Gesundheits­versorgung verstaatlichen – Jetzt!

19.03.2020, Lesezeit 6 Min.
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Image: China Daily/Reuters

Räumlichen Abstand zu einander zu wahren, nicht an Veranstaltungen teilnehmen – beides ist wichtig, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen. Die neuen Schlagworte lauten social distancing (dt.: Soziales Distanzieren) und cancel everything!, - „soziales voneinander distanzieren" und „alles absagen“. Um aber das Problem an der Wurzel zu packen, müssen wir die private Gesundheitsversorgung unter gesellschaftliche Kontrolle stellen – und zwar sofort. Die Parole muss nationalize everything! (dt.: Alles verstaatlichen!) heißen!

Image: China Daily/Reuters

Während ich diese Zeilen schreibe, befinde ich mich seit beinahe einer Woche zu Hause. Immer mehr nationale Gesundheitssysteme sind durch das neue Coronavirus überfordert. Derzeit sind weltweit über 220.000 Menschen erkrankt, wir zählen über 9000 Tote. Der konsequente soziale Rückzug ist essentiell, um die Verbreitung des Virus einzudämmen.

Vor wenigen Tagen veröffentlichte Yascha Mounk in The Atlantic einen viel beachteten Artikel mit der Überschrift „Cancel Everything“. Dort fordert er die Stilllegung des öffentlichen Lebens und argumentiert, dass Social Distancing die bislang einzige effektive Maßnahme gegen das Virus darstellt. Weltweit befolgen Regierungen seinen Rat: Versammlungen wurden untersagt, Bars, Restaurants, Schulen, Universitäten und Museen geschlossen.

Diese Verordnungen können allerdings nur „die Kurve glätten“ – sprich, die Zunahme der Neuinfektionen zeitlich verlangsamen. Sie sind sinnvoll, um den unter begrenzten Kapazitäten leidenden Krankenhäusern Raum für schwerwiegende Fälle zu geben. Die Gesamtzahl der sich letztendlich infizierenden Menschen wird dadurch jedoch nicht sinken.

Unabhängig von der Entwicklung der Pandemie müssen die Kapazitäten der Kliniken massiv erhöht werden. Die Intensivstationen haben zu wenige Betten für den kommenden Bedarf. Aufgrund neoliberaler Reformen der letzten Jahrzehnte sind die Krankenhäuser weltweit personell chronisch unterbesetzt. Gleichzeitig fehlen Atemschutzmasken, Desinfektionsmittel, Schutzkleidung, Beatmungsgeräte und andere zur Behandlung von COVID-19 benötigten Materialien. Es mangelt, kurz gesagt, an allem – nicht zuletzt dank Spekulanten, die die vorhandenen Vorräte aufkaufen.

Radikale Schritte

Die europäischen Regierungen ergreifen teils radikale Maßnahmen, die über Appelle und Ausgangssperren hinaus gehen. Im Spanischen Staat beispielsweise stellte die Regierung unter Pedro Sánchez private Kliniken unter kommunale Verwaltung.

Es existieren weltweit nur wenige Hersteller von Atemschutzmasken oder Beatmungsgeräten. Allerdings ließen sich zahllose Fabriken unverzüglich zu diesem Zweck umfunktionieren. Dazu müssten die industriellen Kapazitäten aber staatlich zentralisiert werden. So könnten zum Beispiel die momentan still liegenden Automobilwerke zur Produktion von Beatmungsgeräten genutzt werden – auf Kosten der Fabrikeigentümer.

Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Während des Zweiten Weltkriegs wurde die gesamte Produktion unter die Kontrolle des War Production Board (WPB) gestellt. Alle Fabriken wurden zur Herstellung von Waffen und Munition herangezogen. Am 22. Februar 1942 wurde beispielsweise die gesamte Automobilproduktion im ganzen Land eingestellt. Die Werke wurden stattdessen genutzt, um die Flugzeugproduktion zu steigern – von 100 Maschinen pro Jahr zu Beginn auf 50.000 gegen Ende des Krieges. Warum sollten wir nicht auf die gleiche Weise gegen ein tödliches Virus mobilisieren?

Zu Hause zu bleiben genügt nicht. Die „Kurve zu glätten“ ist kein Allheilmittel, wie Joshua Gans es in einem wichtigen Artikel formuliert – wir müssen den Kriegsnotstand ausrufen.
Es gibt enorm viel zu tun: Notfallbehandlungszentren aufbauen, Lebensmittel verteilen, Temperaturen messen, Infektionsketten verfolgen, medizinische Einrichtungen desinfizieren – um nur einige Prioritäten zu nennen. Millionen von Menschen könnten für den Kampf gegen die Epidemie mobilisiert und medizinisch ausgebildet werden.

Die Frage ist nicht, ob ein solches Notstandsprogramm möglich wäre – im Gegenteil, sie muss lauten: Können wir wirklich, den Interessen einer Handvoll Fabrikbesitzer*innen zuliebe, auf lebensnotwendige Ausstattung verzichten?

Pharmakonzerne verstaatlichen

Noch größer ist der Druck im Hinblick auf Impfstoffe gegen das Coronavirus. Gegenwärtig beteiligen sich Regierungen verschiedener Länder finanziell an ihrer Erforschung. Doch die Herstellung und der Vertrieb werden den großen Pharmakonzernen überlassen. Wie schon Gerald Posner in der New York Times schrieb, stellen private Arzneimittelhersteller ein „Hindernis bei der Entwicklung von Impfstoffen dar“ – indem sie weiterhin auf ihre hohen Gewinne bestehen.

Genau an diesem Punkt müssen wir ansetzen: Die Entwicklung eines Medikaments zur Verhinderung einer Ansteckung mit HIV (PrEP, vermarktet unter dem Handelsnamen Truvada) wurde aus Steuermitteln finanziert. Nichtsdestotrotz gehört das Patent dem privaten Unternehmen Gilead Sciences. Es verlangt in den USA vierstellige Beträge für ein Mittel, das in der Herstellung nur wenige Cent kostet. Mit anderen Worten: Wir könnten die AIDS-Epidemie beenden, wenn ein privater Konzern uns nicht daran hindern würde.
Wir können nicht zulassen, dass ein Coronavirus-Impfstoff zu einem weiteren unerhörten Beispiel für den Vorrang von Gewinnen vor menschlichen Bedürfnissen wird.

Wir sind bereits Zeugen eines Wettrennens der kapitalistischen Regierungen um ein Monopol auf einen noch zu entdeckenden Impfstoff. Das alptraumhafte Szenario, in welchem ein Impfstoff zwar verfügbar, aber für viele unbezahlbar ist, scheint gar nicht so unwahrscheinlich(1).

Die Lösung ist nicht etwa die von The Times vorgeschlagene „öffentlich-private Partnerschaft“ – sie besteht vielmehr darin, die großen Pharmakonzerne unter die demokratische Kontrolle ihrer Arbeiter*innen, Forscher*innen und Gewerkschafter*innen zu stellen. Nur so können wir eine am Gemeinwohl orientierte Produktion des medizinischen Bedarfs sicherstellen.

Die Zeit ist reif für ein umfassendes Verstaatlichungsprogramm. Es geht aber, anders als im Zweiten Weltkrieg, nicht darum einen Krisenstab aus Unternehmern zusammen zu stellen. Auch sollen die Fabriken nicht nur für eine kurze Zeit kontrolliert und im Anschluss an die Krise wieder ihren Eigentümer*innen übergeben werden.

Stattdessen brauchen wir eine demokratische Kontrolle durch Beschäftigte im Gesundheitswesen, Fabrikarbeiter*innen, Reinigungskräfte und alle anderen, die in dieser Krise eine Rolle spielen müssen. Sie sind schließlich diejenigen, die ihre Arbeit am besten verstehen. Die kapitalistischen Konzerneigentümer*innen haben kein Interesse daran, medizinische Ausrüstung zur freien Verfügung herzustellen. Die Arbeiter*innen jedoch brauchen die demokratisch kontrollierte Produktion, um Leben zu retten.

Dieser Artikel erschien zuerst auf LeftVoice.

Fußnoten:
1Anm. der Übersetzung: Left Voice wird in den USA veröffentlicht, wo es eine viel weniger flächendeckendere und häufig sehr viel teurere Krankenversicherung gibt. Viele Leistungen müssen privat bezahlt werden, was sich ein Großteil der Bevölkerung nicht leisten kann. In Deutschland sind die meisten Impfungen in der normalen Krankenversicherung enthalten.

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