Häusliche Gewalt und erzieherische Überlastung – Auswirkungen der Pandemie auf die Kinder- und Jugendhilfe

31.05.2022, Lesezeit 7 Min.
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Bild: Ballygally View Images/ Shutterstock.com

Ein Erzieher mit jahrelanger Erfahrung in der stationären Kinder- und Jugendhilfe berichtet aus dem Betrieb in Zeiten der Pandemie.

Die Corona Pandemie forderte unsere Gesellschaft in nahezu allen Lebensbereichen heraus. Überall folgten daraus Veränderungen, meist negative. Viel wurde darüber gesprochen, welche Auswirkungen sie beispielsweise in den Schulen oder in der Wirtschaft hatten; wie Kunst und Kultur, aber auch Sportvereine betroffen waren. Zu selten wird jedoch über die Randgruppen unserer Gesellschaft berichtet. Was ist also mit den Kindern und Jugendlichen, die nicht nur einfache Schüler:innen oder Mitglieder im Fußballverein sind? Wie sehr hat sich die Situation der Kinder- und Jugendhilfe seit Corona verändert?

Zur Zeit des ersten Lockdowns der Corona Pandemie, der in Deutschland am 22. März 2020 begann, traten für uns alle große Veränderungen auf. Täglich neue virologische Erkenntnisse, täglich neue Prognosen zum Verlauf der Pandemie und auch täglich neue Debatten darüber, wie ein solcher Lockdown sich wohl auf die Wirtschaft auswirken wird. Am Rande davon fanden aber auch weniger populäre Auseinandersetzungen mit der Pandemie statt; zum Beispiel welche Folgen innerhalb der Familien zu befürchten sind. Expert:innen warnten vor Verschärfungen im Hinblick auf häusliche Gewalt. Aus Statistiken des Weißen Rings geht hervor, dass die Anfragen mittels anonymer Telefon-Hotline des Vereins im Jahr 2020 um rund 20 Prozent anstiegen. Den Zahlen des Bundesamtes für Familie zufolge sind die Opfer häuslicher Gewalt in vier von fünf Fällen Frauen. Hinsichtlich der Kinder und Jugendlichen muss festgehalten werden, dass häusliche Gewalt in dieser Statistik als Partnerschaftsgewalt definiert wird und somit die Lage von Kindern und Jugendlichen nicht erfasst wird. Laut dem Statistischen Bundesamt erhöhten sich die Gefährdungseinschätzungen der Jugendämter im Jahr 2020 um 12 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Kindeswohlgefährdung ist längst nicht nur eine Frage davon, ob Kinder und Jugendliche selbst Opfer von physischer Gewalt sind. Traumatisch, vor allem für junge Heranwachsende, ist auch die Gewalt unter den Eltern, die sie tagtäglich mitbekommen.

Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie, die sich im prekären Bevölkerungsanteil, in beengten Wohnverhältnissen, am stärksten bemerkbar machten, wirkten als Multiplikatoren für Aggressionen. Familien, in denen ohnehin schon Gewaltpotential herrschte, waren über einen langen Zeitraum dazu gezwungen, zusammen zu sein. Es fehlten Möglichkeiten für die Opfer dieser Verhältnisse, also hauptsächlich Frauen und Kinder, diesem Zustand zu entfliehen, da Schulen, Sportvereine und sonstige soziale Umfelder außerhalb der Wohnung nicht existent waren. Da die Jugendämter vor der Pandemie etwa 17 Prozent ihrer Meldungen aus Kindertagesstätten und Schulen erhielten, fiel für sie durch die Schließung dieser Einrichtungen eine wichtige Informationsquelle weg. Aber auch die Meldungen, 15 Prozent aus privatem Umfeld und von anonymen Personen, könnten sich verringert haben, da es weniger Berührungspunkte mit Menschen gab, die nicht direkte Nachbarn sind. Zusätzlich dazu arbeiteten auch die Jugendämter bundesweit unter starken Einschränkungen. Eine direkte Intervention in den Familien, unabhängig davon ob diese schon länger durch das Jugendamt begleitet werden oder nicht, wurde erschwert.

Persönliche Beobachtungen aus dem Bereich der Kinder- und Jugendhilfe

Diese Ansammlung an Bedingungen macht sich heute, zwei Jahre nach dem ersten Lockdown, immer mehr auch in den sogenannten Hilfen zur Erziehung bemerkbar. Diese sind im SGB VIII (Achtes Sozialgesetzbuch) gesetzlich geregelt und stellen die praktischen Möglichkeiten der Jugendämter dar, um externe Unterstützung für Familien anbieten zu können. Das Angebot reicht hierbei von Familienberatungsstellen, über pädagogisches Fachpersonal, welches die Familien zu Hause besucht, bis hin zu stationären Einrichtungen, die für Kinder ein sicheres Wohnumfeld bieten, wenn dies bei ihren Eltern nicht mehr gegeben ist.

Als langjähriger Angestellter einer solchen stationären Wohneinrichtung im Münchner Umland habe ich die konkreten Entwicklungen seit der Corona Pandemie miterlebt. Es dauerte eine gewisse Zeit bis eine Verschärfung spürbar wurde. Im ersten Jahr passierte weniger als erwartet, während unter Kolleg:innen im zweiten Jahr immer mehr der Eindruck entstand, dass die dramatischen, biographischen Einschnitte bei Neuaufnahmen immer deutlicher wurden. Nun, im dritten Jahr der Pandemie rücken immer mehr strukturelle Veränderungen, die im Zuge der Pandemie entstehen, in den Vordergrund. Die Anfragen für Plätze in sozial- und heilpädagogischen Wohngruppen sinken, während immer mehr Nachfrage an intensivpädagogischen und traumatherapeutischen Maßnahmen herrscht. Dies führt zu Schließungen oder Umwandlungen von Angeboten, was zusätzlichen Stress für alle betreuten Kinder und Jugendliche bedeutet. Es ist ein klares Zeichen dafür, dass die Pandemie und damit einhergehend die im vorherigen Absatz geschilderten Umstände, einen spürbaren Effekt auf viele Familien haben.

Überlastung von pädagogischem Personal während der Pandemie

Die Verschärfungen, die die Pandemie für das Klientel der Kinder- und Jugendhilfe bedeutet, wirken sich auch direkt auf das pädagogische Personal und deren Arbeitsbedingungen aus. Die Arbeit, die in den Einrichtungen geleistet werden muss, wird für die knapp 290.000 Erzieher:innen und Sozialpädagog:innen stetig anspruchsvoller und psychisch herausfordernder. Besonders zu Zeiten der Schulschließungen im ersten Lockdown, aber auch in den darauffolgenden Homeschooling Phasen waren die Pädagog:innen in den Wohngruppen überfordert. Den Bildungsauftrag der Schulen tagtäglich zu übernehmen, war faktisch unmöglich. Viel thematisiert wurden die Schwierigkeiten für Familien, vor allem für solche, die von Armut betroffen sind oder Migrationsgeschichte haben. Man stelle sich nun aber auch mal vor, wie dies für ein bis zwei diensthabende Pädagog:innen funktionieren soll – mit neun Kindern und Jugendlichen.

Nicht wegzudenken ist hierbei der andauernde Personalmangel im Erziehungssektor, welcher sich während der Wellen der Pandemie durch Quarantäne- und Isolationsausfälle noch mehr verstärkte. Innerhalb dieses Sektors musste die Kinder- und Jugendhilfe auch während der Pandemie um ihre Anerkennung kämpfen. Lange waren Angestellte im Vergleich zu Erzieher:innen, die zum Beispiel in Kindertagesstätten arbeiten, nicht in die Impfpriorisierung einbezogen und wurden in der Debatte um die Corona Sonderzahlungen zunächst nicht berücksichtigt.

Streiks im Sozial- und Erziehungsdienst

In den vergangenen Wochen fanden Tarifverhandlungen statt, die priorisierend auf Verbesserung der Arbeitsbedingungen abzielen sollten. Ein Ergebnis gibt es seit dem 18. Mai, dieses soll nun den Mitgliedern der verhandlungsführenden Gewerkschaft ver.di zur Abstimmung vorgelegt werden. Eine ausführliche Bilanz zu den Inhalten gibt Aufschluss darüber, wieso dieser Vorschlag abgelehnt werden sollte. Aufgrund großer Hürden, wie eine Dreiviertelmehrheit gegen das Verhandlungsergebnis, die dann erst zu einer Urabstimmung führen würde, ist ein Abschluss dieser Tarifrunde der wahrscheinliche nächste Schritt. Trotz einer großen Unzufriedenheit bei vielen Kolleg:innen im Sozial- und Erziehungsdienst. 130€ mehr im Monat und zwei zusätzliche Urlaubstage können weder dem Personalmangel, noch der Inflation entgegenwirken!

Wir fordern deshalb 100 Milliarden für Soziales und nicht für Aufrüstung! Für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, aber auch strukturelle Verbesserungen für die Kinder- und Jugendhilfe, um eine wirkliche Hilfe für Familien und Kinder zu ermöglichen!

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