Gramsci als Praxis
Debattenbeitrag anlässlich der Konferenz "15 Jahre Solid und Linkspartei – Welche Organisation für den Klassenkampf?" | Von Nathalie B.
Im Leben als organiserte*r Linke*r macht man es sich zum Ziel die Widersprüche des Kapitalismus an die Gesellschaft zu bringen, nur um dann gleich mit dem nächsten Widerspruch konfrontiert zu werden, den Marx einem leider nicht erklären will: man kommt nicht an. Dabei könnte es doch so einfach sein, schließlich ist unsere Theorie nicht aus der Luft gegriffen, sondern handgemachte Wissenschaft. Da hat man sich schon das Alphabet der Ökonomie angeeignet, um jeden Einspruch noch so rhetorisch aufzulösen und in Nichts aufgehen zu lassen, um jedes „Aber“ gekonnt zu entkräften, hier und da zu erklären, wieso die Welt (nicht) funktioniert, wie sie funktioniert, nur um am Ende des Tages trotzdem in seiner Kleinstgruppe mit 20 anderen Frustrierten abzuhängen. Sicherlich kann man so weitermachen, Demos anmelden, Flyer drucken gehen, an die Menschen treten und natürlich „das Wort suchen“. Tausendmal das Wort Marx gepredigt, tausend neue Marxist*innen? Eher tausendmal ist Nichts passiert.
Die Frage nach dem Warum steht im Raum. Es muss Gründe geben, warum selbst die Ärmsten der Armen dasselbe System verteidigen, dass sie nonchalant ausbluten lässt. Weswegen sich das Prekariat nicht für ihre eigenen Interessen einsetzt, sondern für die sich selbst betreffende Unterdrückung abstimmt.
Klar, es finden sich viele Fehlinformationen in der Gesellschaft. Vom Schwarzbuch des Kommunismus bis zum zigsten WELT-Artikel lässt sich allerlei Unsinn finden, der für uns leicht zu demaskieren ist. Fair, dass das eine Art von Theorie-Bildung voraussetzt, die nicht jeder hat (sonst müsste es uns eh nicht geben).
Doch neben Fehlinformationen begegnet einem viel mehr eine Gesellschaft, die anscheinend ungezwungen ihre Ausbeutung sucht. Vom „Grindset“ zur „Selbstoptimierung“, hier und da wird man mit einer Kultur konfrontiert, welche Liebe zur entfremdeten Arbeit zu finden scheint. Keine sehr liebliche Liebe, viel mehr geht es um Härte, um Durchhaltevermögen – ums Siegen! Selbst in Arbeitsbereichen mit geringen Aufstiegsmöglichkeiten finden sich begeisterte Anhänger des Neoliberalismus. Es handelt sich dabei um Menschen, die nicht ausformulieren könnten, was genau ihre Überzeugungen sind, welcher Ideologie sie angehören („keiner“, wäre da die Antwort), der sie mit ganzem selbstzerstörenden Körpereinsatz nachgehen. Weniger sind sie Teil einer „Ideologie als ‚System von Vorstellungen‘“ als „Ideologie als gelebte, habituelle, gesellschaftliche Praxis“1. Sie machen das, was sie für als normal und richtig empfinden, ganz intuitiv. Wir können ihnen zwar aufzeigen, dass sie falsch liegen und reaktionär, konservativ und dem Klassenfeind zuspielend handeln, aber aus kollektiver Erfahrung sollte uns eigentlich klar sein, dass man damit tendenziell eher gegen die Wand fährt. Eine andere Sache: Wie viele junge Kommunist*innen haben wohl zuerst linke Szenemusik gehört, bevor sie zum Kapital gegriffen haben? Die derzeitige Kulturproduktion (Filme, Bücher, Musik, Feuilleton usw.) hält das System aufrecht. Widersprüche der neoliberalen Ideologie können als Herausforderung verkauft werden, die es für dich zu meistern gilt.
„Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht“2 – auch Marx/Engels finden in ihren Analysen keine rein ökonomistischen Erklärungen für die Aufrechterhaltung des Kapitals. Blickt man auf die gegenwärtigen Widersprüche erkennt man so, dass die geistige Macht keine wahre sein muss. Somit verfällt der eigene Anspruch mit der Wahrheit allein die Massen zu erreichen. Es braucht „Mittel der Verbreitung“3 der bürgerlichen, sowie auch der neoliberalen Ideologie. Es sind weniger feste Gedanken oder ausgesprochene Regeln, welche die Kultur der Neoliberalität festigen. Die Ideologie wird gelebt, so wie es teilweise auch in linken Organisationen mittels Praxis getan wird. Dabei ist diese Praxis – etwa auf Demonstrationen in seinen Block laufen und dabei Fahnen schwingen – nicht zwangsläufig ihr eigentlicher Zweck – i.d.F. Agitation – sondern festigt auch die Überzeugungen, sprich die Ideologie, der Akteure dieser Praxis. Kommunismus muss nicht nur gedacht, sondern viel mehr noch gelebt werden. Andere Menschen zu erreichen, eine Bewegung aufzubauen, die eine neue Gesellschaft verspricht, funktioniert nur, wenn diese auch kulturell vermittelt wird. In der Vergangenheit finden sich hier zahlreiche Beispiele: Von proletarischen Laientheatergruppen der 1920er Jahre4 über den Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller, der mit seinen Autor*innen auch in Gewerkschaften agitierte.
Derzeit scheint unsere Bewegung fast als Selbstzweck festzustecken: Texte (die eigentlich nahbar sein sollten) klingen nach Schulungsunterlagen, Videos werden stotternd und verhaspelnd deutschunterrichtmäßig vorgetragen. Wer soll das ernst nehmen, wenn die gleichen Leute von Revolution sprechen, aber nicht einmal einen gescheiten Auftritt hinlegen können. Ob man will oder nicht, als Organisation ist man immer auch eine Bühne – zumindest, wenn man mehr als nur sich selbst erreichen will. Die neoliberale Kulturproduktion erreicht ausnahmslosen jeden. Natürlich wären kulturschaffende Organisationen kleiner, doch sie haben mehrere Vorteile, um eine Gegenhegemonie zu bieten: Zum einen können wir geschult in unserem Anliegen sein. Während die neoliberale Ideologie wenig gedacht wird und in ihren Widersprüchen versumpft, können wir als Linke ein konsequentes Programm bieten, durchdachte Propaganda. Zum anderen sind wir immer noch Kommunisten! Unser Herz schlägt für die Sache, kaum jemand von uns profitiert durch seine viele Arbeit finanziell, und doch können wir nicht anders, als unser Leben dem zu widmen, was wir sind. Unsere Leidenschaft macht unser Unterzahl wett.
Genauso wenig wie Revolution spontan sein kann, muss auch revolutionäre Kunst organisiert angegangen werden. Viele von uns (und noch sehr viel mehr, die noch zum „wir“ werden könnten), haben kunstschaffende Interessen. Im Privaten wird getextet, gekleckert, geschneidert und musiziert. All das ließe sich in ein revolutionäres Programm einbinden. Mittels Veranstaltungen lassen sich jene locken, die man zugleich auch organisatorisch einbinden kann. Open-Mic-Veranstaltungen, links motivierte Schreibwettbewerbe, Bandprojekte, oder auch Fotografien, die eine linke Ästhetik fangen, die einen mitnimmt und nicht abstoßt (es ist kein Geheimnis, dass die Mehrheit der Linken stoisch von Stil befreit ist, nichts für ungut).
Eine Gemeinschaft lässt sich formen, indem man andere in eine bereits bestehende einbindet.
RevBruch beschreibt sich selbst noch als in der Findungsphase. Dinge sollen anders gemacht werden als es etablierte Organisationen tun. Eine ins Feld gestellte Überlegung ist „das Wort zu suchen“ – sprich, Schüler*innen, Studierende, Auszubildende direkt vor Ort erreichen zu wollen. Doch Agit braucht auch Prop. Wenn man neue Linke einbinden möchte, ist auch die Frage worein man sie binden will. Die Antwort „In-einen-Lesekreis-in-dem-unser-Ziel-ist-den-jeweils-anderen-rhetorisch-fertig-zu-machen“ ist wenig prickelnd, selbst wenn man sie umformuliert. Revolutionär sein zu wollen, bedeutet auch den Weg zur Revolution ebnen zu müssen. Niemand glaubt ernsthaft, dass wir in Laufe des neuen Jahres mit Gewehren gegen das Kapital marschieren werden. Die Notwendigkeit der Sache kann nicht allein mit Marx-Zitaten vermittelt werden, denn das wäre eine Sache, die bereits versucht und bereits gescheitert ist. Neoliberalität hält sich am Leben, auch ohne das ihre Anhänger Hobbes&Locke-Lesekreise besuchen. Sie lebt durch Filme, Musik, durch als „natürlich“ erklärte Rituale. Sie lebt, indem sie gelebt wird. Zeit, ihr den Nährboden zu entziehen.
Fußnoten
1 Opratko, Benjamin: Hegemonie. Einstiege 21. Grundbegriffe der Sozialphilosophie und Gesellschaftstheorie. 4. Auflage. S.15.
2 Marx/Engels: Deutsche Ideologie.
3 Lenin: Was Tun? Nikol-Verlag. 8. 2010. S.53.
4 Ak: Bretter, die die Revolution bedeuten. https://www.akweb.de/gesellschaft/agutprop-kpd-kunst-bretter-die-die-revolution-bedeuten/
Debatten über einen revolutionären Bruch mit der Linkspartei und Solid
Zur Vorbereitung der Konferenz „15 Jahre Solid und Linkspartei – Welche Organisation für den Klassenkampf?“ am 14./15. Januar 2023 wurden von verschiedenen Organisationen und Einzelpersonen Debattenbeiträge geschrieben. Hier geht es zu allen Beiträgen.