Großbritannien vor den Wahlen: Corbyn holt auf und fordert mehr Polizei

07.06.2017, Lesezeit 7 Min.
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Am Donnerstag finden die vorgezogenen Parlamentswahlen in Großbritannien statt. Labour-Chef Jeremy Corbyn griff die konservative Premierministerin nach dem Anschlag am Samstag in London dafür an, bei der Polizei gekürzt zu haben. Derweil kommt seine Partei in Umfragen den Tories immer näher.

Nach den jüngsten Umfragen geht ein Gespenst um in Westminster, dem politischen Zentrum von Großbritannien: Schafft es die Labour-Partei von Jeremy Corbyn doch noch, den Konservativen ihren sicher geglaubten Sieg aus dem Händen zu reißen? Sollte dieser Fall eintreten, wäre es nach dem Brexit-Referendum die zweite Wahl, die von der Tories-Regierung aus einer sicheren Position heraus ausgerufen und dann trotzdem verloren wurde.

Damals hatte der ehemalige Premierminister David Cameron zum Referendum aufgerufen, um sich gegen den rechten Flügel seiner Partei durchzusetzen, der gemeinsam mit der rassistischen und isolationistischen UKIP die „Leave“-Kampagne angeführt hatte. Entgegen aller Erwartungen verlor Cameron jedoch das Referendum und musste infolge dessen zurücktreten.

Auch Theresa May hatte aus einer Position der Sicherheit zu den vorgezogenen Neuwahlen ausgerufen: Sie wollte sich die historisch hohen Umfragewerte ihrer Partei zunutze machen, um mit einer starken Parlamentsmehrheit in die Brexit-Verhandlungen mit der EU einzutreten. Denn noch zu Beginn des Wahlkampfs stand May in Umfragen 24 Punkte vor Corbyns Labour-Partei, die in jüngsten Umfragen bis auf einen Punkt an die Tories herankommt.

Kürzungsprogramm von May unter Beschuss

Das erklärt sich zum einen aus den enormen Verlusten der Konservativen in den Umfragen der vergangenen Wochen. Diese gerieten besonders durch ihr unsoziales Programm in Kritik, in dem sie unter anderem die Streichung von kostenlosem Mittagessen in den Grundschulen und die sogenannte „Demenz-Steuer“ fordern. Dabei handelt es sich um eine Steuer für die Betreuung von pflegebedürftigen Rentner*innen, die Häuser im Wert von mindestens 100.000 Pfund besitzen. Viele sahen darin ein Angriff auf Rentner*innen und besonders langjährige Pflegefälle, die dadurch ihr Erspartes oder ihr Haus verlieren würden.

Auch wenn die Premierministerin sofort klar machte, dass niemand dazu gezwungen würde, sein Haus zu verkaufen, kehrten viele ältere Wähler*innen, zu großen Teilen Stimmbasis der Konservativen, May den Rücken zu. Daraufhin setzte sie den Schwerpunkt auf das Thema des Brexit mit der Kernaussage, dass nur sie ein gutes Verhandlungsergebnis erzielen könnte.

Während des Wahlkampfs erhielt sie viel Kritik, da sie öffentliche Versammlungen scheute und nur vor ihrer eigenen Partei sprach. Als sie jedoch in einem von den Tories dominierten Distrikt auf einem Markt Wahlkampf betrieb wurde sie von einer behinderten Wählerin für die Kürzungen im Gesundheitswesen angegriffen: „Ich kann nicht mit 100 Pfund im Monat leben“, griff sie die Premierministerin an. Im November vergangenen Jahres sorgte May für einen Skandal, da sie während eines Interviews Kleidung im Gesamtwert von mehr als 1.800 Pfund trug.

Linkes Wahlprogramm von Corbyn

Im Gegensatz dazu konnte die Labour-Partei mit einem klassisch sozialdemokratischen Wahlkampf mit Fokus auf „soziale Gerechtigkeit“ einen echten „Corbyn-Effekt“ erzeugen. Das Wahlmanifest „For the many, not the few“ („für die vielen, nicht die wenigen“) sieht eine Reichensteuer für die reichsten fünf Prozent der Gesellschaft vor, die Erhöhung der Unternehmenssteuer auf 26 Prozent, die Erhöhung des Mindestlohns auf zehn Pfund, Erhöhung des Gesundheitsbudgets die Verstaatlichung des Zugverkehrs, der Energiekonzerne und der Wasserdienste, 30 kostenlose Kita-Stunden für Kinder zwischen zwei und vier Jahren und die Abschaffung der Studiengebühren.

Mit diesem Wahlprogramm kann Corbyn einen großen Teil der Linken um sich scharren und hat unter anderem die Unterstützung des Regisseurs Ken Loach bekommen. Die Wahlkampagne wird vor allem von jungen Labour-Mitgliedern betrieben, die in Bezirken flyern, wo die Differenz zwischen Konservativen und Sozialdemokrat*innen besonders gering ist. Viele von ihnen sind erst durch Jeremy Corbyn in die Partei eingetreten und stehen der Gruppierung Momentum der Partei-Linken nahe.

Das neokeynesianische Programm Corbyns nimmt den Unmut der Bevölkerung mit den vergangenen sieben Jahren Tories-Regierung und deren Kürzungspolitik und die Forderungen der verschiedenen sozialen Bewegungen auf. Gleichzeitig bleibt es im Rahmen eines sozialverträglichen Kapitalismus und schlägt die „Rückkehr zum Sozialstaat“ vor dem Neoliberalismus der Thatcher-Regierung und Tony Blairs „New Labour“ vor. Auch Corbyn möchte in den Brexit-Verhandlungen ein gutes Ergebnis erzielen, will jedoch „neue Prioritäten“ setzen.

Anschläge, imperialistischer Terror und „Innere Sicherheit“

Der Wahlkampf wurde überschattet von zwei aufeinander folgenden Anschlägen, zuerst am 22. Mai in Manchester, wo am Rande eines Pop-Konzerts 22 Menschen, viele von ihnen Jugendliche, starben, und zuletzt am 3. Juni in London, wo drei Attentäter sieben Menschen umbrachten und Dutzende verletzten.

Die Antwort von Theresa May besteht aus einer Verschärfung der Anti-Terror-Gesetze, die die demokratischen Freiheiten der Bevölkerungen einschränken und die Einsatzbereiche der Repressionsorgane ausweiten. Am Montag kündigte sie verschiedene Maßnahmen an im Kampf gegen die „bösartige Ideologie des islamischen Extremismus“. Dabei handelt es sich um die stärkere Überwachung im Internet, mehr Befugnisse für Polizei und Geheimdienste, längere Haftstrafen sowie einen Kampf gegen den „Extremismus“ im In- und Ausland. Das bedeutet eine Ausweitung der militärischen Interventionen im Nahen Osten und eine Verschärfung der rassistischen und fremdenfeindlichen Repression gegenüber Migrant*innen und Geflüchteten in Großbritannien.

Nach dem ersten Anschlag hatte Corbyn die Verbindung zwischen den Auslandseinsätzen der britischen Armee und dem Terror in Großbritannien aufgezeigt und gesagt, dass „der Krieg gegen den Terror“ nicht funktioniere. Als jahrelanger Aktivist des „Stop the War“-Bündnisses ist er für seine Gegnerschaft zum Irak-Krieg und der Militärintervention in Syrien und für die Forderung nach Abschaffung der (britischen) Atombomben bekannt. Dies hatte ihm von der Regierung viel Kritik eingebracht, von einigen wurde er sogar als „Komplize“ der Terrorist*innen bezeichnet.

Am Montag, nach dem zweiten Anschlag, forderte er den Rücktritt von Theresa May, da sie als Innenministerin unter David Cameron für die Entlassung von 20.000 Polizist*innen verantwortlich war. „Am Donnerstag haben wir eine Wahl und das ist vielleicht die beste Gelegenheit, sich mit diesem Problem zu befassen“, sagte Corbyn und gab sich damit dem reaktionären Sicherheitsdiskurs der bürgerlichen Presse und des politischen Establishments hin.

Chance für eine unabhängige Position

Das politische Panorama hat sich nach rechts entwickelt und als Sozialdemokrat geht Corbyn diese Weg natürlich einen Schritt mit. Doch sein Aufstieg mit einem Programm sozialer Verbesserungen zeigt auch, dass in der aktuellen Phase klassenkämpferische Ideen Einfluss gewinnen könnten. Das ist innerhalb von Labour nicht möglich, da eine neue Corbyn-Regierung aus kapitalistischen Sachzwängen zu einer Fortsetzung von Armut, Staatsrassismus und Krieg gezwungen wäre und ihre Versprechen brechen müsste. So war seit der Krise in Griechenland, im Spanischen Staat, in Frankreich und an vielen anderen Orten. Für linke Kräfte muss es deshalb bei der Wahl darum gehen, mit einer unabhängigen Position für die Mobilisierung der Arbeiter*innenklasse und Jugendlichen einzutreten, nicht den nächsten Sozialdemokraten zu feiern.

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