Hambacher Forst: Umweltzerstörung, kapitalistisches Profitinteresse und staatliche Gewalt
Der tragische Tod des Journalisten Steffen Horst Meyn im Hambacher Forst am Mittwoch deckte die Kaltblütigkeit auf, mit der die Polizei das Profitinteresse des Großkonzerns RWE durchsetzt. Über Umweltzerstörung, kapitalistisches Profitinteresse und staatliche Gewalt.
„In sechs Jahren fast ununterbrochener Baumhausbesetzung ist dies der erste und einzige vergleichbare Fall. Sechseinhalb Jahre lang waren die Baumkronen bewohnt, sind täglich Menschen hoch und runter geklettert und haben sich zwischen den Bäumen bewegt, ohne dass es bisher zu einem vergleichbaren Fall gekommen wäre.“
Die Pressemitteilung der Aktivist*innen von „Hambi bleibt!“ spricht eine deutliche Sprache: Der Tod von Steffen Horst Meyn war kein gewöhnlicher Unfall. Dass der Journalist am Mittwoch aus 15 Metern Höhe in den Tod stürzte, ist nicht einfach durch tragische Umstände oder angeblich fehlerhafte Konstruktionen zu erklären, wie es seit dem Vorfall in den sozialen Medien zum Teil heiß diskutiert wird. Nein, dass Steffen sterben musste, lässt sich nur durch die Umstände der angeordneten Räumung des Hambacher Forstes erklären.
Die schon erwähnte Pressemitteilung stellt die unmittelbaren Umstände plastisch dar:
Zur Unfallzeit waren Polizeieinheiten und Räumungskräfte vor Ort in Beechtown im Einsatz. Entsprechendes Foto- und Videomaterial haben wir dieser Erklärung angehängt. (Triggerwarnung:https://bit.ly/2xyVOy5) Es ist uns unbegreiflich, wie die Polizei dazu kommen kann, das Gegenteil zu behaupten.
[…] Alle Menschen in den Besetzungen standen seit mehreren Wochen unter Dauerstress durch eine Räumung, die in einem wahnwitzigen Tempo durchgeprügelt wurde. Ständiger Lärm durch Räumungsarbeiten, Tag und Nacht Flutlichter und Blaulicht, massive Polizeipräsenz am Boden, Beschallung mit Hundegebell und Aufnahmen von Kettensägengeräuschen, sowie die Nachrichten über die immer wieder lebensbedrohliche Vorgehensweise der Einsatzkräfte, hinterlassen körperliche und seelische Spuren bei allen Beteiligten. Schlaflosigkeit, Stress und Überreizung sind Gift für die Aufmerksamkeit und Ruhe, die für sicheres Baumklettern unerlässlich sind.
Nach unseren Informationen besteht zwar kein direkter Zusammenhang mit der akuten Polizeiaktion vor Ort zum Unfallzeitpunkt. Wir wissen aber aus erster Hand, dass der Verstorbene nur deshalb erst in die Bäume geklettert ist, weil er am Boden permanent durch die Polizei an seiner Pressearbeit gehindert wurde.
“Nachdem die Presse in den letzten Tagen im Hambacher Forst oft in ihrer Arbeit eingeschränkt wurde, bin ich nun in 25m Höhe auf Beechtown, um die Räumungsarbeiten zu dokumentieren. Hier oben ist kein Absperrband.” (https://bit.ly/2MPh6NB)
[…] Es gab in den letzten Wochen zu viele Vorfälle, in denen die Gesundheit und das Leben von Aktivist*innen aufs Spiel gesetzt wurden. Die Pressefreiheit wurde während des gesamten Einsatzes regelmäßig massiv eingeschränkt. Sicherheitsrelevantes Material wie Kletterseile, Klettergurte und Feuerlöscher, wurden systematisch und in großen Mengen beschlagnahmt oder zerstört. Und den Menschen in den Bäumen wurde durch die massive Präsenz eine psychische, emotionale und körperliche Belastung zugemutet, die weder für sicheres Klettern noch für die Aufarbeitung von einem Todesfall zumutbar ist.
Die eingesetzte Polizeigewalt ist schon für sich genommen skandalös und lebensgefährlich. Der Einsatz zeigt, dass Profitinteressen vor Menschenleben stehen – und dass die Polizei dies nur zu bereitwillig durchsetzt. Denn wenn man hinter die unmittelbare Unfallsituation blickt, wird offenbar, welche Verantwortung Staat, Polizei und RWE insgesamt tragen.
Die Polizei als Privatarmee von RWE
Bei der Räumung des Hambacher Forstes hat sich die Polizei als regelrechte Privatarmee des Energieriesen RWE entpuppt. 3.500 Polizist*innen im Einsatz, um tagelang wenige hundert Aktivist*innen zu drangsalieren.
Der bürgerliche Staat hält dabei nicht einmal seine eigenen demokratischen Mindeststandards ein: Obwohl eine offiziell eingesetzte „Kohlekommission“ aktuell an einem Konzept zum Kohleausstieg arbeitet, das noch im Herbst vorliegen soll, setzen die Repressivkräfte den Wunsch von RWE um, den Hambacher Forst nun ein für alle Mal zu räumen. Der Konzern will ab Oktober den Rest dieses 12.000 Jahre alten Waldes roden – angeblich sei das „alternativlos“. Während also auf politischer Ebene noch darüber diskutiert wird, wie der Braunkohleabbau in Zukunft vermieden werden kann, schafft RWE mit der Rodung des Hambacher Forstes Tatsachen – denn diese Bäume sind nicht wieder zurückzuholen.
Dabei geht es auch nicht einfach um ein paar Bäume, die hier oder da wieder aufgeforstet werden können. Es geht um die Frage, ob die fortgesetzte Umweltverschmutzung, die längst zu einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung geworden ist, einfach durchgeprügelt werden kann – im Profitinteresse eines einzelnen Konzerns.
Besonders perfide ist, dass die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen jegliche politische Verantwortung von sich weist. Im Vorfeld des Unfalls hatte sie sich – trotz der Arbeit der Kohlekommission – vollständig hinter RWE gestellt, auf „geltendes Recht“ verwiesen und das Gespenst, einer Gefährdung der Energieversorgung, an die Wand gemalt.
Aber warum ist denn die Energieversorgung „in Gefahr“? Weil es für Riesenkonzerne wie RWE profitabler ist, die Natur bis zum letzten Rest auszupressen, anstatt alle verfügbaren Mittel in den Ausbau von regenerativen Energien zu stecken.
Nach dem tödlichen Absturz von Steffen wurde zwar die Räumung offiziell ausgesetzt, doch wie Aktivist*innen und Medien berichten, fanden in den Folgetagen weiterhin Polizeieinsätze und Räumungsarbeiten im Forst statt.
Die Position der NRW-Landesregierung ist auf mehreren Ebenen skandalös: Sie ignorieren aktuell stattfindende politische Aushandlungsprozesse – auch wenn wir von der „Kohlekommission“ rein gar nichts halten, ist die Ignoranz, selbst gegenüber diesem geringfügigen politischen Instrument der bürgerlichen Demokratie, eklatant –. Sie verprassen, mit einem massiven Polizeieinsatz von tausenden Beamt*innen, über mehrere Tage, Steuergelder, um die Profite eines Konzerns zu sichern. Sie halten sich nicht einmal an ihre eigenen Pietätsvorstellungen, nach denen sie vorerst jegliche Räumungsarbeiten einstellen wollten. So offenbart sich die Verkommenheit der bürgerlichen Demokratie, vor den Augen der Massen, mehr und mehr.Doch diese Haltung fällt nicht vom Himmel oder ist einfach durch die konservative Haltung der Landesregierung zu erklären. Das zeigt sich allein schon daran, dass auch die SPD – obwohl sie in NRW in der Opposition ist – gebunden durch die Sozialpartnerschaft, hinter RWE steht. Was ist also der wirkliche Hintergrund?
Umweltzerstörung und kapitalistischer Profit
In diesem Sommer der Extremhitze, ist einmal mehr der menschengemachte Klimawandel in die Diskussion gerückt. Und zugleich wurde dieses Jahr, nicht zuletzt durch den Ausstieg der USA aus den internationalen Klimaabkommen, erneut deutlich, dass die bisherigen Wege, den Klimawandel in den Griff zu kriegen, scheitern werden. Sowohl die vorgeschlagenen Klimaziele, als auch die verabredeten Sanktionsmechanismen, stehen in keinem Verhältnis zu der Tiefe des Klimawandels und den verheerenden Auswirkungen, die die Erhöhung der Erdtemperatur auf Ökosysteme, Meeresspiegel, Wasserknappheit, und vieles mehr haben wird.
Dabei ist es nicht so, dass niemand den Ernst der Lage erkennen würde. Mit Ausnahme von Sektoren der Ultrarechten und Verschwörungstheoretiker*innen, sind sich alle einig, dass der Klimawandel eine Gefahr darstellt. Doch radikale Maßnahmen, mit der nötigen Reichweite durchzusetzen, die ernsthaft eine Lösung für den Klimawandel sein könnten, scheitern immer wieder an den Profitinteressen der kapitalistischen Energielobby. Der Ausbau von erneuerbaren Energien, gegenüber Kohleabbau, oder die Nutzung alternativer Antriebe, statt Verbrennungsmotoren, geraten immer wieder ins Stocken. Umweltverschmutzung durch Chemiekonzerne oder die Verbrennung von Abfällen, statt Recycling, bleiben allgegenwärtig. Es ist schlichtweg profitabler.
Die Notwendigkeit der fortwährenden Akkumulation, wohnt dem Kapitalismus inne, sie ist seine treibende Kraft. Seit Karl Marx das „Kapital“ geschrieben hat, wissen wir, dass die „Selbstverwertung des Werts“ das Bewegungsgesetz des Kapitals ist. Das heißt: Der Zwang zur Anhäufung von immer mehr Kapital steht immer im Vordergrund. Die Umwelt und die Beziehung des Menschen zu ihr ist rein instrumentell – sie ist ein Element des Produktionsprozesses, dessen Zweck die Profitmaximierung ist. Es ist schlichtweg profitabler für RWE, die Braunkohle im Hambacher Tagebau, bis zum letzten Kilogramm, abzubauen, anstatt alle verfügbaren Ressourcen in eine Umgestaltung der gesamten Energieversorgung zu stecken. Auf dem heutigen Niveau der kapitalistischen Entwicklung schließen sich Umweltschutz und kapitalistischer Profit gegenseitig gänzlich aus.
Es gibt trotzdem Menschen, die einen „grünen Kapitalismus“ für möglich halten: eine „umweltschonende“ Kapitalakkumulation, bei der der Wachstums- und Profitzwang des Kapitals aus irgendeinem Grund keine umweltzerstörerischen Effekte hätte. Manche glauben sogar, dass es einen Kapitalismus ohne Wachstum geben könnte. Abgesehen davon, dass das völlig illusorisch ist, bedeutet es meist eine unverhohlene Subventionierung der Profite von Großkonzernen im Energiesektor. Auch der sogenannte „Emissionshandel“, der einst als Wunderkind des „grünen Kapitalismus“ gefeiert wurde, hat nicht nur überhaupt nicht dazu geführt, Emissionen tatsächlich zu verringern – er ist auch noch zu einem weiteren profitträchtigen Milliardengeschäft geworden.
Der Staat im Kapitalismus
Im Hambacher Forst zeigt sich exemplarisch, welche Rolle der bürgerliche Staat im Kapitalismus spielt. Seine Aufgabe ist die Durchsetzung geltenden Rechts – das heißt, die Durchsetzung desjenigen Rechts, das die Akkumulationsfähigkeit des Kapitals schützt. Das kann bedeuten, massive staatliche Investionen und Subventionen anzustoßen, damit kapitalistische Konzerne einfacher Profit machen können. Das kann auch bedeuten – wie im Falle der Weltwirtschaftskrise –, milliardenschwere Schulden von Banken und Versicherungen zu verstaatlichen, damit die Profite der Aktionär*innen nicht gefährdet sind. Oder es kann bedeuten, dass für das Profitinteresse eines Konzerns staatliche Repressivkräfte eingesetzt werden, um den Hambacher Forst zu räumen. RWE zahlt keinen Cent an den Staat für diese „Dienstleistung“. Im Gegenteil: Diejenigen, die dafür zahlen müssen, sind letztlich die Bevölkerung selbst, von der viele – wie die Demonstrationen zur Unterstützung der Besetzer*innen im Hambacher Forst gezeigt haben – gegen die Rodung des Waldes sind. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid sind 75 Prozent der Bevölkerung gegen eine Rodung des Hambacher Forst.
Gegen den Willen der Mehrheit das Profitinteresse einer kleinen Minderheit von Kapitalist*innen durchzusetzen – mal mit nackter Gewalt, mal mit subtileren Mitteln der Herstellung von Hegemonie –, das ist die Natur des Staates und seiner Organe im Kapitalismus.
Die Aktivist*innen von „Hambi bleibt!“ fordern zurecht:
„Was jetzt nötig ist, ist ein sofortiger Abzug der Polizeieinheiten und ein Stopp der Räumungs- und Rodungsmaßnahmen. Der Wald und die Menschen brauchen Ruhe, um dieses Ereignis zu verarbeiten. Außerdem sollte die Polizei ihre Einsatzstrategie und das manische Tempo der Räumung grundlegend überdenken. […] Das alles muss aufhören. Deshalb fordern wir einen sofortigen Totalabbruch des Einsatzes und die Freilassung aller Gefangenen.“
Reformismus, Sozialpartnerschaft und ein strategischer Ausweg
Eine effektive Strategie kann deshalb nur gegen den Staat aufgebaut werden. Das beste Beispiel dafür ist die Rolle der bürokratischen Führung der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE). Als angebliche Interessenvertretung der Arbeiter*innen, steht sie voll und ganz hinter der Rodung des Hambacher Forstes und hat die Räumung selbst gefordert. In der „Kohlekommission“ gehört sie zu denjenigen, die am vehementesten den Kohleabbau verteidigen und so weit wie möglich hinausziehen wollen. Das sozialpartnerschaftliche Verhältnis zur RWE-Konzernführung ist ihnen wichtiger als die Notwendigkeit, so schnell wie möglich aus der Kohle auszusteigen. Ende August hat die IG BCE sogar in Berlin eine Demonstration, mit dem Titel „Schnauze voll von Gewalt“, organisiert, die sich gegen die Aktivist*innen aus dem Hambacher Forst wandte. In Bezug auf Steffen Horst Meyn, das erste Todesopfer im Hambacher Forst, ist die IG BCE bisher erschreckend still geblieben.
Für uns ist ganz klar: Das hat nichts mit einer fortschrittlichen gewerkschaftlichen Position zu tun. Die IG BCE-Führung ist deshalb hauptverantwortlich dafür, dass die Gewerkschaften für breite Teile der Umweltbewegung nicht als Verbündete, sondern als Gegnerinnen wahrgenommen werden.
Doch auch die radikale Linke ist nicht unschuldig an dieser Situation, hat sie es doch bisher nicht vermocht, einen Schulterschluss zwischen Besetzer*innen und Beschäftigten von RWE zu erreichen. Im Gegenteil, viele RWE-Beschäftigte sehen sich viel enger an den Konzern gebunden, als an die Sache der Aktivist*innen. Und das, obwohl eine langfristige Perspektive eines ökologischen Umbaus der Energieversorgung ein gemeinsames Ziel sein kann und muss.
Hier liegt denn auch der Kern des Problems: Die Strategie der IG BCE – und ebenso der NRW-SPD – liegt darin, gemeinsam mit der RWE-Spitze und unter Berücksichtigung ihrer Profitinteressen, einen lauwarmen Deal auszuhandeln. Nur ist dabei das Problem, dass lauwarme Deals, angesichts der immer akuter werdenden Klimakatastrophe, nicht nur ineffektiv sind, sondern im Gegenteil den Weg frei lassen für die zerstörerische Kraft, die unseren Planeten in wenigen Generationen für Menschen unbewohnbar machen wird.
Dagegen kann es nur eine einzige Perspektive geben: Ein radikaler Bruch mit der sozialpartnerschaftlichen Logik und ein Schulterschluss zwischen Umweltbewegung und Beschäftigten der Energiekonzerne, für eine ökologische staatliche Energieversorgung, eine Arbeitsplatzgarantie mit Umschulungen, abgesenkter Arbeitszeit bei vollem Lohn- und Personalausgleich, und eine rationale Planung der gesamten gesellschaftlichen Produktion nach ökologischen und sozialen Kriterien, im Interesse der großen Mehrheit der Bevölkerung, nicht einer Minderheit von Kapitalist*innen.
Die aktuelle Bewegung rund um den Hambacher Forst kann dafür ein Ansatzpunkt sein, denn der Tod von Steffen hat das ganze Land aufgerüttelt. Damit er nicht vergeblich war, ist es notwendig, jetzt eine Allianz zwischen den RWE-Beschäftigten und den Aktivist*innen zu schmieden. Nur so kann die RWE-Konzernführung gestoppt werden. Am heutigen Sonntag ist vor Ort eine Großdemo mit mehr als 10.000 Menschen geplant. Auf dass sie ein Auftakt für diese Perspektive wird.