Gregor Gysi kennt keine Parteien mehr – nur noch Europäer

06.03.2025, Lesezeit 15 Min.
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Foto: Andreas Domma, Rosa Luxemburg-Stiftung from Berlin, Germany, CC BY 2.0

Nach dem Eklat zwischen Trump und Selenskyj meldet sich auch Gregor Gysi zu Wort. Europa müsse jetzt einen eigenständigen imperialen Block bilden. Dafür müsste man jetzt über Parteigrenzen hinweg zusammenstehen. Das Echo von 1914 ist ohrenbetäubend.

Nachdem Trump am Freitag Selenskyj und der EU auf seine besondere Art klar gemacht hat, dass die USA schon immer amerikanische Politik für amerikanische Interessen betrieben haben, sieht auch Gregor Gysi eine neue “Zeitenwende”, auf die Europa jetzt angemessen reagieren müsse. Auf X schrieb er am Samstag:  

[…] nun hat Trump das westliche System praktisch aufgekündigt. Die USA fürchten, dass China zur Weltmacht Nummer eins aufsteigt, weshalb sie glauben, autoritärer werden zu müssen, um effizienter zu agieren. Das zwingt uns dazu, ernsthaft für unsere Freiheit, unsere Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu kämpfen – sowohl gegen innere als auch äußere Bedrohungen.

Trump, der Verräter an “unseren Werten”, der Deserteur, habe nun die Koalition der Willigen verlassen. Gysi ist aber weiterhin willig. Er möchte nicht nur den Kolonialkrieg um die Ukraine weiterführen, notfalls auch ohne die USA, sondern darüber hinaus, Europa zu einem eigenständigen imperialistischen Block ausbauen, der seine eigenen geopolitischen Interessen selbstbewusst gegenüber den USA, China und Russland vertreten kann:

Wir müssen endlich begreifen, dass Europa als Ganzes handlungsfähig sein muss. Die Nationalstaaten allein haben gegen die Weltmächte keine Chance.

Um also gegen die “Weltmächte” im als ehernes Naturgesetz betrachteten Konkurrenzkampf der Nationalstaaten aussichtsreich antreten zu können,  müsse Europa (wieder) selbst zur Weltmacht werden. Diese außenpolitische Konsolidierung könnte aber nur vonstatten gehen, wenn gleichzeitig auch innenpolitisch aufgeräumt wird. Das ewige politische Gerangel und der lästige Klassenkampf, müsse endlich aufhören, man brauche jetzt eine nationale Front von CSU bis LINKEN, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, die diese europäische Zeitenwende anführen könnte: 

Wir müssen uns – von der CSU bis zur Linken, aber auch mit Gewerkschaften, Kirchen, Unternehmerverbänden, Künstlern und Wissenschaftlern – darauf verständigen, dass wir unsere Grundfesten von Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gemeinsam verteidigen. Bei Steuern und vielen anderen Themen können wir streiten, aber an diesen drei Fundamenten darf nicht gerüttelt werden.

Weil es sich heute nicht mehr schickt, wie 1914 direkt zu sagen, dass man ein nationales Erwachen des deutschen Volkes zur Vaterlandsverteidigung  gegen den “russischen Despotismus” wünscht, kennt Gysi 2025 vorsichtshalber keine Parteien mehr – nur noch Europäer:innen. Doch wie in jedem Staatenverbund, dominiert auch in der EU derjenige Staat, mit dem größten ökonomischen Gewicht und das ist (noch) Deutschland. Das Gerede von Europas neuer Eigenständigkeit kann den nationalen Inhalt dieser Parole nur sehr notdürftig verschleiern. Die Wahrheit könnte aber profaner nicht sein: Gysi sorgt sich um das Wohl und Interesse seines teuren Vaterlandes. 

Wer bekommt die Kolonie?

Aber sorgt sich Gysi nicht auch um die leidenden Ukrainer:innen und will Kiew deshalb weiter, auch mit Waffen, beistehen? Das könnte weiter von der Wahrheit nicht entfernt sein. Der Ukraine-Krieg war schon seit 2014 nichts weiter als ein inner-imperialistisches Gerangel um den fruchtbaren Vorhof Europas. Nach dem Wegfall der Handelsbeziehungen nach Russland und dem Ende der russischen Unterstützungsgelder war der schwache ukrainische Staat schleunigst auf neue Geldgeber:innen angewiesen. Um dem Staatsbankrott zu entgehen, fand er sein Heil in der EU, im IWF und der Weltbank. Im Gegenzug für horrende Zinsen und ein neoliberales Strukturanpassungsprogramm, erhielt die Ukraine Milliardenkredite. Der Preis dafür war die faktische ökonomische Kolonialisierung durch den Westen. Das Strukturprogramm sah vor, dass alle noch verbliebenen Staatsbetriebe privatisiert werden mussten. Gleichzeitig musste der Staat sämtliche Investitionshindernisse für ausländische Konzerne aufheben, sodass die zum Verkauf stehenden Betriebe größtenteils in die Tasche westlicher Investor:innen wanderten. 

Für Investor:innen besonders interessant war das fruchtbare ukrainische Ackerland. Doch dieses stand, seitdem 2001 die Kutschma-Regierung ein Moratorium auf den Verkauf ukrainischen Agrarlandes verhängt hatte, für ausländische Kund:innen nicht mehr zum Verkauf. Nach 2014 forderten das US-Außenministerium, der IWF und die Weltbank wiederholt die Aufhebung des Moratoriums. Doch erst 2020 rang sich die damals noch junge Selenskyj-Regierung dazu durch und richtete die gesetzliche Fiktion der “Verpachtung” von Land an ausländische Konzerne für 99 Jahre ein. Das übrigens gegen den Willen der großen Mehrheit der eigenen Bevölkerung. 

Die Strukturreformen hatten einen katastrophalen Zusammenbruch der ukrainischen Wirtschaft und gigantische Profite in den Händen westlicher Konzerne zur Folge. Das BIP pro Kopf ging allein zwischen 2014 und 2016 von rund 4000 Dollar auf 2000 Dollar zurück. Lange vor der Invasion Putins, wurde die Ukraine also bereits das mit Abstand ärmste Land Europas und geriet obendrein in eine totale Schuldknechtschaft gegenüber dem Westen. Der EU schuldet die Ukraine heute ca. 50 Mrd. Dollar, dem IWF und der Weltbank 40 Mrd. Die gigantischen Kriegskredite, die die Ukraine seit 2022 im Westen aufgenommen hat, sind hier gar nicht inbegriffen. Sollte nach dem Kriegsende noch ein ukrainischer Rumpfstaat bestehen bleiben, wäre dieser auf ewig zu totaler wirtschaftlicher Abhängigkeit verdammt. Denn trotz ihrer geheuchelten “Solidarität” bestehen die westlichen Gläubiger:innen weiterhin unerbittlich auf die pünktliche Zahlung der Zinsen.

Wenn heute Trump ein Rohstoffabkommen mit Selenskyj um die Lieferung von natürlichen Rohstoffen im Wert von fast 500 Mrd. Dollar an die USA beschließt, dann ist dies kein schrecklicher Verrat an irgendwelchen “westlichen Werten”, sondern nur die jetzt unverblümte Fortsetzung dieser totalen Kolonisation der Ukraine. Die EU fürchtet jetzt, dass die Kriegsbeute über ihren eigenen Kopf zwischen Trump und Putin aufgeteilt wird, während sie aber ihre eigenen Investitionen in der Ukraine schützen möchte. Besonders ihr Zugang zu seltenen Erden für den strategisch wichtigen Sektor der Batterieproduktion, den die EU bereits vor dem Krieg mit Selenskyj ausgehandelt hatte, sieht sie nun bedroht. Um nichts anderes dreht sich das europäische Betteln, doch endlich an den Verhandlungstisch gelassen zu werden, wo die Kriegsbeute unter den Imperialist:innen aufgeteilt wird.

Mitspielen um jeden Preis

Wenn Gregor Gysi nun darauf drängt, eigenständiger gegenüber den USA aufzutreten, dann tut er dies ganz loyal für die Sicherung von EU-Investitionen auf einem diplomatisch, militärisch und ökonomisch hart umkämpften, ukrainischen Markt. Dabei sehnt sich Gysi nach nichts mehr, als die nationale Schmach zu überwinden, dass nun die USA und Russland über die Köpfe Deutschlands und der EU hinweg um das Schicksal der Ukraine verhandeln – er fordert den rechtmäßigen Platz Europas am Tisch der Großmächte ein. Dafür müsste man nun auch gegenüber Trump härter auftreten. In einem Interview mit dem MDR wurde er gefragt, was er Trump sagen würde, wenn er 2 Minuten mit ihm alleine hätte. Gysi antwortete: 

Hören Sie mal, sie haben 10 Forderungen gegen uns formuliert, ich habe 10 Forderungen, die Sie erfüllen sollen formuliert und ich weiß wir sind nicht gleich stark, also ich erreiche das nicht, dass sie 5 Forderungen erfüllen und ich 5 Forderungen erfülle. Ich erfülle gerne 6 und sie 4 aber wenn sie unter 3 gehen, kriegen Sie mich hier nicht raus, da müssen sie die Armee holen, die mich aus dem Zimmer rausschleppt.

Mindestens zu 40 Prozent sollte die EU also bei den Verhandlungen mit berücksichtigt werden – so sieht Gysi die Kräfteverteilung zwischen den USA und der EU. Doch macht er sich Sorgen darüber, dass Trump die EU versuchen könnte zu spalten, indem er sich mit der europäischen Rechten und Ländern, in denen sie an der Macht ist, wie Italien, Polen und Ungarn, zusammen tun könnte, um “Europa zu schwächen”. Der Grund, warum die AfD also so gefährlich ist, ist nicht ihre Politik im Interesse des Großkapitals oder ihr virulenter Rassismus, es ist ihr außenpolitisches Bekenntnis zur neuen “Achse des Bösen”, von Trump, Putin, Melonie, Orban, etc. Der Kampf gegen die Vaterlandsverräter:innen von der AfD ist in Gysis Logik also staatsmännische Pflicht zur Sicherung deutscher Interessen in der Welt.

Bereitet die LINKE den Verrat vor? 

Diese neue offen europäisch-souveränistische Haltung ist in der Linkspartei noch nicht gänzlich zum Durchbruch gelangt. Erneut ist Gregor Gysi ein besonders rechter Abweichler. Doch gleichzeitig teilt die Parteispitze die allermeisten von Gysis Grundannahmen. Im jüngst vom Parteivorstand verabschiedeten Papier zur neuen Weltlage steht geschrieben, die Bundesregierung und die EU müssten jetzt mit “längst überfälliger” Klarheit auf die Aktion Trumps reagieren. Zwar stellt sich die Partei weiterhin gegen Waffenlieferungen, doch gäbe es zwischen “Waffenlieferungen und Nichtstun immer sehr viele zivile Möglichkeiten”, um der Ukraine beizustehen. Die EU müsse obendrein als unabhängige Friedenskraft zwischen den USA und Russland vermitteln, dafür setzt die LINKE auf eine Einbeziehung von China und anderen BRICS-Staaten, um “gemeinsame Verhandlungsformate” aufzulegen. Schwer wiegt jedoch das Signal zur Bereitschaft der Zusammenarbeit an die anderen Parteien im Bundestag. Im Geiste von Gysis nationaler Front schreibt der Parteivorstand: 

Ohne die Linke gibt es im neuen Bundestag keine Zweidrittel-Mehrheit jenseits der Faschisten. Damit werden wir sehr verantwortungsvoll umgehen.

Besonders um die Abschaffung der Schuldenbremse ist die LINKE bemüht und würde für dieses Ziel auch mit anderen “demokratischen” Parteien zusammenarbeiten. Dabei lässt das Papier einen Punkt sehr abstrakt: nämlich den Grund, warum Merz und Co jetzt über die faktische Aufhebung der Schuldenbremse diskutieren. Es geht Merz aber nicht darum, Kredite für wohltätige Zwecke aufzunehmen, sondern einzig und allein für die Stemmung der immensen Kosten der Aufrüstung Deutschlands und der EU. Mit dem Argument, dass gemeinsam mit CDU, Grünen und SPD eine Aufhebung der Schuldenbremse gelingen könnte, könnte sich die LINKE so sehr leicht zum Steigbügelhalter für den deutschen Militarismus machen. Zwar ist die LINKE formal gegen weitere Aufrüstung, doch nicht, weil sie grundsätzlich gegen eine bürgerliche Armee in den Händen des Unterdrückerstaates der Reichen ist, sondern weil die EU schon jetzt mit ihren jährlich 420 Mrd. US-Dollar für Rüstung dem russischen Militär-Etat von nur jährlich 300 Mrd. US-Dollar überlegen ist. Sollten die imperialen Spannungen aber in Zukunft soweit zunehmen, dass die EU bald auch die USA zu ihren nationalen Feinden zählt oder sollte Russland weiter massiv aufrüsten, dann wäre nach der Logik der LINKEN eine weitere Erhöhung des Militäretats zur “Landesverteidigung” notwendig.

Union und SPD haben am Dienstag bekannt gegeben, dass sie die faktische Aufhebung der Schuldenbremse zwecks Wiederbewaffnung bereits in der nächsten Woche durch den alten Bundestag peitschen wollen. Dafür hätten sie mit den Stimmen der Grünen auch eine Mehrheit. So kommt es zunächst noch nicht auf die LINKE an und sie wird aller Wahrscheinlichkeit nach dagegen stimmen. Doch bürgerliche Medien beginnen sich schon mal in Vorbereitung auf die kommende Legislaturperiode auf die LINKE einzuschießen und erhöhen massiv den Druck, “nicht mit der AfD zusammen” gegen das Sondervermögen und zukünftige Aufrüstungspläne zu stimmen. Dies ist ein Vorgeschmack auf die Instrumentalisierung des bürgerlichen Antifaschismus gegen anti-militaristische Kräfte. Ob sich die Silberlocken und ihr Kriegskurs innerhalb der Partei also doch noch durchsetzen werden, bleibt abzuwarten.

Nieder mit den Kriegskrediten!

Es braucht sofort eine große Anti-Kriegs-Bewegung auf der Straße und in den Betrieben, die sich mit den Methoden der Arbeiter:innenbewegung, mit Streiks und Blockaden, gegen die irrwitzige deutsche Wiederbewaffnung wehrt und notfalls auch vor dem Mittel des Generalstreiks nicht zurückschreckt. Arbeiter:innenorganisationen dürfen sich nicht in Gysis “nationale Front” einreihen, sie müssen darauf beharren, dass die Aufrüstung im Interesse des deutschen Imperialismus und seiner geopolitischen und ökonomischen Machtinteressen in der Ukraine geschieht und nicht zur „Landesverteidigung“, geschweige denn zur Verteidigung “unserer” Freiheit und “unserer” Demokratie, betrieben wird. Denn es sind am Ende die Arbeiter:innen, die für die Aufrüstung zahlen müssen, deren Löhne gedrückt, Renten gekürzt und an ihrer Ausbildung und Gesundheitsversorgung gespart wird. Die Gewerkschaften müssen diesen Zusammenhang zwischen Kürzungen und Aufrüstung ins Zentrum ihrer Agitation stellen und sie müssen klar feststellen, dass nur die Arbeiter:innen auf allen Seiten des Grabens sind, die mittels Streiks und Blockaden weiteres Blutvergießen verhindern können. 

Von allein werden die Standort-Verteidiger:innen in den Spitzenetagen des DGB aber nicht dieses Programm aufnehmen. Denn sie identifizieren in sozialpartnerschaftlicher Manier das Wohl der deutschen Arbeiter:innenklasse mit dem Erfolg des deutschen Imperialismus. Sie müssen zum Widerstand gegen das Sondervermögen von ihrer eigenen Basis gezwungen werden. Es braucht jetzt in allen Betrieben Versammlungen der Arbeiter:innen, ob Gewerkschaftsmitglied oder nicht, um dort einen Kampfplan gegen die Kriegskredite aufzustellen, nur so kann die Führung der Gewerkschaften wirksam unter Druck gesetzt werden. Auch an den Universitäten und Schulen muss es jetzt Vollversammlungen geben, um zu diskutieren, wie die Jugend gegen den Ausverkauf ihrer Zukunft kämpfen kann. 

Auch die Führung der LINKEN muss jetzt zu antimilitaristischen Protesten aufrufen. Alle Mitglieder der Partei die , die gegen die Kriegskredite sind, müssen sich jetzt bereit machen, notfalls auch gegen die Weisungen des Parteivorstands, auf die Straße zu gehen, nur so können sie Gysi und Co mitsamt ihren Fantasien vom eigenständigen, imperialistischen Europa einen Strich durch die Rechnung machen. Die Parole muss jetzt lauten: 

Nieder mit den Kriegskrediten, Kein Mensch, kein Cent für Bundeswehr, NATO oder EU-Armee!

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