Gramsci als missverstandener Marxist?

11.02.2012, Lesezeit 3 Min.
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„Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken“: Nach 30 Jahren bürgerlicher Restauration ist der Marxismus an den Universitäten verpönt. Umso erstaunlicher ist es, was für ein breites Spektrum an AkademikerInnen sich positiv auf das Werk des revolutionären Marxisten Antonio Gramsci aus Italien bezieht: Ob in den internationalen politischen Beziehungen, der Globalgeschichte oder der Erziehungswissenschaft kommt man ohne Gramsci-Zitate nur schwer aus. Auch in der Linken wird Gramsci zwar selten gelesen aber viel zitiert, in der autonomen Szene genauso wie in der Rosa-Luxemburg-Stiftung der Linkspartei.

Der Sozialreformismus hat sich in den letzten hundert Jahren nicht wesentlich verändert. Die Devise lautet heute wie damals: ab in die Regierung! Doch die reformistische Ideologie, die erstmals Ende des 19. Jahrhunderts vom Sozialdemokraten Eduard Bernstein ausformuliert wurde, gilt zu Recht als gescheitert. Bernsteins These von einem immer friedlicheren Kapitalismus stand bereits wenige Jahre später im Lichte der Weltkriegsbeteiligung der SPD. Die reformistische Perspektive ist von hundert Jahren der Sisyphusarbeit progressiver Reformversprechen und regressiver Regierungsbeteiligung zerfressen. Deswegen werden die Löscher der reformistischen Ideologie immer wieder mit neuen Phrasen gestopft.

„Regierungsbeteiligung“ klingt besonders angesichts der Erfahrung der europäischen Linken in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht besonders „cool“. Mit einem Verweis auf Antonio Gramsci wird dieses opportunistische Projekt stattdessen als „Kampf um gesellschaftliche Hegemonie“ umetikettiert. (Oder genauso mit einem Verweis auf Rosa Luxemburg: „revolutionäre Realpolitik“.)

Doch Gramsci – Gründer einer kommunistischen Partei – war alles andere als ein Neoreformist. Er trat unzweideutig für eine revolutionäre Diktatur des Proletariats ein, um den Kapitalismus zu zerschlagen und den Weg zu einer klassenlosen Gesellschaft anzutreten. Weil er nicht an einer erfolgreichen Revolution beteiligt war und viele seiner wichtigsten Schriften im Gefängnis entstanden sind, ist sein politisches Erbe zweifelsohne widersprüchlich. Dennoch waren seine Ideen zu wichtig, um sie heute auf nichtssagende, reformistisch deutbare Halbsätze zu reduzieren.

Mitte 2011 veranstaltete die Unigruppe von RIO an der Freien Universität Berlin einen offenen Lesekreis über das Werk von Gramsci. Wir studierten Auszüge aus seinen Gefängnisheften sowie die folgenden Artikel von Emilio Albamonte. Außerdem lasen wir den Text „Gramsci and the Revolutionary Tradition“[1] von Keith Harvey (von der Gruppe „Permanent Revolution“ aus Großbritannien), den wir ebenfalls sehr empfehlen können, auch wenn er sich mit der politischen Laufbahn Gramscis und nicht mit seiner Theorie auseinandersetzt.

In der trotzkistischen Linken in Deutschland gibt es die Tendenz, das Erbe Gramscis abzulehnen: „Die GramscianerInnen beschränken sich auf postmoderne Phrasen, also muss Gramsci ein postmoderner Phrasendrescher gewesen sein“. Doch auch wenn wir der Meinung sind, dass Leo Trotzki eine umfassendere Theorie vorlegte als sein etwa gleich alter, italienischer Mitstreiter in der Kommunistischen Internationale, gibt es im Denken Gramscis einige wichtige Ideen und Kategorien, die in einer heutigen revolutionären Theorie aufgehoben werden sollten, anstaat sie den NeoreformistInnen zu überlassen. Die kritische Auseinandersetzung mit Gramsci als auch mit seinen modernen AnhängerInnen ist heute unverzichtbar für den Aufbau einer revolutionären Organisation. In diesem Sinne veröffentlichen wir diese Beiträge und laden zur Diskussion ein.

Fußnoten

[1]. www.permanentrevolution.net/entry/540.

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