Gesundheits-Arbeiter*innen in Indien erheben sich: Seit 15 Monaten kein Gehalt

13.01.2020, Lesezeit 9 Min.
Gastbeitrag

Hunderttausende Arbeiter*innen, vor allem Frauen, arbeiten in Indien als Gesundheitshelfer*innen. Der Staat verweigert ihnen seit über einem Jahr den Lohn. Dagegen gibt es nun massive Proteste. Von Susheela Mahendran.

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Am Freitag den 3. Januar haben etwa 30.000 Arbeiter*innen der Accredited Social Health Activist (ASHA) aus ganz Karnataka, einem Bundesstaat im Süden Indiens, für einen geregelten monatlichen Mindestlohn von 12.000 Indischen Rupien (152 Euro) protestiert. Sie haben die letzten 15 Monate ihren Lohn von monatlich 3.500 Indischen Rupien nicht erhalten und fordern die Zahlung ihres Lohnes in einer einzigen Nachzahlung.

In der Hauptstadt Bangalore sind sie von der City Railway Station zum Freedom Park gelaufen. Dort fand dann ein „Dharma“, ein friedlicher Sit-in-Protest statt. An einigen Stellen, wie Rao Circle, Mysore Bank Circle und Nrupthaga Road soll dieser Protest zu einem Verkehrschaos geführt haben. Der Streik wurde von der Karnataka State United Asha Worker´s Union organisiert.

“Ein unbefristeter Protest, bis unsere Forderungen erfüllt sind“

Rama, Mitglied des Staatskomitees von All India United Trade Union Congress (AIUTUC) sagte dem New Indian Express: „Es gibt 41.000 ASHA-Arbeiter in Karnataka. Nur 20 Prozent von ihnen bekommen regelmäßig ihren Lohn und der Rest steht einfach mit nichts da. Trotzdem halten sie an ihrem Job fest, in der Hoffnung, dass sie bald bezahlt werden. Aber wie lange können sie noch warten? Wir wollen, dass die Regierung ihren Lohn sofort freigibt.“

Die Treffen zwischen den ASHA und Beamt*innen des Health and Family Welfare Department (HFW) seien vergeblich gewesen. D. Nagalakshmi, Staatssekretär der ASHA Worker´s Association von Karnataka erklärte der New Indian Express: „Wir haben den Gesundheitsminister viermal getroffen. Wir haben nur Versprechungen bekommen. Und das ist der Grund, warum wir auf die Straße gegangen sind. Dies wird ein unbefristeter Protest sein, bis unsere Forderungen erfüllt sind.“

Die Accredited Social Health Activists (ASHA) sind Arbeiter*innen, genauer lokale Frauen, die zur Gesundheitserziehung und -förderung in ihren Gemeinden ausgebildet werden. ASHAs sind in erster Linie Frauen, die in ihrer Gemeinde oder Dorf in naher Zukunft auch bleiben. Die ASHAs wurden vom indischen Ministerium für Gesundheit und Familienwohlfahrt (Ministry of Health and Family Welfare, MoHFW) als Teil der National Rural Health Mission (NRHM) 2005 eingerichtet. Nach den Informationen der Bundesstaaten vom Dezember 2014 gäbe es über 900.000 ASHAs in verschiedenen Gebieten Indiens.

Die Aufgaben der ASHAs sind es, neben demographischen Aufzeichnungen in Dörfern, für die sanitäre Versorgung zu sorgen, Frauen zur Geburt in Krankenhäusern zu motivieren, über Impfungen zu informieren und Kinder in Impfkliniken zu bringen. Die National Health Mission beschreibt sie so: „ASHA ist ein Gesundheitsaktivist in der Gemeinde, der ein Bewusstsein für Gesundheit und ihre sozialen Determinanten schafft und die Gemeinde für die lokale Gesundheitsplanung und die verstärkte Nutzung und Rechenschaftspflicht der bestehenden Gesundheitsdienste mobilisiert.“

Die ASHAs erhalten eine Leistungsprämie, die vom Ergebnis ihrer Arbeit abhängt sowie eine finanzielle Kompensation für Trainingstage. Auf der Webseite der National Heath Mission steht: „Die ASHAs erhalten leistungsabhängige Bezahlung für die Förderung universeller Impfungen, Überweisungs- und Begleitdienste für Reproduktions- und Kindergesundheit (RCH) und andere Gesundheitsprogramme sowie für den Bau von Haushaltstoiletten.“

Wie genau diese Bezahlung aussieht ist auf dieser Webseite jedoch unklar. Auf Wikipedia steht allerdings ohne Quelle: „Wenn eine ASHA beispielsweise eine institutionelle Geburt ermöglicht, erhält sie ₹600 (8,40 US$) und die Mutter ₹1.400 (20 US$). ASHAs erhalten außerdem ₹150 (US$2,10) für jedes Kind, das eine Impfstunde absolviert, und ₹150 (US$2,10) für jede Person, die sich einer Familienplanung unterzieht.“

Dieser Protest ist nicht nur als ein Arbeiter*innenprotest zu sehen, sondern ebenso ein klarer feministischer Protest von Frauen. Sie gehen selbstbewusst und kämpferisch durch die Straße, alle einheitlich in pinken Saris, wohl angelehnt an die Gulabi Gang von Uttar Pradesh. Das Wort Gulabi ist Hindi und bedeutet rosa (oder pink). Die Gang wurde 2006 von Sampat Pal Devi ins Leben gerufen und ist ein Zusammenschluss von Frauen, die pinkfarbene Saris und Schlagstöcke aus Bambus, (wie die indische Polizei) tragen und für Frauenrechte und gegen soziale Ungerechtigkeit kämpfen. 2012 wurde ein Dokumetarfilm „Gulabi Gang“ von Nishtha Jain veröffentlicht, der die Arbeit der indischen Aktivistin Sampat Pal Devi und der Gulabi Gang dokumentiert.

Die Rivalitäten in der indische Oppostion

Des Weiteren spielt die Gewerkschaft All India United Trade Union Congress in diesem Arbeiter*innenprotest eine wichtige Rolle. Die AIUTUC ist der älteste und nach dem Indian National Trade Union Congress der zweitgrößte Gewerkschaftsbund in Indien. Er wurde 1920 von der Indian National Congress (auch als Congress Party bezeichnet) gegründet, der in den 30er Jahren das zentrale Organ der indischen Unabhängigkeitsbewegung gegen die britische Kolonialmacht war. Heute befindet sich die Congress Party in der parlamentarischen Opposition der hindufaschistischen BJP-Regierung und verhält sich opportunistisch in der aktuell politisch sehr gespannten Situation in Indien.

Das indische Parlament ist nach dem Zweikammernsystem in Unterhaus (Lok Sabha) und Oberhaus (Rajya Sabha) geteilt. Nur im Oberhaus befindet sich die offizielle Opposition, die Kongresspartei mit 46 Sitzen von 245. Rana Ayyub schreibt bei Aljazeera, wie genau die Kongresspartei bei den Parlamentswahlen im Mai 2019 versagt hatte und ihre Versuche der BJP mit unterschiedlichen Rhetoriken zu schaden. Ayyub schreibt über den Führer der Kongresspartei Rahul Gandhi: „Der Kongressleiter selbst hat eine bedeutende Veränderung durchgemacht. Nachdem er lange Zeit beschuldigt wurde, in seiner schicken Residenz in der Tughlaq Lane in Neu Delhi im großen Stil zu leben, mit seinen Elitefreunden zu verkehren und genau dann in den Urlaub ins Ausland zu fahren, als das Land einen Oppositionsführer brauchte, um es mit Modi aufzunehmen, unternahm Gandhi in dieser Wahlsaison große Anstrengungen, um als Politiker mit Bodenhaftung gesehen zu werden. […] Aber der vielleicht größte Fehler des Kongresses, der der BJP möglicherweise zu einem Wahlsieg verhalf, war, dass er nicht stark genug darauf drängte, eine einheitliche Front der großen nationalen und regionalen Parteien zu schaffen.“

Die inoffizielle Opposition besteht aus zahlreichen kommunistischen oder linken Parteien, davon die zwei größten Communist Party of India (CPI) und die Communist Party of India (Marxist) CPI(M). Kommunistische Parteien in Indien haben eine lange Geschichte von Rivalität und Spaltungen. Dazu schreibt Kollol bei Youth Ki Awaaz (YKA):“ Heute gibt es viele kommunistische Parteien in Indien und die meisten dieser Parteien haben keine Fußspuren in der Wahlpolitik. Einige der Parteien haben den Weg des bewaffneten Kampfes eingeschlagen. Die meisten dieser Parteien sind aus Abspaltungen von einer anderen Partei entstanden. Hier stellt sich eine Frage – haben die Spaltungen in den kommunistischen Parteien die kommunistische Bewegung in Indien geschwächt?“

Insgesamt fehlt eine kohärente und konsistente Plattform der Opposition in Indien, so Tabish Khair bei The Hindu.

Die All India United Trade Union war zur Gründungszeit Indiens auf der International Labour Organization der League of Nation vertreten und ist dem Weltgewerkschaftsbund, World Federation of Trade Unions (WFTU) angeschlossen. Die WFTU repräsentiert mehr als 97 Millionen Arbeiter*innen aus 130 Ländern in 5 Kontinenten und zeigt in einem kurzen Statement ihre Solidarität mit dem indischen Generalstreik am 8. Januar.

Die AITUC-Führung ist in reformistische und revolutionäre Fraktionen gespalten. Sie ist nicht mit einer politischen Partei verbunden, aber ist selbst die drittgrößte Kommunistische Formation in Indien nach der Communist Party of India (CPI) und der Communist Party of India (Marxist) CPI(M).

Der Gesamtorganisierungsgrad in Indien ist mit 4 Prozent Anteil an Gewerkschaftsmitgliedern an Erwerbsbevölkerung (Stand 2010) ziemlich niedrig. Das liegt daran, dass die indische Arbeitswelt in einem kleiner werdenden gewerkschaftlich organisierten und einem größer werdenden nicht organisierten Teil aufgeteilt ist. Letzterer umfasst überwiegend die Landwirtschaft, zu dem noch die Mehrheit der indischen Erwerbsbevölkerung, ca. 60 Prozent, arbeitet. Die Rosa-Luxemburg Stiftung hat einen Überblick von indischen Gewerkschaften der Linken und ihre thematischen Schwerpunkte zusammengestellt. Die Gründe, wieso die Mehrheit der indischen Arbeiter*innen gewerkschaftlich nicht organisiert sind, muss näher untersucht und gelöst werden.

Die Nichtzahlung der Lohnarbeit ist mehr als die übliche klassische Ausbeutung durch den nicht bezahlten Mehrwert, es ist eine totale absolute Ausbeutung, mit der die Arbeiter*innen in die absolute Armut gedrängt werden ohne Möglichkeit zur sozialen Mobilität. Es ist absolut notwendig, dass sich Arbeiter*innen in unabhängigen revolutionären Gewerkschaften verbünden und organisieren, das heißt antibürokratisch und selbstorganisiert. Unabhängige Gewerkschaften als zentrales Kampfmittel gegen das Kapital sind in der aktuellen politischen Situation in Indien, inmitten der Massenproteste gegen das Citizenship Amendment Act (CAA) und der National Register of Citizens (NRC) und für die Rechte aller verfolgter undokumentierter Immigrant*innen, die die prekäre Arbeiter*innenklasse Indiens bilden, außerordentlich wichtig.

Die unbefristeten Proteste der 30.000 Arbeiter*innen der ASHA von ganz Karnataka reiht sich in diese Proteste ein. Die einzelnen Aufstände sind der Beginn einer Serie von Protesten, die sich solidarisch gegenseitig unterstützen. Arbeiter*innen in Indien fühlen sich gegenseitig motiviert und ermutigt, zu protestieren und sich zu mobilisieren. Die politische Situation in Indien ist höchst angespannt. Die Massenproteste müssen unabhängig von der politischen Elite und der opportunistischen Opposition organisiert werden. Die Zeit ist gekommen, in der die Arbeiter*innenklasse und die Jugend Indiens nun eine besondere Gelegenheit hat, ihre Stimmen zu vereinen und der indischen Bourgeoisie mächtig gegenüber stehen zu können.

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