Halt nicht die andere Wange hin. Über Chemnitz, Hambacher Forst und Selbstverteidigung
Nazis jagen Migrant*innen durch die Straßen. Die Polizei räumt Baumhäuser für RWE. Darf man sich da wehren? Yunus Özgür zur Frage der Gewalt in der Klassengesellschaft.
Was verstehe ich unter Gewalt? Ich definiere die Gewalt als die Machtausübung einer bestimmten Klasse, Gruppe oder Person auf eine andere Klasse, Gruppe oder Person.
Im Kapitalismus stehen sich, wie auch im Feudalismus oder der Sklavengesellschaft, Klassen gegenüber, die gegensätzliche Klasseninteressen haben. Der Staat, der in einer fiktiven und wünschenswerten „gewaltfreien“ Gesellschaft das Gewaltmonopol hat, ist nichts als ein Unterdrückungsmechanismus einer Klasse von Kapitalist*innen. Das sind die Eigentümer*innen der Produktionsmitteln, die über eine andere Klasse herrschen, nämlich die Lohnabhängigen. Das sind diejenigen, die ihren Lebensunterhalt dadurch verdienen, dass sie ihre Arbeitskraft verkaufen. Der Staat und die herrschende Klasse nutzen also Gewalt, um ihre materiellen Interessen zu verteidigen und durchzusetzen.
Somit ist unter Gewalt nicht nur die physische zu verstehen, sondern jeder Akt der Gewaltausübung. Eine Gerichtsentscheidung der Judikative, die einen Streik verbietet, ist genauso ein Gewaltakt, wie die physische Repression gegen linke Aktivist*innen gerade im Hambacher Forst. Jedoch haben wir, die Arbeiter*innen und Unterdrückten, auch Methoden, um unsere Interessen zu verteidigen und auf die Unterdrücker*innen Gewalt auszuüben. Wenn Kolleg*innen gegen Entlassungen oder für Lohnforderungen in den Streik treten und gegen den Willen der Besitzer*innen die Produktion stoppen, ist das ebenfalls ein Akt der Gewalt.
In dieser Klassengesellschaft sind wir tagtäglich mit Gewalt konfrontiert. Wenn ich nur wegen meiner Hautfarbe auf dem Hermannplatz von der Polizei kontrolliert werde. Es ist ein rassistischer Gewaltakt, der vom bürgerlichen Staat durch ihre Vollzugsbeamt*innen ausgeübt wird.
Hier ist es wichtig, zwischen der Gewalt der Unterdrückenden und Unterdrückten zu unterscheiden. Die Gewalt der Unterdrückenden zielt darauf ab, ein bestehendes Unterdrückungsverhältnis zu verteidigen, fortzusetzen oder auszuweiten. Hingegen zielt die Gewalt der Unterdrückten und Ausgebeuteten darauf ab, sich gegen diese Unterdrückung zu wehren, sich davon zu befreien.
Gewaltfreiheit ist eine idealistische Illusion
Ein beliebtes liberales Argument lautet: „Gewalt ist für mich – egal von wem praktiziert – ein absolutes No-Go und zeugt in meinen Augen von der Unfähigkeit zu kommunizieren.“
In dieser Argumentation ist die Gewalt der Unterdrückten und Underdrückenden gleich ungerechtfertigt. Sie empfiehlt also einer Frau, die von ihrem Ehemann systematisch physische Gewalt erfährt, dass sie sich nicht physisch dagegen wehren sollte.
Wenn Geflüchtetenheime von Nazis in Brand gesteckt werden, sollten die Geflüchteten sich nicht dagegen physisch wehren und auf die Hilfe vom Staat warten (die Gewalt des Staates ist für die Liberalen ja gerechtfertigt). Wie die NSU-Prozesse und Skandale der Verfasssungsschutzes oder der Polizei zeigen, ist derselbe Staat mit Neonazistrukturen verschmolzen und schaut einfach zu. Laut den Liberalen sollen sich Geflüchtete bei Angriffen also nicht einmal wehren dürfen.
Für sie gibt es keinen Unterschied zwischen dem Kampf der unterdrückten Völker, die systematisch massakriert werden, die sich notwendigerweise in der einen oder andere Form gegen die Unterdrückung und gegen den Staat der unterdrückenden Nation wehren.
Der Satz „Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem anderen zu“, drückt eine naive und idealistische Vorstellung von der Welt aus. Als ob es sich bei der Ausübung der Gewalt nicht um materielle Interessen handelte. Solange es in der Gesellschaft unterschiedliche Klassen gibt, die sich ökonomisch gegenüber stehen und solange die Kapitalist*innen von Unterdrückungsmechanismen wie Rassismus und Sexismus profitieren, solange es einen Kampf der Unterdrückten und Ausgebeuteten gegen die Gewalt gibt, die sie erfahren, solange gibt es den Staat. Er ist nichts anderes als das Unterdrückungsorgan einer Klasse gegen die andere (sei es ein bürgerlicher oder proletarischer Staat).
Das Ende von Gewalt und Kriegen wird nicht durch moralische Appelle, sondern durch den siegreichen Kampf der Arbeiter*innenklasse und der unterdrückten Teile der Gesellschaft gegen den Kapitalismus erreicht. Er mündet in der Zerschlagung des bürgerlichen Staates, der Enteignung der Kapitalist*innen und der Errichtung einer sozialistischen Räterepublik der Arbeiter*innen, die durch Rätestrukturen von unten bis oben demokratisch aufgebaut wird und nach einem demokratischen Plan produziert. Dieser demokratische Staat würde die Aufgabe haben, über die ehemaligen Herrschenden zu herrschen, ihre Organe und Organisationen zu unterdrücken und somit die Herrschaft der Ausgebeuteten und Unterdrückten zu sichern.
Je mehr die Klassenunterschiede in der Gesellschaft verschwinden und Unterdrückung und Benachteiligung materiell beseitigt wird, umso weniger wird es die Notwendigkeit geben, dass der neue demokratisch organisierte proletarische Staat seine Macht ausübt. Erst wenn alle Klassenunterschiede verschwinden, wird es eine gewaltfreie Gesellschaft geben. Alles andere ist entweder eine Täuschung oder kleinbürgerlicher Idealismus.
So müssen das Proletariat und die Unterdrückten in ihrem Kampf für eine Gesellschaft ohne Gewalt die Gewalt selbst verwenden.
„Heißt es dann, dass alle Mittel erlaubt sind?“
Marxist*innen stellen sich im Kampf der Unterdrückten und Ausgebeuteten gegen die herrschenden Klassen vorbehaltlos auf die Seite der Unterdrückten. Seien es Frauen, die sich gegen sexualisierte Gewalt wenden, sei es das kurdische oder palästinensische Volk gegen die türkischen oder israelischen Besatzerstaaten, oder Arbeiter*innen, die gegen eine Entlassungswelle ihre Fabrik besetzen.
Diese Solidarität mit dem Kampf heißt jedoch nicht, dass jedes Mittel strategisch sinnvoll, also „erlaubt“ ist. In dem Kampf für eine befreite Gesellschaft hilft uns eine moralische Definition von „erlaubt sein“, nicht. Wir müssen sie vielmehr nach ihrem strategischen Sinn für den Kampf selber messen.
Alle Mittel sind erlaubt, die die Kampfkraft, Selbstvertrauen und Selbstorganisierung der Massen erhöhen. Nicht „erlaubt“ ist, was die Kampfkraft der Massen hemmt, sie demoralisiert oder Illusionen in „Abkürzungen“ schürt.
So ist der individuelle Terrorismus, der nur Akt von Einzelnen ist, nicht „erlaubt“, weil er sich nicht auf die Organisierung und Mobilisierung breiter Schichten der Gesellschaft stützt, sondern auf das Held*innentum von Einzelnen. Individuelle Gewalt gegen Minister*innen oder Staatsbeamt*innen führt nur zu mehr Respression und innerer Militarisierung, ohne den Staat den geringsten Schaden hinzugefügt zu haben. Zusätzlich führen die guerilla-typischen Aktionen dazu, dass die Massen anfangen, ihre Hoffnungen auf den Kampf von einzelnen Held*innen zu richten, anstatt selbst aktiv zu werden.
Hingegen sind Aktionen der „Massengewalt“ erlaubt, wie Streiks, Besetzungen, Mobilisierungen gegen faschistische Demonstrationen, Selbstverteidigungsstrukturen von Arbeiter*innen und Unterdrückten und deren Aktionen, um sich zu verteidigen, weil sie die Kampfkraft und das Bewusstsein der Massen erhöhen.
„Aber die AfD wurde doch demokratisch gewählt…“
Während es jeden Tag deutlicher wird, dass Nazistrukturen und AfD zusammenwachsen und fusionieren, ist es heuchlerisch, ihre demokratischen Rechte zu verteidigen. Während Hetzjagden auf Migrant*innen von AfDler*innen stattfinden, sollte man sie auf der Straße nicht konfrontieren, weil sie „demokratisch legitimiert“ sind? Die NSDAP wurde auch demokratisch legitimiert und konnte einen bedeutenden Teil der Gesellschaft hinter ihrem faschistisch-kleinbürgerlichen Programm im Interesse des Großkapitals versammeln. Hätte man nicht versuchen sollen, ihre Parteitage zu blockieren oder gegen die faschistischen Banden auf der Straße zu kämpfen?
Diese reformistische, sozialdemokratische Haltung war es, die dem Faschismus den Weg zur Macht eröffnet hat. Die Weigerung der SPD, Selbstverteidigungseinheiten der Arbeiter*innen aufzubauen und Faschist*innen auf der Straße zu bekämpfen, führte dazu, dass die Faschist*innen die Arbeiter*innenorganisationen zerschlagen haben und dass das deutsche Proletariat kampflos gegenüber dem Faschismus kapituliert hat.
Aber nicht nur die SPD war an dem Sieg des Faschismus schuld, sondern auch die KPD mit ihrer „Sozialfaschismus-These“. Laut der KPD-Linie war die SPD der linke Teil des Faschismus, mit dem man daher nicht zusammenarbeiten brauche. Mit ihrer Weigerung, die SPD unter Druck zu setzen und mit ihr eine gemeinsame Einheitsfront gegen den Faschismus zu bilden, trug somit auch die KPD zum Sieg der Nazis bei.
Der bürgerliche Staat und die Kapitalist*innen haben so wie heute einfach zugeschaut und den Faschist*innen die Macht überlassen. Ihre Angst vor einer sozialistischen Revolution und Enteignungen war viel größer als ihre Ablehnung, die formelle Macht an die Faschist*innen zu geben. Unter dem Faschismus hatte die Bourgeoisie formell nicht ihre eigenen Organisationen an der Macht, doch war ihre materielle Klassenherrschaft über die Gesellschaft durch die Zerschlagung der Arbeiter*innenklasse so stark wie noch nie.
Selbstverständlich droht heute keine unmittelbare faschistische Gefahr. Jedoch gelten die Strategien und Taktiken der Arbeiter*innenbewegung nach wie vor.
Wir können uns nicht im Kampf und in der Verteidigung gegen den Faschismus auf den bürgerlichen Staat verlassen. Wie der NSU-Prozess, Verfassungsschutzskandale, Pegizei oder die angebliche „Überforderung“ der Polizei zeigen, ist der Staat in diesem Kampf kein Verbündeter, sondern ein Gegner. Wir brauchen nicht mehr Polizei, sondern Selbstverteidigungsstrukturen. Wir brauchen keinen starken Verfassungsschutz, der in erster Linie Linke, Migrant*innen und Revolutionär*innen verfolgt oder kriminalisiert, sondern dessen Abschaffung.
Was wir brauchen, ist eine antifaschistische Front der Arbeiter*innen und Unterdrückten, aller Arbeiter*innenorganisationen von SPD und Linkspartei bis zu den Gewerkschaften, die sich in Betrieben, Schulen, Universitäten und in Nachbarschaften unabhängig vom Staat und den Kapitalist*innen organisieren.
Auch wenn wir mit den Sozialdemokrat*innen nicht die selbe Strategie oder die selben Positionen haben, werden wir sie und ihre Parteien gegen die Angriffe der Faschist*innen oder des Staates verteidigen, ohne aber unsere Kritik an ihrer politischen Auffassung zu verheimlichen. Ich erwarte von ihnen, dass sie im umgekehrten Falle das Selbe tun.