spiegel in rohen Worten bewarb: „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben.“ Tatsächlich übt auch Nassehi an dem neuen Gesetzesentwurf der Ampel-Regierung Kritik. Alle Expertise wisse genau, dass es Abschiebungen in einem solch großen Stil, wie angekündigt wurde, gar nicht geben könne und nicht geben werde, so der Soziologie in seinem Blogbeitrag. Die Neuregelung würde tatsächlich nur zu etwa 600 zusätzlichen Abschiebungen pro Jahr führen, die Effekte seien außerdem „schwer abschätzbar“.

Für einen kurzen Moment wirkt es so, dass sich Nassehi ernsthaft Sorgen um die Realität von Geflüchteten machen würde, die laut Gesetzesentwurf beispielsweise sehr viel länger in Abschiebehaft genommen werden könnten und auch unter der Ausweitung der diesbezüglichen Befugnisse der Polizei zu leiden hätten. Darum geht es ihm tatsächlich nicht. Ganz im Gegenteil: Nassehi kritisiert, dass es sich um ein Gesetz handle, von dem die „Protagonisten im Innenministerium“ wüssten, „dass das Ganze nur eine symbolpolitische Maßnahme ist“.

Dabei sei Migration in Deutschland „das polarisierbarste und angstbesetzteste Thema überhaupt“, so Nassehi im Montagsblock weiter. Nur so sei zu erklären, dass die Bundesregierung mit einem Gesetz aufwarte, das ganz offenkundig eher eine Stimmungslage bediene. Man, also die Bundesregierung, signalisiere denjenigen, die das gesamte Asyl- und Flüchtlingsrecht entsorgen wollen, dass sie in die richtige Richtung denken. Nur lässt auch die Bundesregierung selbst vom Asylrecht nicht mehr viel übrig.

Eine bemerkenswerte argumentative Volte schlägt Nassehi schließlich im letzten Absatz seines Artikels:

So gesehen sind es gerade die vor allem von den Bedrohungskulissen gegenüber Juden und dem offenkundigen Hass gegen Israel, aber auch gegen die deutsche Unterstützung Israels getriebenen sichtbaren Protestformen, die einer Symbolpolitik eine Legitimation verleihen, die sie nicht verdient. Was für eine verfahrene Situation.

Man muss einen solchen Absatz mehrmals lesen, um ihn zu entziffern. Die Protestformen, die sich gegen die deutsche Unterstützung Israels richten, verleihen der Symbolpolitik der Bundesregierung die Legitimation. Wir erinnern uns: Nassehi verwischt absichtlich die Grenzen zwischen linken, antizionistischen und antijüdischen Protesten. So scheinen für ihn am Ende die Linken und die Palästinenser:innen die Schuld dafür auf sich nehmen zu müssen, dass die Bundesregierung noch härter gegen Geflüchtete vorgeht.

Zielscheibe Butler

Ebenso wendet er sich gegen Judith Butler, Jüd:in, Akademiker:in und Antizionist:in, und mit Butler gleich gegen die gesamte postkoloniale Strömung in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Im London Review of Books hat Butler am 19. Oktober unter dem Titel „The Compass of Mourning“ einen nachdenklichen Essay veröffentlicht, den Nassehi „nebulös“ nennt, ohne dazuzusagen, was er damit wohl meinen könnte.

Nun spricht natürlich nichts gegen eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Butlers Thesen. Gegen den Poststrukturalismus, in dessen Tradition Butler steht, kann man argumentieren, dass der darin so zentrale Machtbegriff oftmals unbestimmt bleibt, dass die Betrachtung der materiellen Bedingungen zugunsten des Diskurses vernachlässigt wird, dass Butler in dem von Nassehi zitierten Text die Illusion der Gewaltlosigkeit in Befreiungskämpfen aufrechterhält.

Wenn Nassehi allerdings unterstellt, Butler liefere mit ihrer Forderung nach Kontextualisierung lediglich „eine so simple Vereinfachung des Sachverhalts, dass alle Sätze, die Mitgefühl und Mitleid mit den Angegriffenen ausdrücken, unter dem Verdacht stehen, Krokodilstränen zu sein“, dann zeugt das mindestens von Ignoranz. An mehreren Stellen verurteilt Butler die Gewalt und die Angriffe der Hamas; und verweist dennoch ebenfalls auf das Leid der Palästinenser:innen, welches diese seit mehr als siebzig Jahren zu ertragen haben. Statt dann wenigstens selbst eine in seinem Sinne angemessene Kontextualisierung zu machen, verfällt Nassehi lieber in die Mär von Israel als einzig wahrer Demokratie im Nahen Osten, die so unglaublich pluralistisch sei und in der seit Monaten „um die Angemessenheit der Siedlungs- und Religionspolitik leidenschaftlich […] gestritten“ werde. Dass Netanjahus Regierung aus einer Koalition von rechts-konservativen bis extrem rechten sowie streng religiösen Parteien besteht, darüber verliert der Text kein Wort. Nassehi vergisst auch zu erwähnen, dass in Israel zwar über vieles gestritten wird. Auch den Palästinenser:innen demokratische Rechte zu gewähren, steht dort jedoch nicht ernsthaft zur Debatte.

Worin besteht die „Vereinfachung des Sachverhalts“, die Nassehi Butler vorwirft? Butler spricht in Bezug auf Israel von einer „Normalisierung der Kolonialherrschaft“. Ist das nun eine Vereinfachung oder eine schlichte Tatsache? In seinem Buch „Ten Myths About Israel“ setzt sich der israelische Historiker Ilan Pappé mit der Behauptung auseinander, Israel sei kein koloniales Projekt. Er verweist darauf, dass sich schon für die ersten zionistischen Siedler:innen 1882 das Problem stellte, dass Palästina kein leeres Land war. Bis 1945 gelang es dem Zionismus, mehr als eine halbe Millionen Siedler:innen in das Land zu bringen, in dem etwa zwei Millionen Menschen lebten. Die lokale Bevölkerung hatte dabei kein Mitspracherecht. Doch hatten die Siedler:innen zwei Probleme: Ihnen war es nur gelungen, rund 7 Prozent des Landes aufzukaufen, und sie befanden sich noch in der Minderheit. Pappé schreibt:

Wie bei allen früheren siedlerkolonialistischen Bewegungen, war die Antwort auf diese Probleme die Zwillingslogik der Auslöschung und der Entmenschlichung. Der einzige Weg für die Siedler, ihren Zugriff auf das Land über die 7 Prozent auszuweiten und eine ausschließliche demografische Mehrheit sicherzustellen, bestand darin, die Einheimischen aus ihrer Heimat zu entfernen. Der Zionismus ist deshalb ein siedlerkolonialistisches Projekt, und eines, das noch nicht abgeschlossen ist. [eigene Übersetzung]

Denn Palästina ist demografisch auch heute noch nicht ausschließlich jüdisch und die Kolonisierung durch den Bau neuer Siedlungen schreitet voran.

Nennenswerte Tote und unsagbares Morden

In Gaza ist der Tod allgegenwärtig. Damit müsste sich Nassehi eigentlich auskennen. Schließlich ist der gesellschaftliche Umgang mit dem Tod einer der Forschungsstränge, der sich durch sein Forscherleben zieht. Einen kleinen Einblick gibt sein dreieinhalbstündiges Interview mit Tilo Jung vom 14. September, in dem Nassehi sein Konzept der „Todesverdrängung“ beschreibt. Darin analysiert er, dass der medizinische Umgang mit dem Sterben aus soziologischer Sicht durch einen Widerspruch zwischen der „individuellen Diskontinuität“, dem persönlichen Tod und dem gesellschaftlichen Fortgang bestimmt ist. Er vermutet, dass es eine historische Entwicklung gab, bei der in der Vergangenheit der Umgang – bei allen kulturellen Unterschieden – damit vor allem durch Verdrängung geprägt war, während er sich heute durch eine „Humanisierung“ kennzeichne.

Bezeichnenderweise beklagt der Professor auf X die Anonymisierung der beraubten Leben: „Es ist unerträglich, dass in den Meldungen die Toten, alle, als Zahlen und Raten auftauchen. Gibt es dafür Worte?“ Wir müssen den Herrn Professor zurückfragen: Ist das wirklich so? Welche Namen, welche Gesichter von Menschen welcher Herkunft sind seit Wochen in den Nachrichten zu sehen? Der Meister inszeniert sich als Laie, denn natürlich muss er wissen, dass die mediale „Enthumanisierung“ einseitig ist. Auf der einen Seite zeigt man uns israelische „Ermordete“, auf der anderen Seite zählt man die palästinensischen „Toten“.

Hier entlarvt sich die Moral eines Soziologen, der sich als neutraler Beobachter inszeniert. Die banale Realität besteht jedoch in seiner Teilnahme an der Gesellschaft und der Prägung seines Seins durch seine sozialen Umstände. Nassehis Teilnahme an der Gesellschaft besteht in seiner Rolle als Apologet des Status quo. Als Mann seiner Klasse zeigt uns der Professor, dass unsere Universität keineswegs ein eigenes System neutraler wissenschaftlicher Produktion ist – auch wenn er dies den Erstsemestern seit Jahrzehnten im Audimax der Münchner Universität und den Seminarräumen in der Konradstraße einhämmert.

Natürlich ist Nassehi nicht nur ein profaner Hochschullehrer, sondern auch ein public intellectual. Als solcher reicht seine Strahlkraft weit über die Hörsäle hinaus. Dass sich mit halbgaren Thesen gut hausieren gehen lässt, stellt Nassehi eindrucksvoll unter Beweis. Nach seinem Beitrag in Zeit Online hat er einen nahezu bedeutungsgleichen Artikel auch bei Spiegel Online untergebracht. Auch hier wieder: Linke, Rechte, Islamofaschisten – alles irgendwie dasselbe. Die Wendung „kaum zivilisierbar“ hat er darin bemerkenswerterweise nicht noch einmal benutzt. Nassehi spricht gern von Aufmerksamkeitsökonomie. Wenigstens damit scheint er sich auszukennen.

Ist Nassehi also tatsächlich „durchgeknallt“? Das wäre vielleicht die bequemere Erklärung. Tatsächlich ist er ein leidenschaftlicher Ideologieproduzent für denjenigen Staat, der seine Professur bezahlt. Sein Albtraum muss es sein, wenn die Universitäten zu politischen Räumen werden, in denen Studierende das Wort ergreifen und nicht schweigen, während unter den Augen der Öffentlichkeit ein Genozid geschieht.

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