Hass und Liebe für LokführerInnen

22.05.2015, Lesezeit 5 Min.
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// Eindrücke aus dem Berliner Streiklokal der GDL //

„Euch sollte man alle vergasen“, schrie der alte, kleinwüchsige Mann, der hinter dem Berliner Ostbahnhof spazierte. Vor dem Café Style standen Fahnen der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), die am Mittwoch zum neunten Mal in den Streik getreten war. Der Rentner drückte am Streiklokal jene Pogromstimmung über „die Arschlöcher von der GDL“ aus, die bürgerliche Medien befeuerten. Am selben Tag hatte der Youtube-Kanal Juliens Blog vorgeschlagen, LokführerInnen nach Auschwitz zu deportieren.

Als der Ausstand am Mittwoch begann, war die Stimmung unter den 100 Streikenden im Café Style gelassen. Trotz der Medienhetze zeigten viele PassantInnen Sympathie für die GDL – bei einer Umfrage von Radio eins äußerten 54 Prozent der Menschen Verständnis für den Arbeitskampf. Nicht alle verstehen aber dessen Sinn. Sogar dem alten Pöbler bieten GDL-Mitglieder ein Gespräch über die Hintergründe des Streiks an. Wie können sie mit so einem Typen reden? „Wer als Eisenbahner mit Publikumsverkehr zu tun hat, hat alles schon längst gehört“, lacht ein Streikender.

„Laut Tarifvertrag habe ich eine 39-Stunden-Woche“, sagt Mirko Reyher von der DB Regio Berlin-Brandenburg, „aber das habe ich nur einmal im ganzen letzten Jahr geschafft.“ Normalerweise liegt seine Wochenarbeitszeit bei 45 Stunden oder mehr. Nach seiner Erfahrung sind die langen, unregelmäßigen Schichten „für den Biorhythmus tödlich“. Die Bahn empfiehlt den Beschäftigten, sich besser zu ernähren. Sie fordern aber eine Begrenzung der Überstunden: Insgesamt schieben die LokführerInnen vier Millionen vor sich her. Die Übermüdung sei ein Sicherheitsrisiko, sagt der GDL-Ortsgruppenvorsitzende bei DB Regio am Megafon. „Ich möchte mein Kind auch aufwachsen sehen!“, ruft ein Streikender dazwischen.

Mehrmals am Tag ziehen die Streikenden für eine Kundgebung zum Ostbahnhof. „Erstaunlich, was für ein Drama es ist, wenn in Deutschland gestreikt wird“, bemerkt Mika. Sie stammt aus Frankreich und ärgert sich nicht, dass sie mit dem Fahrrad unterwegs ist. Sie wundert sich eher, dass nicht mehr GewerkschafterInnen zur Unterstützung da sind. Von den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) ist ein Busfahrer gekommen, der bei ver.di organisiert ist. „Die Grundlage der Gewerkschaftsbewegung ist Solidarität“, ruft er, nachdem er eine Grußbotschaft vorgelesen hat. Doch er spricht nicht für seine Gewerkschaft, nur für eine Basisgewerkschaftsgruppe (http://verdi-aktiv.de). Ein paar solidarische Studierende sind auch gekommen.

Am gestrigen Donnerstag wurde der Streik jedoch ausgesetzt. Die nächsten drei Wochen wird es Schlichtung samt Friedenspflicht geben. Viele KollegInnen erfahren das am Frühstückstisch im Fernsehen. Am Vormittag machen 50 KollegInnen eine Kundgebung vor dem Hauptbahnhof, dann schließen sie sich einer Protestaktion der streikenden ErzieherInnen vor dem Bundeskanzleramt an. Noch bis 19 Uhr waren sie im Ausstand. Aber viele bekamen schon vorher über ihre Diensthandys SMS, in denen sie zur Arbeit aufgefordert werden. Im Streiklokal wurde lebhaft diskutiert, warum man bis 19 Uhr im Ausstand bleiben sollte.

„Mit dem Abbruch geben wir unsere Machtposition aus der Hand“, sagt Uwe Krug, Ortsgruppenvorsitzender der GDL bei der S-Bahn Berlin. „Während der Schlichtung können wir keinen Druck ausüben, aber der Arbeitgeber übt täglich auf uns Druck aus.“ Krug hat persönlich nichts gegen die als Schlichter eingesetzten Politiker. Aber Brandenburgs Exministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) und Thüringens aktueller, Bodo Ramelow (Die Linke), werden über Arbeitsstunden verhandeln, ohne zu wissen, was die langen Schichten für EisenbahnerInnen bedeuten. Und Platzeck ist Mitglied einer Partei, die der Einschränkung des Streikrechts heute im Bundestag zugestimmt hat.

Bereits beim letzten Ausstand hatte das Streiklokal eine Resolution an den Gewerkschaftsvorstand für einen unbefristeten Streik bis zur Unterschrift unter einen Tarifvertrag verabschiedet. „Durchziehen – das ist unser Motto“, sagt Krug. Die Losung wird immer wieder skandiert. Die Berliner S-Bahn hat die zweitgrößte Ortsgruppe in der GDL, und hier sollen die Mitglieder entscheiden. Doch vom Abbruch des Streiks wurden sie überrascht. „Wir hätten uns durchaus eine oder zwei Stunden Zeit nehmen können, damit alle diskutieren können, wie es weitergeht“, so Krug.

Die KollegInnen im Streiklokal machen am Nachmittag eine kleine Versammlung und haben kein gutes Gefühl über das Streikende. „Mit der Schlichtung wollen die Bahn und die Bundesregierung einfach weiter aussitzen“, sagt ein Kollege. Die Schlichtung geht bis zum 17. Juni, und bereits am 1. Juli soll das Tarifeinheitsgesetz in Kraft treten. Doch die GDLerInnen in Berlin wollen „Gewehr bei Fuß“ bleiben, um nach dem Ende der Schlichtung weiter kämpfen zu können. Als GDL-Chef Claus Weselsky im Fernsehen das Streikende begründet, ist der Applaus unter den GDL-Mitgliedern im Café Style sehr verhalten.

Eine kürzere Version dieses Artikels erschien in der jungen Welt am 21. Mai 2015.

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