Grenzen auf! Internationale Solidarität statt Nationalismus und Krise

12.09.2024, Lesezeit 10 Min.
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Leitartikel: Die Bundesregierung ordnet Kontrollen an allen Grenzen an. Die einzige Antwort der Bourgeoisie auf die Krise ist Rassismus. Wir brauchen dagegen eine sozialistische Perspektive.

Nach dem Anschlag von Solingen und dem Rechtsruck bei den Landtagswahlen setzt die Ampel-Regierung auf umfangreiche Abschottung. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) veranlasste an allen deutschen Grenzen umfangreiche Kontrollen. Die Zahl der Zurückweisungen von Geflüchteten soll ebenfalls „massiv“ ausgeweitet werden. Nach Europarecht ist dies eigentlich nicht ohne Weiteres möglich. Es sieht vor, dass Asylsuchende zunächst ins Land gelassen werden müssen, um zu prüfen, welcher EU-Staat für sie zuständig ist. Die rassistische Abschottung, die Migrant:innen unter Generalverdacht stellt, ist damit nicht nur eine Vertiefung des Rechtsrucks im Innern, sondern auch ein Signal an die anderen EU-Länder, dass Deutschland mit schärferen Maßnahmen die Abwehr von Geflüchteten durchsetzen will. Es zeigt eine fortschreitende Tendenz der Bonapartisierung, also ein autoritäres Vorgehen der Regierung, die sich über das geltende Recht hinwegsetzt, um mit autoritären Maßnahmen Teile der Bevölkerung zu disziplinieren. Aber auch nach Außen signalisiert die Ampelkoalition eine Konfliktbereitschaft, die ein Tauziehen gegen Geflüchtete bedeuten könnte: Österreich kündigte bereits an, die Zurückweisungen nicht hinzunehmen.

Nach wochenlanger Kritik von CDU/CSU und AfD versucht die Ampel sich mit den rassistischen Maßnahmen Luft zu verschaffen. CDU-Chef Friedrich Merz zeigte sich davon jedoch wenig beeindruckt. Zuletzt brach er die Gespräche mit der Ampel ab, deren Ziel es war, gemeinsam zu Gesetzesverschärfungen zu kommen. Die Pläne der Regierung seien nicht weitreichend genug. Olaf Scholz warf ihm daraufhin vor, von vornherein auf ein Scheitern der Gespräche abgezielt zu haben. Bei der Generaldebatte am Mittwoch im Bundestag setzte die Union zur Attacke an. Alexander Dobrindt (CSU) eröffnete den Angriff für seine Fraktion mit den Worten: „Ihre Koalition ist keine Koalition des Fortschritts, es ist eine Koalition des Abstiegs in diesem Land“. Damit meint er nicht nur die Migrationspolitik, die aus seiner Sicht immer noch nicht rechts genug ist, sondern auch die Haushalts- und Wirtschaftspoltik.

Es vermischen sich verschiedene Krisen

Die deutsche Wirtschaft stagniert, zuletzt kündigte VW an, Werke schließen zu wollen. Es wäre ein historischer Schritt, der die Krise der deutschen Autoindustrie – und des deutschen Wirtschaftsmodells – umso mehr versinnbildlicht. Damit bekommt die anstehende Metalltarifrunde eine besondere Bedeutung: Es geht nicht nur um Lohnforderungen, sondern darum, dass die Gewerkschaftsführungen einen Kampfplan gegen die Entlassungen und Schließungen aufstellen müssen, die gerade auch den Osten des Landes hart treffen würden, wo mehrere VW-Werke bedroht sind.

Nach dem ernüchternden Ergebnis bei den Landtagswahlen ist die Bundesregierung an allen Fronten in der Defensive – laut einer neuen Umfrage ist sie für ganze null Prozent (!) die Wunschkoalition. Doch nicht nur die Bundesregierung ist in eine Schieflage geraten. Es haben sich auf verschiedenen Ebenen Krisen entwickelt: wirtschaftliche Stagnation, ein Verfall von öffentlicher Infrastruktur, ein Vertrauensverlust in die regierenden Parteien, der sich im Aufstieg von AfD und BSW ausdrückt.

Trotzt immer weitgehender Abschottungsmaßnahmen ist es der Ampel nicht gelungen, in der Migrationspolitik die Deutungshoheit wiederzuerlangen. Tatsächlich gibt es eine Überforderung von Kommunen, die mit klammen Kassen die zusätzlichen Kosten für Kita- und Schulplätze, Wohnungen und soziale Integrationsprojekte für Geflüchtete kaum stemmen können. Doch statt den enormen Reichtümer von Konzernen zu verwenden, gute Gesundheits-, Bildungs-, und Sozialsysteme für alle zu ermöglichen, werden Geflüchtete für die marode Infrastruktur verantwortlich gemacht. Im besten Fall werden sie von Regierung und Unternehmen als auszubeutendes Arbeitskräftepotenzial betrachtet. Schon sorgen sich Unternehmensverbände in Ostdeutschland über den Aufstieg der AfD, aber nicht aus antifaschistischen Motiven, sondern weil sie diese als ein Problem sehen, um migrantische Fachkräfte anzuwerben. Doch dieser heuchlerische „Antirassismus“ der Bosse ist zutiefst gefährlich: Während weiterhin Rassismus und Chauvinismus gegen „unerwünschte“ Geflüchtete geschürt wird, werden zugleich die Profitinteressen des Kapitals als Argument für „gewünschte“ Migration ins Feld geführt. Auf diese Weise kann sich die AfD mit ihrem noch krasseren Rassismus geradezu als Kraft des „kleinen Mannes“ gegen die Bosse inszenieren, als diejenige Kraft, die sich gegen das Establishment stellt. Dagegen hilft nicht, Bündnisse mit bürgerlichen Kräften einzugehen, sondern allein zu zeigen, dass nur ein vereinter Kampf gegen die Profite der Bosse Rechtsruck, Militarisierung und Kürzungspolitik zurückdrängen kann.

Es klafft ein Widerspruch im Deutschland der Zeitenwende: Der Ukraine-Krieg mit Inflation und Energiepreisschock sowie die Aufrüstungspläne nagen an der sozialen und wirtschaftlichen Substanz des Landes. Regierung, Union, AfD und BSW sehen in einem Verteilungskampf gegen unten die Lösung. In einer Umfrage gaben 77 Prozent an, eine restriktivere Asylpolitik zu befürworten. Der Rechtsruck scheint der einzige Ausweg aus der Krise. Das liberale Versprechen einer EU des Friedens, Wirtschaftswachstum, Bewegungsfreiheit entsprach mit der Festung Europa noch nie der Realität. Doch Aufrüstung und der Rückgriff auf das überwunden geglaubte Mittel der Grenzkontrollen zeigt wieder den Weg in ein Europa des Nationalismus. Die Maßnahmen von Faeser bereiten weitere rassistische Schübe und den Aufstieg der Rechten vor. Die Kontrollen von heute sind die Nazi-Pogrome von morgen.

Die Bourgeoisie hat heute keine positive Vision einer besseren Welt mehr anzubieten. Die hohen Wahlergebnisse für die AfD – insbesondere auch bei der Jugend –, zeigen, dass nur noch die zynischsten Ausgeburten des Systems einen Ausweg zu präsentieren scheinen. Es ist aber ein entsetzlicher Ausweg des Rassismus und Militarismus, der noch viel größere Probleme schaffen wird. Die Botschaft der parteiübergreifenden rechten Agenda heißt: Es gibt nichts mehr zu verteilen, nur wer nach unten tritt, kann sich retten.

In welcher Welt wollen wir leben?

Die tiefere Wurzel der Probleme liegt im kapitalistischen System, in dem eine kleine Zahl von Kapitalist:innen sich den Großteil des Reichtums aneignet. Die Volkswagen AG droht Fabriken zu schließen, nachdem sie kürzlich 4,5 Milliarden Euro an Aktionär:innen verteilte. Von Schließungen betroffen könnten besonders Standorte im Osten sein, wo die Tarifverträge dies eher zulassen – eine Spaltung, die wiederum der AfD nutzen wird. Die Krise der deutschen Wirtschaft ist ein Ausdruck davon, dass sie in der globalen Konkurrenz um Ressourcen, Energie und Absatzmärkte in Nachteil geraten ist. Das Ziel, dies mit Militarismus zu kompensieren, kann nur in neue Katastrophen führen. Trotz aller Krisen denken wir, dass eine bessere Welt möglich ist. Eine Welt ohne Krieg und Grenzen, in der sich jeder Mensch frei entfalten kann.

Wir brauchen eine antikapitalistische Politik, die darauf zielt, die Profite und großen Vermögen der Kapitalist:innen anzutasten, anstatt die Krise auf die Arbeiter:innen, die Jugend, die Rentner:innen und die Migrant:innen abzuwälzen. Eine Politik, die angesichts angedrohter Schließungen und Massenentlassungen auf die Enteignung der Konzerne abzielt und die Betriebe unter Kontrolle der Beschäftigten stellt. Eine Politik, die angesichts immer höherer Mieten und Wohnraummangel Spekulation beendet und Wohnungskonzerne entschädigungslos enteignet. Wir brauchen einen Wirtschaftsplan, der statt dem Konkurrenzdruck der Produktion unter kapitalistischen Bedingungen eine rational und demokratisch organisierte Produktion und Verteilung stellt. Die Banken müssen verstaatlicht werden, um Investitionen gezielt für eine Umstrukturierung der Industrie nach sozialen und ökologischen Maßnahmen zu mobilisieren. Wir müssen die Autoindustrie so umbauen, dass sie vor allem Fahrzeuge und Infrastruktur für den öffentlichen Nah- und Fernverkehr produziert. Wir müssen die Energiewirtschaft mit gewaltigen Investitionen in eine ökologische Zukunft überführen. Wir brauchen hunderte Milliarden für Personal und Ausstattung von Kitas, Schulen, Unis, Bibliotheken, Krankenhäuser, soziale Projekte, Wohnungen, kulturelle Förderprogramme, kostenlose Sport- und Freizeiteinrichtungen, öffentliche Kantinen, Umweltschutz, eine Wende der Landwirtschaft, den Umbau der Städte zur Anpassung an den Klimawandel und vieles mehr. Wir wollen Geld für ein schönes Leben, nicht für das Militär.

Dies wird sich nicht umsetzen lassen, wenn Investitionen von privaten Anleger:innen nach dem Kriterium der Profitmaximierung getätigt werden. Die Wirtschaft muss demokratisch geplant werden durch Räte, in denen die Beschäftigten der Produktionsstätten, Nachbarschaften und Verbraucher:innen zusammenkommen und demokratisch darüber entscheiden, was, wie und in welchen Mengen produziert wird. Die Räte müssen auf übergeordneter Ebene Wirtschaftspläne abstimmen, um die effiziente und klimafreundliche Verteilung von Ressourcen und die Logistik bestmöglich zu gestalten. Die technischen Voraussetzungen dafür existieren bereits, jedes Unternehmen plant seine Produktionswege. Doch wird dies heute in gegenseitiger Konkurrenz, verschwenderisch und zerstörerisch, im Interesse der Privatprofite gemacht.

Stattdessen brauchen wir internationale Kooperation. Sie ist die Bedingung, um Pläne für Energie, Ressourcenverteilung und Transport möglichst effektiv umzusetzen. Eine Kooperation, die jede Wirtschaftskrise, jeden Völkerhass und jeden imperialistischen Krieg ad absurdum führt. Wir brauchen offene Grenzen, aber nicht wie in der kapitalistischen EU nur für den Güterverkehr, sondern für alle Menschen. 

Sozialistische Rätedemokratie bedeutet Emanzipation der Menschheit

Gegen die Dystopie der Festung Europa wollen wir ein sozialistisches Europa aufbauen, in dem jeder Mensch unabhängig von Herkunft und Pass die Möglichkeit hat, sich für die Gemeinschaft einzubringen und ein gutes Leben aufzubauen. Der Kapitalismus will nur „nützliche“ Migrant:innen und betrachtet den Rest als wirtschaftlich unnütz. Diese drängt er an den Rand der Gesellschaft und schiebt sie ab. Im Sozialismus hingegen gibt es gleiche Rechte für alle; die wirtschaftliche Verwertbarkeit eines Menschen für Profite spielt keine Rolle. Wir können alle Fähigkeiten und Kräfte gebrauchen, die nötig sein werden für die gewaltigen Anstrengungen für einen ökologischen Umbau der Wirtschaft und Städte und den Aufbau einer neuen Gesellschaft. Organisiert als Rätedemokratie anstatt als bürokratisches Kommando wie in der DDR ermöglicht es der Sozialismus, alle Menschen in gemeinsam festgelegte Ziele einzubeziehen.  

Die gemeinsame Planung und Umsetzung sämtlicher Angelegenheiten in den Räten, von der Gestaltung der Kinderbetreuung, Pflege, Kulturprogrammen oder der lokalen Kantinen bis hin zu Debatten über die zentralen Wirtschaftspläne und politische Programme ermöglichen es, dass alle an der Gesellschaft teilhaben können, statt nur alle paar Jahre ein Kreuz zu machen. Die Räte organisieren die öffentliche Sicherheit, statt diese Aufgabe der Polizei und Justiz zu überlassen, die selbst autoritäre und rassistische Gesetze vor allem gegen die Armen, Jugendlichen und Arbeiter:innen im Interesse der Kapitalist:innen durchsetzen. Die Räte verkürzen die Arbeitszeit und verteilen die Arbeit nach individuellen Fähigkeiten und gemeinsam erstellten Plänen. Dies gibt den Menschen den Raum, über all die großen und kleinen Fragen selbstständig nachzudenken, statt sie an Beamte und Berufspolitiker:innen abzugeben. Der Mensch wird hier erst zu einem kompletteren, denkenden, glücklichen und solidarisch handelnden Wesen, statt sich täglich ins Hamsterrad der entfremdeten Arbeit zu schmeißen oder frustriert, verwirrt und hoffnungslos am Rande der Gesellschaft zu stehen. 

Rassismus und Abschottung sind ein Feind jeglicher internationalen Kooperation und menschlicher Emanzipation. Wir betrachten Geflüchtete nicht als Konkurrent:innen am Arbeitsmarkt oder als Unruhestifter. Sie sind heute der am stärksten entrechtete und unterdrückte Teil der Arbeiter:innenklasse. Sie sind unsere Klassengeschwister, mit denen wir gemeinsam für eine bessere Welt und gegen die Ausbeutung durch die Bosse sowie gegen die Regierungen stellen wollen, die uns mit Militarisierung und Grenzregimen disziplinieren wollen. In diesem Sinne wollen wir mehr denn je den Slogan der antirassistischen Bewegung hochhalten: Grenzen auf! Bleiberecht und volle Staatsbürger:innenrechte für alle!

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