Hände weg von Haiti und nieder mit dem IWF!

18.10.2022, Lesezeit 10 Min.
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Quelle: Digital Democracy (CC BY-NC-SA 2.0)

Wir veröffentlichen die Erklärung der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale (FT-CI) gegen die Vorbereitung einer neuen Militärintervention in Haiti durch die USA und die UNO.

Zur Zeit bereitet der US-Imperialismus mit der Komplizenschaft der UNO und der von den Massen abgelehnten haitianischen Regierung eine neue Militärintervention in dem karibischen Land vor. Obwohl sie die Kontrolle krimineller Banden und die soziale Krise als Vorwand benutzen, richtet sich die Intervention in Wirklichkeit gegen die Massenbewegung, die heroisch gegen die anhaltende soziale Katastrophe kämpft. Diese Krise wurde durch die Sparmaßnahmen des IWF und die Politik der korrupten Regierung von Ariel Henry verschärft, die dem Land von den USA aufgezwungen wurde.

Die Massenbewegung steuert nach den anhaltenden, ununterbrochenen Protesten der letzten Monate auf einen Prozess der Rebellion zu. Angesichts dessen versucht der Imperialismus, die Rebellion um jeden Preis zu beschwichtigen, um Probleme in seinem eigenen Hinterhof zu vermeiden. Dies geschieht zu einem Zeitpunkt, an dem der Krieg in der Ukraine eskalieren und die globale Situation weiter belasten könnte. Die Intervention findet außerdem inmitten einer neuen Dynamik des Klassenkampfes in Europa statt.

Die Farce der Banden

Es ist unbestreitbar, dass bewaffnete paramilitärische Gruppen seit der Machtübernahme der Marionettenregierung von Henry in dem Karibikstaat an Boden gewonnen haben. Ihr Aufstieg ging einher mit einer Verschlimmerung des Elends, das durch Nahrungsmittelknappheit und steigende Treibstoffpreise noch verstärkt wurde. Die USA, die UNO und die haitianische Regierung verschweigen jedoch zynischerweise, dass sie selbst historische Verbindungen zum organisierten Verbrechen unterhalten und die Entstehung dieser Banden durch repressive staatliche Kräfte gefördert haben.

Die bewaffneten Gruppen, die die haitianische Regierung und das Kapital gegen Massenbewegungen eingesetzt haben, sind nicht neu. Diese Banden haben sich parallel zu den Kräften des Kapitals und des Staates entwickelt – verschiedene Fraktionen des Regimes haben nach eigenem Ermessen die von ihnen gewählten Banden unterstützt. Und heute haben sie im Zusammenhang mit dem großen Zusammenbruch von Staat und Regierung die „Kontrolle“ verloren.

Selbst das Nationale Netzwerk zur Verteidigung der Menschenrechte (Red Nacional de Defensa de los Derechos Humanos – RNDDH) hat angeklagt, dass die Regierung bewaffnete Banden einsetzt, um ein Klima des „Terrors“ im Land zu schaffen. In der Tat hat die Regierung den Banden die notwendigen „Mittel“ zur Durchführung der Angriffe zur Verfügung gestellt, indem sie ausdrücklich erklärte: „Um diesen neuen Krieg zu führen, hat das Nationale Ausrüstungszentrum (Centro Nacional de Equipamiento – CNE) – eine staatliche Einrichtung – der G-9 und der Fanmi e Alye (Familien und Verbündete Bande) schwere Maschinen zur Verfügung gestellt, um Häuser zu zerstören und einen Durchgang zu Jean Pierres Versteck zu bauen.“

Das eigentliche Problem ist die Regierung von Ariel Henry, die von imperialistischen Kräften unterstützt wird

Die Regierung von Ariel Henry wird zu Recht von breiten Teilen der Massen abgelehnt. Henry übernahm die Macht nach der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse im Juli 2021, mitten in einer offenen Krise der Staatsmacht. Die Ermordung wurde nie vollständig aufgeklärt, da sie im Zusammenhang mit einer vorangegangenen Mobilisierungswelle gegen Moïse geschah. Der ehemalige Präsident war am Ende seiner Amtszeit im Stil eines wahren Selbstputsches an der Macht geblieben, indem er die Politik der Unterwerfung unter den Imperialismus unterstützte und die demokratischen Freiheiten beschnitt.

Aber allem Anschein nach hat sich Henry im Juli 2021 mit imperialistischer Billigung durchgesetzt, mit voller Unterstützung der so genannten Kerngruppe oder Kontaktgruppe, die von den USA angeführt wird und der Frankreich, der Spanische Staat, Brasilien, Deutschland und Kanada angehören. Die UNO und die OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) haben seine „Ernennung“ unterzeichnet, die keinerlei Nachfolgepläne respektierte und von der Bevölkerung nicht unterstützt wurde. Mit anderen Worten: eine offene Verletzung der Souveränität des haitianischen Volkes.

Im August desselben Jahres unterzeichneten verschiedene Organisationen das so genannte Montana-Abkommen, in dem eine Übergangsregierung vorgeschlagen wurde, die das Land bis zur Ausrufung „sicherer, freier und fairer Wahlen“ regieren sollte. Mit dem Abkommen sollte die Explosion von Massenbewegungen vermieden und eine politische Lösung für die herrschende politische Krise gefunden werden. Doch weder der US-Imperialismus noch die Kerngruppe, die UNO oder die OAS und nicht einmal Henry selbst waren bereit, dies zu akzeptieren, sondern zogen es vor, die korrupte De-facto-Regierung aufrechtzuerhalten. Dadurch geriet das Montana-Abkommen ins Stocken und wurde zu einem symbolischen Ausdruck eines politischen Auswegs angesichts der Unzufriedenheit und des zunehmenden Zusammenbruchs der Regierung. In der Zwischenzeit erstarkte die Massenbewegung und füllte mit immer massiveren Protesten direkt die Straßen. Die Bewegung zeigte ihren Hass auf eine Regierung, die in den vergangenen 14 Monaten nichts anderes getan hat, als das Elend der haitianischen Bevölkerung zu verschlimmern.

Mit einem eindeutigen Legitimationsproblem und angesichts einer Bevölkerung, die im Elend versinkt, unterzeichnete Henry im Juni dieses Jahres ein Abkommen mit dem IWF. Das Abkommen bedeutete strenge Sparmaßnahmen im Rahmen der „Ausrichtung“ der Finanzorganisation, um „den Behörden zu helfen, eine Bilanz der Umsetzung der ihnen anvertrauten Politiken zu ziehen“, was „möglicherweise den Weg“ zu einem internationalen Kreditprogramm öffnet. Mit anderen Worten: Haiti könnte möglicherweise ein Darlehen erhalten, wenn es die notwendigen Sparmaßnahmen durchführt.

Dieses Abkommen sieht unter anderem vor, die Treibstoffsubventionen in naher Zukunft abzuschaffen und die Kosten direkt auf die haitianische Bevölkerung abzuwälzen, was die Lebenshaltungskosten in die Höhe treibt und das Elend vergrößert. Als Henry das Ende der Treibstoffsubventionen ankündigte und behauptete, es fehle an Mitteln, um sie aufrechtzuerhalten, würde der von der Regierung festgelegte Preis pro Gallone (3,79 Liter) Benzin von 2 auf 4,78 Dollar, Diesel von 3 auf 5,60 Dollar und Kerosin von 3 auf 5,57 Dollar steigen. Dies hat die Proteste entfacht, die sich bereits verschärft haben und zu einer vollständigen Lähmung der Hauptstadt Port-au-Prince sowie anderer Städte geführt haben.

Eine zentrale Forderung der Massenbewegung ist der Rücktritt der derzeitigen Regierung. Das ist eine absolut berechtigte Forderung, da die imperialistische Herrschaft und die verschiedenen Marionettenregierungen jede Form der Selbstbestimmung des haitianischen Volkes verhindert haben.

Aber die gegenwärtigen sozialen Unruhen, die Wut und die Proteste sind nicht vom Himmel gefallen – sie brauen sich seit mindestens 2021 zusammen, im Kampf gegen die vorherige Moïse-Regierung, und noch viel früher. Eine mögliche Militärintervention würde sich gegen diese Massenbewegung richten. Wie wir wissen, haben die USA in der Vergangenheit Staatsstreiche in Haiti unterstützt und Präsidenten eingesetzt, die den wirtschaftlichen und politischen Interessen des Imperialismus freundlich gesinnt waren. Die USA haben das Land sogar militärisch besetzt, entweder direkt oder über multinationale „Befriedungstruppen“.

Die Heuchelei der UNO, Bidens und der „progressiven“ Regierungen

Aus all diesen Gründen verbergen Henrys Forderungen nach einer militärischen Intervention unter dem Vorwand der Banden und der sozialen und gesundheitlichen Krise das wahre Ziel: eine Intervention zum Erhalt der Regierung mit internationaler Unterstützung. Diese Intervention zielt darauf ab, die Massenmobilisierungen und ihre Organisationen zu unterdrücken, die sich in Wirklichkeit gegen die bewaffneten Banden stellen.

Es ist heuchlerisch von UN-Generalsekretär António Guterres, die Länder aufzufordern, die sofortige Entsendung einer internationalen Spezialtruppe zur Bewältigung der humanitären Krise zu erwägen. Guterres führt die Existenz von Banden und den Ausbruch der Cholera an, um ein militärisches Eingreifen zu rechtfertigen, vergisst aber zwei Dinge zu erwähnen. Erstens gibt es, wie bereits erwähnt, eine haitianische Massenbewegung, die die derzeitige De-facto-Regierung ablehnt. Zweitens gab es die vorherige Militärintervention im Rahmen der UN, MINUSTAH (Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Haiti), die 13 Jahre lang, von 2004 bis 2017, andauerte. Verschiedene lateinamerikanische Länder (u. a. Brasilien, Argentinien, Bolivien unter Lula, der ersten Kirchner-Regierung bzw. Evo Morales) beteiligten sich an einer militärischen Besatzung auf Ersuchen der USA oder führten sie zusammen mit Truppen aus anderen Ländern an. Dies verletzte die Souveränität des haitianischen Volkes und führte zu allen Arten von Misshandlungen und Morden, einschließlich Hunderten von sexuellen Übergriffen auf Frauen.

Diese Art der militärischen Besetzung hat nur dazu gedient, die Aufstände des Volkes zu unterdrücken und jeden Prozess der nationalen Selbstbestimmung zu unterbinden. Haiti ist seit der heldenhaften Revolution der Schwarzen Sklaven ständiger militärischer, wirtschaftlicher und politischer Aggression der verschiedenen imperialistischen Mächte ausgesetzt, insbesondere der USA, die das Land zu Beginn des 20. Jahrhunderts sogar fast 20 Jahre lang besetzt hielten. Das „Vergessen“ der MINUSTAH ist die Rechtfertigung für die Politik der ständigen imperialistischen Aggression, die auch vom französischen Imperialismus und der UNO mit der Komplizenschaft der lateinamerikanischen Regierungen bereitwillig fortgesetzt wird.

Am 21. Oktober wird der UN-Sicherheitsrat die Frage Haitis diskutieren. Einem US-Beamten zufolge hat die Regierung Biden bereits eine Resolution des Sicherheitsrates ausgearbeitet, die die sofortige Entsendung einer schnellen Eingreiftruppe nach Haiti unterstützen würde. Daher wird die Besetzung wahrscheinlich ähnlich wie bei MINUSTAH von Soldaten aus den Juniorpartnerstaaten des US-Imperialismus durchgeführt werden. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels hat der stellvertretende Staatssekretär für Angelegenheiten der westlichen Hemisphäre, Brian Nichols, die Insel besucht, um die Situation zu „analysieren“ und den Antrag auf militärische Intervention zu bewerten.

NEIN zu jeder Art von imperialistischer Militärintervention in Haiti!

Es gibt keine Lösung für die Krise in Haiti durch militärische Interventionen unter der Regie des US-Imperialismus oder durch die Fassaden der internationalen Organisationen, die ihm zu Diensten stehen, wie die UNO oder die OAS, die dem US-Imperialismus gefügige Regierungen aufzwingen. Dies hat sich im Laufe der Jahre in verschiedenen Teilen der Welt, insbesondere in Lateinamerika, gezeigt. Sie haben die internen Probleme des Landes jahrzehntelang vertieft und das haitianische Volk noch tiefer ins Elend gestürzt.

Die Massen und Völker des Kontinents müssen NEIN sagen zur imperialistischen Militärintervention in Haiti oder zu allen Varianten der Militärintervention im Rahmen der UNO, wie MINUSTAH. Die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten in Lateinamerika und der Karibik sind die Hauptakteur:innen angesichts dieser sich anbahnenden neuen Aggression, die nur dazu führen kann, die imperialistischen Gelüste in der Region zu verdoppeln. Die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten müssen die grundlegenden Forderungen des haitianischen Volkes unterstützen.

Die US-amerikanische Arbeiter:innenklasse kann und muss ihrerseits den Aufstand in Haiti unterstützen, indem sie sich im Herzen des Imperialismus organisiert, um die Forderungen des haitianischen Volkes zu unterstützen. Die Kämpfe, die in den USA gegen die Inflation und die Angriffe auf die demokratischen Rechte geführt werden, müssen die vollständige Ablehnung jeder imperialistischen Intervention beinhalten. Sie müssen auch die kriminelle Politik der US-Regierung gegenüber haitianischen Migrant:innen, die in Texas und anderswo verfolgt und unterdrückt werden, sowie den Rassismus, dem sie in Lateinamerika zum Opfer fallen, ablehnen.

In Haiti selbst können nur die Arbeiter:innen und die unterdrückten Menschen den Kampf gegen das herrschende Elend, die herrschenden Klassen und ihre korrupten, vom Imperialismus unterstützten Regierungen führen. Dazu ist es notwendig, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und sich im Eifer des Gefechts für ihre eigenen Forderungen gegen jede Art von militärischer Intervention sowie gegen jede als „Friedensmission“ getarnte Besatzungsmacht stellen. In der Hitze seines Kampfes muss das haitianische Volk seine eigenen Massenorganisationen stärken, indem es Organisationen der Selbstbestimmung gründet, die nur auf ihre eigenen Kräfte vertrauen, mit der Perspektive einer Regierung der Arbeiter:innen und Unterdrückten –der einzigen Regierung, die die Krise wirklich und endgültig lösen kann.

Die Trotzkistische Fraktion-Vierte Internationale (FT-CI) ruft alle Organisationen, die sich als antiimperialistisch und demokratisch verstehen, die Organisationen der Arbeiter:innen, der sozialistischen Linken, der Menschenrechte, der sozialen Bewegungen, sowie alle Arbeiter:innen, Jugendlichen und Frauen, die sich für ihre Forderungen auf dem Kontinent einsetzen, dazu auf, ihre Kräfte zu bündeln und jede Art von Militärintervention in Haiti kategorisch abzulehnen.

Nein zur Militärintervention in Haiti!

Raus mit dem Imperialismus aus Haiti, Lateinamerika und der Karibik!

Wir stehen an der Seite der haitianischen Massen in ihrer Rebellion und ihren innigsten Forderungen!

Nieder mit dem IWF!

Für das Selbstbestimmungsrecht des haitianischen Volkes!

Für ein sozialistisches Haiti im Rahmen einer Föderation der Sozialistischen Republiken Lateinamerikas und der Karibik!

ARGENTINIEN: Partido de los Trabajadores Socialistas (PTS) / BRASILIEN: Movimento Revolucionário de Trabalhadores (MRT) / CHILE: Partido de Trabajadores Revolucionarios (PTR) / DEUTSCHLAND: Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO) / SPANIEN: Corriente Revolucionaria de Trabajadoras y Trabajadores (CRT) / MEXIKO: Movimiento de las y los Trabajadores Socialistas (MTS) / BOLIVIEN: Liga Obrera Revolucionaria (LOR-CI) / VENEZUELA: Liga de Trabajadores por el Socialismo (LTS) / USA: Left Voice / URUGUAY: Corriente de Trabajadores Socialistas (CTS) / PERU: Corriente Socialista de las y los Trabajadores (CST) / COSTA RICA: Organización Socialista Revolucionaria (OSR).

Erstmals veröffentlicht auf Spanisch am 16. Oktober in La Izquierda Diario.

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